: Für eine Servicekultur auf Augenhöhe
Mehr Zuwendung zum Kunden erwarten die Unternehmen. Zugleich werden Dienstleistungstätigkeiten strikten Maßstäben von Rendite unterworfen. Wie kommen die Beschäftigten mit dieser paradoxen Situation klar? Das hat Stephan Voswinkel analysiert.
Dr. habil. Stephan Voswinkel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a. M. Er hat gerade ein empirisches Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung über Arbeiten im Kundenkontakt in Einzelhandel und Gastgewerbe abgeschlossen.
E-Mail: voswinkel@em.uni-frankfurt.de
Infos im Internet:
http://www.ifs.uni-frankfurt.de/
http://www.stephan-voswinkel.de/
Ob beim Einkauf, im Restaurant oder beim Anruf in einem Call-Center: Wir alle ärgern uns, wenn die Bedienung gestresst ist, das Personal lustlos oder im Gegenteil zu aufdringlich ist. Und wir sind sofort gereizt, wenn wir nicht finden können, was wir im Supermarkt suchen. Wenn alle über die Servicewüste Deutschland schimpfen, stimmen wir schnell in das Klagelied ein.
Aber sind unsere Ansprüche nicht maßlos und vor allem widersprüchlich? Wir erwarten von den Dienstleistungsbeschäftigten äußerste Zuvorkommenheit, denn jeder glaubt, als Kunde auch einmal König sein zu können. Und dann finden wir uns doch in der Rolle des Bittstellers wieder, etwa wenn wir verzweifelt in einem von Personal leer geräumten Kaufhaus Rat suchen. Etwas scheint also mit der Dienstleistung nicht zu stimmen, wenn man als Kunde zwischen Allmachtsfantasien und Missachtungserfahrungen schwankt. Und die Beschäftigten stehen ebenso vor einem schier unauflöslichen Dilemma. Sie hören und wissen, wie wichtig Kundenorientierung, Beratung und Freundlichkeit sind, während sie die fortschreitende Umstellung zur Selbstbedienung und die Einsparung von Personal erleben.
Steile Karriere eines Leitbildes
Warum hat das Leitbild der "Kundenorientierung" eine so steile Karriere gemacht, warum ist es - zu Recht - so attraktiv? Kundenorientierung fordern zunächst einmal die Kunden. Sie hoffen, freundlicher behandelt, besser beraten und nicht mehr nur in die Routinen von Arbeitsabläufen eingezwängt zu werden. Kundenorientierung erwarten auch die Unternehmen von den Beschäftigten: Der Kunde, so erklären sie ihnen in ihren Leitbildern, sei es nämlich, der die Arbeitsplätze schaffe und die Löhne der Arbeitnehmer/innen finanziere. Die Wünsche des Kunden zu erfüllen sei daher im gemeinsamen Interesse von Beschäftigten und Unternehmen. Eigensinnige Ansprüche der Arbeitnehmer seien da nur unvernünftig und schädlich.
Aber auch die Beschäftigten wollen den Kunden beraten oder dem Klienten helfen. Das ist der Sinn ihrer Arbeit. Sie erleben jedoch vielerlei Schwierigkeiten, diesem Ziel gerecht zu werden. Zum Beispiel: Wenn in dem Call-Center einer Bank Richtlinien existieren, wie viel Zeit ein Call in Anspruch nehmen darf, Beratung oder Problembehebung bei einem Kunden aber immer wieder mehr Zeit benötigen. Wie gehen nun die Call-Center-Beschäftigten mit diesem Konflikt um? Verkürzen sie die Beratung und speisen den Anrufer ab? Oder verstoßen sie - wohlgemerkt im Interesse der Kundenorientierung - gegen die Zeitvorgaben? Und wie wird ihr Verhalten vom Management bewertet?
