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Böckler-Experte Eric Seils kritisiert eine Studie des DIHK, wonach angeblich 1,6 Millionen offene Stellen in der Wirtschaft nicht besetzt werden können. Magazin Mitbestimmung

Das Gespräch führte KAY MEINERS.: Fachkräftemangel: „Es kursieren falsche Zahlen"

Ausgabe 10/2018

Debatte Böckler-Experte Eric Seils kritisiert eine Studie des DIHK, wonach angeblich 1,6 Millionen offene Stellen in der Wirtschaft nicht besetzt werden können.

Das Gespräch führte KAY MEINERS.

Wirtschaftsverbände beklagen, dass Deutschland die Arbeitskräfte ausgehen. Die Diagnose lautet: Fachkräftemangel. Wie definiert ein Wissenschaftler überhaupt, was eine Fachkraft ist?

Es gibt eine Definition der Bundesagentur für Arbeit. Danach ist eine Fachkraft eine Person, die eine mindestens zwei Jahre dauernde Berufsausbildung abgeschlossen hat.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) spricht aktuell davon, dass 48 Prozent der Unternehmen Stellen längerfristig nicht besetzen können. Insgesamt könnten 1,6 Millionen Stellen nicht besetzt werden, weil Fachkräfte fehlen.

Das ist unhaltbar. Dabei ist der DIHK nur eine von vielen Organisationen, die dubiose Zahlen veröffentlichen. Mit dem DIHK habe ich mich beschäftigt, weil er sehr mächtig ist, einen sehr guten Zugang zur Politik hat und relativ viele Daten veröffentlicht.

Was ist falsch an der Zahl?

Der DIHK fragt Unternehmen, ob sie eine Stelle länger als zwei Monate nicht besetzen konnten. Doch in der Stichprobe sind Großunternehmen völlig überrepräsentiert. Sie ist verzerrt. Außerdem sind die zwei Monate so kurz gewählt, dass oft schon die durchschnittliche Stellenbesetzungsdauer länger ist. So kommt man auf einen abwegigen Prozentsatz von 48 Prozent.

Und wo kommt die absolute Zahl her, also die 1,6 Millionen?

Der DIHK behauptet, Hochrechnungen hätten das ergeben. Dabei fragt er gar nicht, wie viele offene Stellen es in einem Unternehmen gibt. Er geht offenbar davon aus, dass es immer genau eine Stelle ist. Ich habe mal die behaupteten 48 Prozent der Unternehmen auf die Gesamtzahl der Unternehmen angewendet, die das Statistische Bundesamt ausweist.

Was kommt dabei heraus?

48 Prozent von 3 467 000 Unternehmen ergibt je nach Rundung 1,66 oder 1,67 Millionen. Der DIHK hätte auf jeden Fall aufrunden müssen. Wenn schon, hätte man nicht 1,6, sondern 1,7 Millionen angeben müssen. Oder noch viel mehr, wenn man davon ausgeht, dass in größeren Unternehmen mit tatsächlichem Fachkräftemangel auch mehr Stellen fehlen als genau eine. Die Rechnung zeigt, dass die Angaben des DIHK Unfug sind.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur weist deutlich weniger als eine Million offene Stellen aus.

Laut IAB gibt es derzeit 984 000 sofort zu besetzende Stellen. Diese Zahl ist valide. Denn das Institut macht eine eigene Befragung, die auf einer repräsentativen Zufallsstichprobe beruht. Die Methodik ist sehr ausgefeilt. In der Zahl sind einfache Helfertätigkeiten mit drin plus Branchen, die beim DIHK außen vor bleiben: der öffentliche Dienst, das Handwerk und die Landwirtschaft.

In den Medien findet man auch Zahlen, die noch niedriger sind als diese 984 000.

Journalisten verwenden gern die Zahl der bei der Bundesagentur gemeldeten freien Stellen – die ist noch mal niedriger. Doch da gibt es ein Problem. Dieser Wert erfasst die Zahl der offenen Stellen nicht wirklich. Die Stellen für Akademiker werden der Bundesagentur oft nicht gemeldet. Die IAB-Zahlen sind deswegen die korrektesten.

Eine knappe Million unbesetzter Stellen ist auch nicht wenig. Es fehlen also doch Fachkräfte?

Ja, aber eher in einzelnen Branchen. Vor allem in der Pflege. Aber auch bei der Klempnerei, in IT-Berufen, in der Mechatronik, beim Fahrzeugbau oder in der Luftfahrt. Das Problem ist aber nicht so gravierend, wie manche Lobbyisten es beschreiben.

Sie schreiben als Replik auf die DIHK-Studie, es gebe weniger einen Mangel an Fachkräften als einen Mangel an Zahlungsbereitschaft bei den Arbeitgebern.

Der DIHK nennt als Beispiele für Branchen mit einem gravierenden Fachkräftemangel ausgerechnet die Leiharbeitsbranche, das Sicherheitsgewerbe und das Gastgewerbe. Da weiß man doch, woher der Wind weht.

Es sind Branchen mit einer hohen Fluktuation und niedrigen Anforderungen.

Ja – hier spielt wieder der Zeitraum von zwei Monaten für Vakanzen eine Rolle, der als Indikator für langfristig nicht besetzbare Stellen genommen wird. Leiharbeitsfirmen haben ständig offene Stellen, weil sie auch ständig Leute rausschmeißen. Und weil sie immer Leute pro forma suchen. Wenn sie dann auf so eine Umfrage des DIHK treffen, dann sagen sie natürlich: Wir haben immer offene Stellen. Rund 34 Prozent aller gemeldeten offenen Stellen sind Leiharbeit. Dabei macht die Branche nur ungefähr drei Prozent aller sozial­versicherungspflichtig Beschäftigten aus.

Der DIHK geht mit seinen offensichtlich unseriösen Zahlen an die Öffentlichkeit, weil er politische Vorschläge auf die Agenda bringen will. Welche sind das?

Ein Vorschlag des DIHK ist, die sogenannte Positivliste der Bundesagentur abzuschaffen. Das ist eine Liste von Berufen, in denen es nicht genügend Fachkräfte gibt. Sie regelt, welche Menschen von außerhalb der EU unter bestimmten Bedingungen einwandern dürfen. Das würde dann Einwanderung in Branchen wie die Leiharbeit oder das Sicherheitsgewerbe ermöglichen. Die Einwanderung ist nicht dafür da, den deutschen Niedriglohnsektor mit Personal zu versorgen.

Die Positivliste sollte also erhalten bleiben?

Ja, das halte ich für sinnvoll. Auch der DGB fordert das. