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Plenum: Das Europaparlament in Brüssel. Magazin Mitbestimmung

Von ERIC BONSE: Gesellschaftsrecht: Schützt die EU auch die Arbeitnehmer?

Ausgabe 05/2018

Debatte Brüssel will die grenzüberschreitende Verlagerung von Unternehmen im EU-Binnenmarkt erleichtern. Die Gewerkschaften warnen vor „Regime-Shopping“, doch sie sehen auch Fortschritte. Denn Brüssel verspricht, an die Arbeitnehmer zu denken.

Von ERIC BONSE

Eine „Union, die schützt, stärkt und verteidigt“: Ein Jahr vor der Europawahl im Mai 2019 präsentiert sich die Brüsseler EU-Kommission von ihrer sozialen Seite. Doch aus Sicht der Arbeitnehmer fällt die Bilanz bisher mager aus. Die „soziale Säule“, die die EU als Ergänzung zum Binnenmarkt angekündigt hat, ist ein guter Anfang, dem jetzt konkrete Maßnahmen folgen müssen.

„Vier Jahre marktradikal und jetzt plötzlich sozial?“ Das klinge nicht sehr überzeugend, sagte Norbert Kluge von der Hans-Böckler-Stiftung beim Europäischen Gespräch 2018 Ende April in Brüssel. Die Frage müsse erlaubt sein, ob die neue, arbeitnehmerfreundliche Linie ernst gemeint ist – oder ein „Ausdruck der Verzweiflung“.

Die EU tat meist mehr für Unternehmer als für Arbeitnehmer

Statt die Rechte für Arbeitnehmer abzusichern und die Mitbestimmung als Element guter Unternehmensführung auszuweiten, liegt der Fokus in Brüssel seit langem auf den Anliegen von Arbeitgebern und Unternehmen. Dies zeigt auch der neue Vorschlag zum Gesellschaftsrecht, den die Kommission am 25. April, kurz vor dem Europäischen Gespräch, vorgelegt hat. Im Mittelpunkt steht das Ziel, die grenzüberschreitende Verlagerung von Unternehmen zu erleichtern.

EU-Kommisarin Vera Jourova will, dass Firmen leicher umziehen können.

Allzu häufig würden europäische Firmen daran gehindert, ihre Chancen außerhalb der Heimat zu suchen, meint EU-Justizkommissarin Vera Jourovà. Sie will daher die Regeln für den Umzug lockern. Das Wirrwarr nationaler Vorschriften soll durch einheitliche und EU-weite Verfahren ersetzt werden, kündigte Jourovà an. Die EU Kommission versäumt dabei, europaweit einheitliche Mindeststandards für die Mitbestimmung zu setzen, damit Verlagerungen nicht auf Kosten der Arbeitnehmerechte gehen. Zudem will sie „übermäßige Verwaltungslasten“ , will sagen: Bürokratie, abbauen und die Möglichkeit schaffen, Unternehmen  online zu gründen und anzumelden.

Damit wird auch die Verlagerung an Standorte erleichtert, an denen niedrigere soziale Standards und günstigere Steuersätze gelten. Profitieren also wieder einmal nur Steueroasen und Länder ohne Arbeitnehmermitbestimmung? Schafft die Kommission neue Anreize für Firmen, aus Deutschland und aus der Mitbestimmung abzuwandern und Briefkastenfirmen in den Niederlanden oder auf Malta zu gründen? Die Gewerkschaften sind in Sorge.

Dieses Mal gibt es Hoffnung, dass es besser ausgehen könnte

„Beim Unternehmensrecht ging es bisher fast nur um Deregulierung und Regime-Shopping“, stellt Peter Scherrer vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) nüchtern fest. Dieser Trend müsse mit dem „Company Mobility Package“, so der Titel der neuen Vorlage, endlich gebrochen werden. Tatsächlich enthält der aktuelle Kommissionsentwurf einige Hoffnungsschimmer.

„Die erste Einschätzung fällt positiv aus“, sagt Robbert van het Kaar vom Amsterdam Institute for Advanced Studies. Der Entwurf schließe Lücken im europäischen Gesellschaftsrecht, so der niederländische Experte. So plant die EU-Kommission neue, wirksame Schutzvorschriften gegen „Fake-Firmen“ – also Kunstkonstrukte zur Umgehung von Steuervorschriften und  Arbeitnehmerrechten. Für Entwarnung sei es aber zu früh – denn es gebe immer noch Schlupflöcher für Firmen, die sich ihren steuerlichen oder sozialen Verpflichtungen entziehen wollen.