Oder ein Beispiel aus einem Schuhhaus. Die Beschäftigten erhalten hier eine individuelle Umsatzbeteiligung und eine Prämie, wenn sie den Kunden Schuhpflegemittel und Strümpfe verkaufen. Täglich wird kontrolliert, wie erfolgreich die einzelnen Mitarbeiterinnen beim Verkauf dieser Zusatzprodukte waren. Wer unter den erwarteten Kennziffern bleibt, wird ermahnt. Aber - leidet nicht die kundenorientierte Beratung, wenn die Beschäftigten in erster Linie auf Verkaufszahlen getrimmt werden?
Kunden- oder Verkaufsorientierung?
Offenkundig sind Kundenorientierung und Verkaufsorientierung also keineswegs das Gleiche. Soll der Kunde mit all seinen Problemen und Bedürfnissen beraten werden, so muss die Verkäuferin den zu erzielenden Umsatz außer Acht lassen. Achtet sie hingegen vorrangig auf Verkauf und Umsatz, kann sie nicht mehr (nur) am Kunden orientiert beraten. Auch die Kundin kennt den Unterschied genau: Weil sie befürchtet, nur im Interesse des Verkaufs beraten zu werden, begegnet sie dem Verkaufspersonal oft mit Misstrauen.
Im Grunde dient die Kundenorientierung als strategisches Konzept den Unternehmen dazu, den Markt einzuschränken. Sie wollen damit vor allem eins - den Kunden an sich binden. Er und sie soll davon abgehalten werden, sich allein am Preis zu orientieren oder zu anderen Anbietern zu wechseln. Diesem Zweck der Kundenbindung dienen Payback-Karten, Insider-Aktionen oder auch langfristige Vertragsbindungen, etwa beim Mobilfunk.
Kunden werden sogar in die Angebotserstellung einbezogen, etwa bei der Postbank, wo sie als "Active Experts" zur Verbesserung der Online-Dienstleistungen beitragen. Markenbewusstsein soll loyale Kunden binden; um Markencommunities sollen sich Fangemeinden bilden.
Kundenbindung ist auch deshalb wichtig, weil in weiten Bereichen der Wirtschaft die Zeiten der Massenproduktion und -versorgung vorüber sind. Die Anbieter müssen hart um die Nachfrager ringen: Da will man durch Kundenorientierung der gestiegenen Marktmacht der Kunden entgegenwirken.
Hier kommt aber auch ein gewandeltes Leistungsverständnis zum Ausdruck. Während ein Produkt wie ein Auto eher für sich stehen kann, lässt sich die Qualität einer Dienstleistung nur schwer unabhängig von der subjektiven Zufriedenheit des Kunden oder vom Verkaufserfolg bestimmen. Deshalb verbreitet sich mit der Tertiarisierung der Wirtschaft ein Verständnis, nach dem die subjektive Kundenzufriedenheit oder der Verkaufserfolg die eigentlichen Leistungen darstellen. Das drückt sich auch in entsprechenden "Leistungs"Anreizen wie Umsatzbeteiligung, Provision, Erfolgsprämien aus.
Was genau den Kunden zufrieden stellt, ist für die Beschäftigten im Kundenkontakt oft schwer einzuschätzen. Will etwa der Herr im Bekleidungshaus, dass die Verkäuferin auf ihn zutritt und ihn berät? Oder fühlt er sich dann bedrängt und in seiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigt? Der heutige Kunde will sich oft selbst bedienen, ist jedoch im nächsten Moment erbost, wenn er nicht allein zurechtkommt und nicht sogleich Personal bereit steht.
Wir nennen ihn den "paradoxen Kunden". Diesem entsprechen die widersprüchlichen Dienstleistungskonzepte von Unternehmen, die es einerseits durchaus ernst meinen, wenn sie von Kundenorientierung reden. Zugleich aber reduzieren sie den Service. Sie passen die Personalbesetzung eng an die Kundenfrequenzen an, und viele lassen den Personaleinsatz zudem noch mit der Umsatzentwicklung schwanken.
