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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Hartz IV, das ist Sozialtechnokratie'

Ausgabe 04/2008

Der Kölner DGB-Vorsitzende Wolfgang Uellenberg van Dawen über das Unglück der Hartz-Reformen, das fatale Wirken von McKinsey-Beratern in der Bundesagentur und wie man eine missglückte Reform zum Besseren wenden könnte.

Das Gespräch führte Cornelia Girndt unter Mitarbeit von Matthias Helmer.

Am Hans-Böckler-Platz kann man noch Gewerkschaftsmilieu erleben. Ganz oben im 6. Stock des Kölner Gewerkschaftshauses beschreibt die Hand des DGB-Vorsitzenden einen Halbkreis - sechs Türen, sein Reich. Im gleichen Haus findet man die IG Metall und das Kölner Arbeitslosenzentrum. Ohne irgendeinen Spickzettel hat Wolfgang Uellenberg eine unfassbare Fülle von Arbeitsmarkt-Daten parat. Vor ein paar Monaten hat er ein internes Memo über "die Umsetzung der Hartz-Reformen im Bereich der Arbeitsagentur Köln" an den DGB-Bundesvorstand geschickt.

Wolfgang Uellenberg, reden wir über die Hartz-Reformen. Die BILD-Zeitung beklagt wieder mal: "Zu viele Arbeitslose drücken sich vor der Arbeit."
Das wirkt nicht mehr. Der Weg nach Hartz IV ist kurz. Allein hier in Köln müssen 64?000 Menschen mit zwei, drei Minijobs durchkommen. Wir haben 8000 Aufstocker, die verdienen drei Euro die Stunde und holen sich den Rest vom Arbeitsamt. Und jedes vierte Kind in Köln lebt von Hartz IV. Das ist kein Synonym mehr für eine Randgruppe, das ist ein großes, dunkles Loch, in das immer mehr Leute hineingucken.

… und dann links wählen gehen.
Die Linksentwicklung hat erheblich damit zu tun, dass die Leute nicht mehr glauben, die Arbeitslosen seien selbst schuld. Sie glauben auch nicht mehr an das Aktivierungskonzept von Wolfgang Clement und Florian Gerster, die ihnen früher erzählt haben: Der Arbeitslose muss seine Arbeitslosigkeit selbst bekämpfen, dann findet er oder sie schon einen Job.

Haben die Hartz-Reformen die Arbeitslosigkeit gesenkt?
Der Meinung sind wir nicht, und wir messen sie auch nicht daran. Man muss sich nur das wirkliche Leben anschauen! In unserem Arbeitsamtsbezirk Köln haben im letzten Jahr 8500 Arbeitslosengeld-I-Bezieher neue Arbeit gefunden. Davon haben 7800 ihre neue Stelle selbst gesucht und gefunden - ganze 700 wurden von der Agentur für Arbeit in Köln inklusive ARGE vermittelt, eine Quote von 7,9 Prozent.

Und das sind Vermittlungszahlen, die stimmen?
Das wurde uns so im Verwaltungsausschuss vorgestellt. Diese Zahlen zeigen: Die meisten Leute, für die Arbeit da ist, finden diese Arbeit auch - und es gibt Dynamik auf dem Arbeitsmarkt.

Warum leben dann rund 120?000 Menschen in Köln von Hartz IV?
Weil diese Dynamik vielfach an Leuten vorbeigeht, die länger als zwei, drei Jahre arbeitslos sind, die brauchen im Kern keine Arbeitsmarkt-, sondern Sozialpolitik. Seit Gründung der ARGE haben wir in Köln keinen nennenswerten Rückgang von SGB-II-Empfängern - die frühere Sozialhilfe. Schätzungsweise 30?000 Menschen sind nicht direkt oder nur in den zweiten Arbeitsmarkt vermittelbar. Da sage ich: Das wird die Agentur für Arbeit nicht hinkriegen.

Was läuft schief bei den Arbeitsmarktreformen?
Derzeit läuft die Debatte um Fehlentwicklungen und Neuordnung als Kampf zweier Verwaltungen - was sich auch bei ver.di niederschlägt, da stehen die Interessen der Beschäftigten des Arbeitsamts auf der einen Seite und die der städtischen Angestellten auf der anderen - und die große Frage ist: Wer entscheidet? Wer gibt was vor?