Die EU-Kommission will nun versuchen, diese Lücken zu schließen. Hauptziel des Entwurfes sei es zwar, grenzüberschreitende Umzüge, Zusammenschlüsse oder Aufspaltungen von Unternehmen zu erleichtern, heißt es in Brüssel. Gleichzeitig sollen jedoch Arbeitnehmerrechte geschützt werden und Hürden aufgebaut werden gegen bloßen Briefkastenwechsel des Firmensitzes.

So soll jede Gesellschaft, die sich in einem anderen EU-Land neu organisiert, verpflichtet werden, einen Bericht über die wirtschaftlichen Motive und Folgen der Umwandlung zu erstellen. Darin soll das Unternehmen auf die Auswirkungen der Reorganisation allgemein und auf die Arbeitnehmer im Besonderen eingehen. Die Arbeitnehmer erhalten zudem das Recht, zu diesem Bericht Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme muss in der Gesellschafterversammlung berücksichtigt werden. Lokale Behörden können den Bericht heranziehen, wenn sie Zweifel an den Folgen eines Firmenwegzugs haben.

Auch an die Mitbestimmung hat die Brüsseler Behörde gedacht

Zwar soll grundsätzlich das Recht jenes EU-Staates gelten, in das ein Unternehmen umzieht. Sieht das nationale Recht jedoch nicht den gleichen Umfang an Mitbestimmungsrechten wie im Herkunftsland vor, so muss die Gesellschaft Verhandlungen mit den Arbeitnehmern aufnehmen, um die Modalitäten der Mitbestimmung festzulegen. Im Falle der Nicht-Einigung sollen die angestammten Mitbestimungsrechte für einen gewissen Zeitraum geschützt sein.

„Im EU-Binnenmarkt haben Unternehmen das Recht, sich frei zu bewegen und zu wachsen. Hierbei muss es aber gerecht zugehen“, betont der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, ein Sozialdemokrat. Mit dem Vorschlag würden rechtlich klare Verfahren für die Unternehmen eingeführt – und gleichzeitig durchsetzbare Vorschriften zum Schutz von Arbeitnehmerrechten geschaffen.

„Wir haben sehr intensiv diskutiert und versucht, eine bessere Balance zu finden“, betont auch Renate Nikolay, die in der Generaldirektion Recht der EU-Kommission an der Ausarbeitung des Entwurfs beteiligt war. Es gehe darum, Firmengründungen zu erleichtern und die Mobilität der Unternehmen zu erhöhen, gleichzeitig aber auch „Sicherungen“ für die Arbeitnehmer einzubauen. „Wir haben Sie gehört“, sagte sie auf dem Europäischen Gespräch an die Adresse der Gewerkschaften.

Die Gewerkschaften sind unzufrieden und wollen Nachbesserungen

„Danke für die enge Konsultation“, entgegnete Scherrer vom EGB. Der Entwurf gehe in die richtige Richtung und biete sogar die Chance, die Arbeitnehmerbeteiligung in Unternehmen auszuweiten. Allerdings hätte dies nicht in das Mobilitätspaket gehört, sondern in die neue soziale Säule der EU. „Deshalb sind wir unzufrieden“, so Scherrer. Er kündigte an, dass die Gewerkschaften im jetzt folgenden Gestzesverfahren über das EU-Parlament Nachbesserungen einbringen wollen.

So müsse der endgültige Gesetzestext eine Regel zum tatsächlichen Unternehmenssitz enthalten, die sich am erwirtschafteten Mehrwert orientieren soll. „Wo der Mehrwert entsteht, soll auch der Firmensitz sein.“ Außerdem müssten die Bestimmungen zu Informations-, Konsultations- und Mitbestimmungsrechten verbessert werden, damit Arbeitnehmer die Entscheidungen des Managements rechtzeitig absehen und beeinflussen können.

Ob sich die Gewerkschaften mit diesen Forderungen durchsetzen, bleibt abzuwarten. An den Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt könne man nicht rütteln, und dazu gehöre eben auch die Niederlassungsfreiheit, betonte Nikolay. Immerhin sagte die Kommissionsvertreterin zu, dass es künftig bei jeder Verlagerung des Unternehmenssitzes eine unabhängige Prüfung geben soll.

Das EU-Recht setzt der Kommission Grenzen

Doch wird dies ausreichen, um die Arbeitnehmer zu schützen? Zweifel sind erlaubt. Denn auch der Kommission sind die Hände gebunden – durch das EU-Recht.

Im so genannten Polbud-Urteil stellten die höchsten EU-Richter in Luxemburg Ende 2017 fest, dass die Niederlassungsfreiheit der Unternehmen im Zweifel schwerer wiegt als soziale Rechte. Bei dem Fall ging es um eine Firma in Polen, die ihren Sitz nach Luxemburg verlegt hat. Danach beantragte sie die Löschung im polnischen Handelsregister. Dieser Löschungsantrag wurde vom Registergericht abgelehnt. Gegen diesen Beschluss erhob Polbud schließlich Klage.