Datenerhebung statt Mitarbeiterwissen
Aber die am besten erkunden könnten, was der Kunde will - die Beschäftigten als die persönliche Schnittstelle zu den Kunden - verlieren an Bedeutung für die Kommunikation der Unternehmen mit den Kunden. Entscheidungsfunktionen in Unternehmen werden zunehmend zentralisiert. Informationen über Kundenwünsche und Kaufverhalten werden informationell über Kundendaten und Warenwirtschaftssysteme gewonnen. Das Wissen der Beschäftigten über den Kunden wird somit zweitrangig.
Gleichzeitig werden auch die Kunden klassifiziert und segmentiert - wobei die einen als wertvoller befunden werden als andere. Während die "Massenkunden" nur einen Standardservice erhalten, genießen andere die persönliche Aufmerksamkeit engagierter Kundenberater. Das trifft den Geschmack nicht weniger Kunden. Der so genannte "Smart Shopper" stellt sich je nach Kontext sein "Service-Menü" zusammen: Mal gefällt es ihm, exklusiv bedient und umfassend beraten zu werden, mal reicht ihm ein Zugriff, der routinisiert, effizient und selbstbedienend ist. Wer will sich schon an Öffnungszeiten halten und in die Schlange einreihen, nur um am Bankschalter Überweisungen abzugeben? Dementsprechend werden viele Routinetätigkeiten auf den Geldautomaten oder ins Online-Banking verlagert.
Bestimmte Kundengruppen auszuschließen kann aber auch schief gehen und sogar öffentliche Empörung hervorrufen. Das war etwa der Fall, als die Deutsche Bank ihre "Kleinkunden" zur Bank24 als Direktbank abzuschieben versuchte. Derartige Segmentierungen unterschätzen nicht nur die demokratische Kultur unserer Gesellschaft. Sie werden auch der Entstandardisierung sozialer Lagen nicht gerecht. Der einzelne Kunde kann nämlich nicht mehr so einfach taxiert werden. Wer zu Aldi geht, ist keineswegs einkommensschwach, wer selbstständig ist nicht unbedingt kreditwürdiger als ein Arbeiter. Mit dem "Normalarbeitsverhältnis" verlieren auch hergebrachte Normalitätskonzepte vom Kunden an Realitätsgehalt.
Freundlichkeit und Zuwendung ist Arbeit
Von den Beschäftigten im Kundenkontakt sind heute Kompetenzen gefordert, die in keiner Arbeitsbewertung zu finden sind. Sie müssen Emotionsmanagement beherrschen. Sie müssen gegenüber drängenden Kunden ruhig bleiben, gestressten mit Freundlichkeit begegnen, aggressive Kunden mit noch größerer Freundlichkeit "runterholen" oder Streit unter den Kunden, wer zuerst an der Reihe ist, schlichten. Fähigkeiten sind gefordert wie Verstehen, was der Kunde meint, wenn er es nicht formulieren kann; auch sollte man heute den Gewohnheiten und Erwartungen einer multikulturellen Kundschaft entsprechen.
Vor allem aber müssen die Beschäftigten allzu oft Mängel der Unternehmensorganisation vertreten, auf die sie keinen Einfluss haben. Sie sind nämlich die ersten Ansprechpartner von Kundenbeschwerden, werden aber im Vorfeld oft nur schlecht informiert: Wenn zum Beispiel Ware nicht verfügbar ist oder der Zug Verspätung eingefahren hat - dann ist Improvisationsvermögen erforderlich.