Also ein großes Verwaltungshickhack statt der Frage: Was brauchen die Leute?
Ein Teil gehört schlicht nicht in das Leistungssystem des SGB II, wie hier in Köln die Beschäftigten von den Medienproduktionsfirmen, das sind hoch qualifizierte Leute, die jetzt Hartz-IV-Bezieher geworden sind. Vorher hatten sie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn sie innerhalb von drei Jahren mindestens 360 Tage beschäftigt waren, heute müssen sie diese Tage in zwei Jahren zusammenbekommen.

Und das schaffen viele nicht?
Neulich hatten wir hier eine DGB-Konferenz mit Cuttern, Kameraleuten, Regieassistenten von SAT 1 und RTL, aber auch von Schauspiel und Oper, die nur noch befristet oder über Werkvertrag eingestellt werden. Denen steht der Schweiß auf der Stirn, weil sie nicht mehr auf die 360 Tage kommen, dann müssen sie zur ARGE, sind bei Hartz IV und müssen ihre Sparbücher aufbrauchen. Das ist ein Riesenproblem.

Hier sollte man wohl eher an so etwas wie Schlechtwettergeld denken, um die Zeiten zu überbrücken bis zum nächsten Dreh.
Diese hoch qualifizierten Medienleute sind bei den ARGEN in einer Behörde zusammen mit jungen Migranten und dem jungen Mann aus dem Problemviertel, der in der dritten Generation Sozialhilfe, sprich Hartz IV bekommt - womöglich sind sie noch alphabetisch einem Sachbearbeiter zugeteilt - daran sieht man doch, was das für ein Wahnsinn ist.

Müssen die Hartz-Reformen generell rückgängig gemacht werden?
Es war richtig, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen. Richtig ist auch, dass das Gesamtsystem von der Hilfsbedürftigkeit ausgeht und davon, dass den Leuten geholfen werden soll, ihre Hilfsbedürftigkeit durch Erwerbsarbeit zu überwinden. Umstritten ist aber, ob durch unzumutbare Niedrigstlöhne oder durch gute Beratung, Hilfe und Qualifizierung.

Du kritisierst "die repressive Ausprägung der Aktivierung Arbeitsloser". Wo kommt die denn zum Vorschein?
Was wir bekommen haben, ist eine Sozialtechnokratie. Als die ARGEN konstruiert wurden, waren die obersten Berater der Bundesagentur McKinsey-Leute, die reinzulassen war eine Todsünde, denen ist es völlig egal, ob sie Abläufe im Automobilwerk reorganisieren oder Arbeitslose.

Wie äußert sich denn diese Sozialtechnokratie?
Heute bekommt eine "Arbeitslosenhilfe Köln Mitte" - um einen Fantasienamen zu nennen - keine institutionelle Förderung mehr wie früher bei ABM. Damit ein Träger existieren kann, braucht er dann aber hundert langzeitarbeitslose Ein-Euro-Jobber/-innen, die ihm pro Nase eine Kostenpauschale von bis zu 300 Euro bringen.

Die werden den Trägern zugeteilt?
Schön wär's. Die Einrichtungen müssen, damit sie Langzeitarbeitslose erhalten, sich einem Ausschreibungsverfahren unterwerfen. Wie U-Bahn-Kilometer werden Pakete von 1000 oder 3000 Arbeitslosen ausgeschrieben, und weil das große Pakete sind, muss sich die "Arbeitslosenhilfe X" mit anderen zu einer Bietergemeinschaft zusammentun. Was hier passiert, nenne ich, Langzeitarbeitslose kloppen wie Stückzahlen kloppen. Das ist die Durchsetzung von Marktprinzipien im Sozialstaat nach dem Modell McKinsey.

Wird das auch öffentlich ausgeschrieben?
Diese Bieterwettbewerbe sind geheim, das findet alles ohne Öffentlichkeit statt, nach der "Vergabeordnung Dienstleistung" muss jeder Bieter 30 Unterschriften leisten, bei einer Bietergemeinschaft von zehn sind dann 300 Unterschriften nötig. Wahnsinn!
Bei der Bewertung werden Punkte vergeben für Konzept und Erfahrung. Am Ende zählt aber der Preis, und dann kann es vorkommen, dass ein privater Träger, der zum Beispiel aus einer Fahrschule hervorgegangen ist, das Rennen macht.