Die EU-Richter entschieden, dass die Umwandlung in eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts von der Niederlassungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt gedeckt sei. Dass eine Gesellschaft ihren Sitz in einen anderen EU-Staat verlege, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen, stelle für sich allein noch keinen Missbrauch dar, urteilte das höchste EU-Gericht.

Dies sei ein „unverantwortlicher Eingriff in das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit“, kommentiert hingegen Martin Höpner vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Das Urteil ermögliche „Regime Shopping“ unter dem Schutz des Europarechts. Die EU-Kommission kann sich darüber nicht hinwegsetzen – auch nicht mit dem neuen Gesetzespaket. Denn der Richterspruch ist für sie verbindlich.

Schnelle Unternehmensgründungen per Mausklick

Ein weiteres Problem betrifft den Wildwuchs von Briefkastenfirmen. Brüssel will die Gründung von Firmen per Internet erleichtern, gleichzeitig aber den Missbrauch von Briefkastenfirmen bekämpfen. Ein schwieriger Spagat.

„Ich möchte nicht, dass Unternehmen sich per Mausklick die günstigste Rechtsordnung für jeden Bereich zusammenkaufen können“, warnt die sozialdemokratische Europaabgeordnete Evelyn Regner aus Österreich. „Wir werden im EU-Parlament ganz genau die von Timmermans versprochenen Sicherheiten überprüfen, mit denen Arbeitnehmer geschützt werden sollen.“

Die Schlacht ist also noch nicht geschlagen. Sie verlagert sich in das Europaparlament, das den Entwurf beraten muss und dabei noch Änderungen anbringen kann. Kurz vor der Europawahl können die EU-Abgeordneten zeigen, wie ernst sie es mit dem sozialen Europa meinen.

Bei der Entsenderichtlinie, bei der es um gleiche Bezahlung entsendeter Arbeitnehmer aus Osteuropa geht, haben die Parlamentarier bereits Zähne gezeigt und einen Erfolg erzielt. Allerdings hat der Kampf mehrere Jahre gedauert. Bei den Mitspracherechten in ausgelagerten oder aufgespalteten Unternehmen dürfte es nicht anders sein. Bis zur Europawahl, so viel steht fest, wird die „Union, die schützt“ ein schönes Versprechen bleiben.

„WIR MÜSSEN FÜR SOZIALE RECHTE KÄMPFEN“

Die Idee der Mitbestimmung findet immer mehr Anhänger in Europa. Sogar in Frankreich gebe es eine „historische Chance“, die Arbeitnehmer mehr an Unternehmensentscheidungen zu beteiligen, hieß es beim Europäischen Gespräch 2018, das Ende April in Brüssel stattfand. Die Frage, wie sich „Worker’s Voice“, die Stimme der Arbeitnehmer,  stärken ließe, stand im Mittelpunkt der zweitägigen Konferenz.

„Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein“, proklamierte die Europaabgeordnete Evelyn Regner gleich zu Beginn der Tagung. Die Gewerkschaften dürften sich nicht mit einem „Schmalspur-Europa“ zufrieden geben, sondern müssten für eine soziale Union kämpfen. Dies sei gerade mit Blick auf die Europawahl 2019 entscheidend.

Die Rechte der Arbeitnehmer sollen ein zentrales Thema im Europawahlkampf werden – da waren sich die Teilnehmer aus Gewerkschaften, Politik und Hans-Böckler-Stiftung einig. Bisher sei die Mitbestimmung in Brüssel aber noch „unterbelichtet“, berichtete Gabriele Bischoff vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.

Ein gemischtes Bild zeichnete Anke Hassel vom WSI. Sie stellte erste Ergebnisse einer europäischen Expertengruppe zum Thema „Worker’s Voice“ vor. Die Bandbreite der Mitsprache reiche vom deutschen Modell der Mitbestimmung bis hin zu sehr schlechter institutioneller Ausstattung, sagte sie. Durch die Globalisierung und die wachsende Rolle transnationaler Unternehmen gerieten die Mitsprachemöglichkeiten unter Druck.

Deshalb gelte es, offensiv für die Rechte der Arbeitnehmer einzutreten, betonte Udo Bullmann, der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten im Europaparlament. „Die Menschen wollen sehen, dass wir für sie kämpfen“, sagte der SPD-Politiker. Wenn sich die progressiven Kräfte nicht mächtig ins Zeug legten, drohe die Gefahr eines Rechtsrucks bei der Wahl.

Dokumentation des Europäischen Gesprächs 2018 

Aufmacherfoto: Mauritius images

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