Wenn die Beschäftigten gehalten sind, jeden Kunden als "König" zu behandeln, ohne jedoch über die Ressourcen zu verfügen, angemessenen Service zu bieten, dann erzeugt dies oft genug eine zynische Haltung: Freundlichkeit wird zur Fassade, die von erlernten Textbausteinen getragen wird und den Kunden weniger zufrieden denn ruhig stellt. Wenn ein Verkäufer hört, dass er "authentisch" beraten soll, aber tatsächlich nach seinem "Killerinstinkt" beim Verkaufsabschluss beurteilt wird, dann wird er ein instrumentelles Verhältnis zum Kunden entwickeln. Im Selbstbedienungskontext erleben Beschäftigte den "König Kunden" im Wesentlichen an der Kasse, wo sie ihn vor allem kontrollieren müssen - denn er könnte sich ja als potenzieller Dieb entpuppen.
Was folgt daraus? Der Ruf nach Kundenorientierung ist berechtigt. Sie sollte aber als Dialog zwischen den Kunden mit ihren Wünschen und den Beschäftigten mit ihren Kompetenzen verstanden werden, als Kultur wechselseitiger Anerkennung. Das setzt voraus, dass die Fähigkeiten gewürdigt werden, die Dienstleister heute, auch in den zu Unrecht so genannten "einfachen" Dienstleistungstätigkeiten, mitbringen müssen: soziale Kompetenzen, Emotionsmanagement, situative Flexibilität, Multitasking. Dies sind eben nicht einfach persönliche, "weibliche" und darum nicht zu honorierende Fähigkeiten, sondern wertvolle Kompetenzen.
Kompetenz zählt: Warnung vor einer Abwärtsspirale
Hier könnte auch ein erweitertes Aufgabenfeld der Gewerkschaften und Betriebsräte liegen: als Interessenvertreter von beiden - von Beschäftigten und Kunden. Und im Interesse von besseren Kundenbeziehungen und damit auch einer besseren und befriedigenderen Arbeit. Gewerkschaften könnten sich damit auch zum Sachwalter einer kollektiven Rationalität von Dienstleistungsbranchen machen. Denn Dienstleistungsunternehmen handeln ja einzelwirtschaftlich gesehen rational, wenn sie sich an Schnäppchenpreisrabatten beteiligen und eine Personalpolitik des Geizes verfolgen. Tatsächlich schaut gerade der deutsche Kunde im Zweifel vor allem nach den Preisen.
Aber die kollektive Irrationalität dieses Verhaltens ist offenkundig und den Akteuren vielfach bewusst. So wird nämlich ein deflationäres Klima erzeugt: Aus Angst, nebenan und morgen ein Schnäppchen zu verpassen, wird die Kundin vom Kauf hier und heute abgehalten. So werden Dienstleistungsbranchen - nicht nur der Einzelhandel - in eine Abwärtsspirale gezogen. Aus dieser könnten allenfalls eine nachhaltige Personalpolitik und eine Kundenorientierung herausführen, die den Kunden ernst nehmen, ihn aber auch zur Anerkennung des Werts der Dienstleistungsarbeit erziehen: als Service, nicht als Servilität.
Zum Weiterlesen
Stephan Voswinkel unter Mitarbeit von Anna Korzekwa: Welche Kundenorientierung? Anerkennung in der Dienstleistungsarbeit. Reihe Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung. Berlin, edition sigma (im Druck)
Heike Jacobsen, Stephan Voswinkel (Hg.): Der Kunde in der Dienstleistungsbeziehung. Wiesbaden, VS-Verlag (erscheint demnächst)
Markus Pohlmann, Dieter Sauer, Gudrun Trautwein-Kalms, Alexandra Wagner (Hg.): Dienstleistungsarbeit: Auf dem Boden der Tatsachen. Berlin, edition sigma 2003
Wolfgang Dunkel, G. Günter Voß (Hg.): Dienstleistung als Interaktion. München-Mering, Rainer-Hampp-Verlag 2004
Ursula Holtgrewe, Christian Kerst: Zwischen Kundenorientierung und organisatorischer Effizienz - Callcenter als Grenzstellen. In: Soziale Welt 53 (2), 2002, S. 141-160