Was wäre denn die Alternative zur Ausschreibung?
Die Projekte und Träger sollte man sich genau anschauen, sprich evaluieren. Die Stadt Köln macht jetzt einen Evaluationsbericht.

Und was sagen dazu die Arbeitsvermittler?
Die sitzen genauso in der Falle zwischen Lebenswirklichkeit und einem Sack voller Vorschriften. Die kommen in Konflikte, was man auch an der Fluktuation ablesen kann, die Kommune sucht händeringend nach Personal.

Und dann legt noch jeder dritte Hartz-IV-Bezieher Widerspruch ein.
Wir haben allein in Köln 5000 Widerspruchsverfahren, es dauert zwölf Monate, bis die bearbeitet sind, für einen, dessen Leistung von 345 Euro um 50 Euro gekürzt wurde, lang genug, um fast zu verhungern. Aber die Sachbearbeiter/-innen bei den ARGEN tun ihr Bestes, sie sind schlicht überfordert durch ein Regelwerk, das überkomplex ist und am grünen Tisch laufend verändert wird.

Ist dieses Reformwerk handwerklich wirklich so schlecht gemacht worden?
Unter dem Druck, Handlungsfähigkeit zu beweisen, haben Rot-Grün und Schwarz-Gelb die beiden Systeme mit dem Vorschlaghammer zusammengenietet. Das große Problem bei der Umsetzung der Hartz-Reform war zudem, dass BA-Chef Gerster dem Arbeitsminister Clement offensichtlich mit Erfolg suggeriert hat, an der Basis säßen die Blockierer, und deswegen könne so eine Reform nur zentralistisch durchgezogen werden. Das Unglück der Hartz-Reformen ist begründet in politischem Handlungsdruck, Zentralismus durch mehr McKinsey und weniger Mitbestimmung in der Selbstverwaltung plus einer Sozialstaats-Philosophie, die nicht positiv auf die Menschen zugeht, bei der am Ende nur noch das Fordern rüberkommt.

War das Kölner Modell der Arbeitsmarktintegration besser?
Hartz IV hat unseren Ansatz kaputtgemacht. Der Erfolg des Kölner Modells beruhte auf ein paar richtigen Prinzipien: Job-Integration hat Priorität vor passiver Geldleistung; die Stadt hat den Hut auf, während das Arbeitsamt ergänzt; und die sozialpolitische Arbeit wird von Trägern gemacht, die arbeitsmarktnah sind und sich auch im Bereich von Mischökonomien auskennen.

Und was ist Hartz IV?
Ein von oben gesteuertes bürokratisches Monster mit riesigen Verwirrungen und Konflikten zwischen den beiden Trägern Stadt und Arbeitsagentur, mit einer völligen Trennung von unterschiedlichen Leistungsströmen und mit dem Zwang zu Ausschreibungen und Bieterwettbewerben, wo am Ende dann Kurse für den Hauptschulabschluss nicht an bewährte Kölner Einrichtungen, sondern an das Rote Kreuz Paderborn vergeben werden.

Aber in Köln wird es doch noch genug Spielraum geben?
Auch der Kölsche Klüngel kann nicht alle Fehler eines strikt zentralisierten Systems aufheben. Früher war das Job-Center in die Stadtverwaltung integriert, die wussten, wie viel Wohnraum einer hat, ob er/sie einen Pkw fährt. Nachdem die ARGE hier installiert worden ist, wurden erstmal alle Verbindungen zur Stadt gekappt. Wir hatten den Eindruck, dass ein zentraler Krake runterkommt und alles an sich zieht. Deswegen wollen auch viele Kommunen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nutzen, die übergroße Macht der Bundesagentur für Arbeit zu brechen.

Da hat der DGB-Bundesvorstand aber eine andere Position, die wollen traditionell die Bundesagentur stärken.
Die Diskussion über das Ausmaß an Dezentralisierung ist noch nicht zu Ende. Wir haben hier in Köln einen anderen Arbeitsmarkt als im Ruhrgebiet, wir haben viele junge Leute, von denen ein Drittel aus Migrantenfamilien kommt, und wir haben eine ganz andere soziale Trägerszene als in ländlichen Gebieten.

Eine reine Kommunalisierung der Sozialpolitik birgt doch auch Gefahren.
Drei Dinge müssen sogar zwingend vom Bund kommen: Überall müssen die Leute die gleiche Leistung bekommen, ich bin nicht für Sozialhilfe auf örtlichem Niveau. Alle Arbeitslosen müssen ein Recht auf Vermittlung in den nationalen ersten Arbeitsmarkt haben, und auch Berufsberatung muss bei den Agenturen für Arbeit bleiben.

Laut Bundesverfassungsgericht ist die Mischverwaltung nicht verfassungsgemäß, jetzt wird die Arbeitsteilung neu definiert. Was sollte bei den Kommunen bleiben?
Vermittlung in den zweiten Arbeitsmarkt, Integration, ergänzende Hilfen - das sollte Sache der Kommunen sein. Und für die ARGEN muss es eine einzige Rechtsform geben, eine einheitliche Geschäftsführung und eine Personalvertretung.

In der Selbstverwaltung der ARGEN und Arbeitsagenturen sitzen Vertreter der Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, des Handwerks. Was können die regionalen Akteure überhaupt bewegen?
Ich bin auch deshalb für Dezentralisierung, damit die Selbstverwaltung wieder gestärkt wird. Wir haben faktisch nichts zu sagen. In den Sitzungen des Verwaltungsausschusses machen wir Public Viewing, wir schauen uns diese Folien an, die zentral von Nürnberg produziert werden. Wir wollen aber wieder stärker mitentscheiden im operativen Geschäft, bei Leiharbeit oder bei der Planung von Eingliederungsmaßnahmen, da hatte uns Norbert Blüm beteiligt, Wolfgang Clement hat uns das wieder weggenommen.
 
Wie kommen die Ein-Euro-Jobs beim DGB an? Besteht nicht die Gefahr, dass die Kommunen sich hier selbst bedienen in Zeiten klammer Kassen?
Dafür haben wir eine AG Zusätzlichkeit eingerichtet. Wir - Arbeitgeberverbände und DGB - überprüfen gemeinsam, ob der Hilfshausmeister in der Schule oder die Köchin in der Sozialeinrichtung zusätzlich sind, oder ob sie reguläre Jobs verdrängen. Das klappt soweit. Bei der Zahl der Ein-Euro-Jobs haben wir als DGB kräftig auf die Bremse getreten. Wir gehen jetzt über zu einem Projekt "Neue Arbeit", das spielt sich im ersten Arbeitsmarkt ab mit normalen Tariflohn-Jobs, bei denen der Arbeitgeber von der ARGE einen Zuschuss bekommt, der zu Anfang hoch ist und dann auf 25 Prozent absinkt. Hintergrund ist der Kombilohn NRW, mit dem wir weitgehend zufrieden sind.
 
Die Hartz-IV-Reformen haben das Aufstocker-System hervorgebracht, was hält der Kölner DGB davon?
Hier im Haus ist das Arbeitslosenzentrum, die Leute erzählen mir, dass sie drei Euro die Stunde bekommen und der Arbeitgeber ihnen sagt: "Hol dir den Rest vom Arbeitsamt." Sie arbeiten Vollzeit und sind trotzdem per Definition des SGB II hilfsbedürftig. Das nennt sich dann Kombilohn und führt dazu, dass für 1,3 Millionen Menschen der Staat draufzahlt. Und das ist ein richtiges Anreizsystem für Niedriglöhne. Hier würde ein primär tarifvertraglicher und, wenn es nicht anders geht, gesetzlicher Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro dem Staat helfen, Milliarden zu sparen. Der große Clou ist: Mit einem solchen Mindestlohn ist Arbeit nicht mehr zu jedem Preis zumutbar, damit wird ein wesentlicher Teil dieser unzumutbaren Vorschrift von Hartz IV weggeschossen. Ich denke, mit mehr Dezentralisierung, mit einer vernünftigen Arbeitsteilung zwischen Kommune und Arbeitsagentur und mit Mindestlöhnen - mit diesem Dreierpaket könnte man diese missglückte Reform noch zum Besseren wenden.


ZUR PERSON

Wolfgang Uellenberg van Dawen, 56, ist seit 2001 DGB-Regionsvorsitzender in Köln. Der promovierte Historiker war zuvor Vorstandssekretär beim DGB-Bundesvorstand in Berlin; seit den 90er Jahren gehört er zum Kreis der gewerkschaftlichen Programmatiker. Uellenberg ist Verwaltungsausschuss-Mitglied bei der Agentur für Arbeit Köln und im Beirat der ARGE.

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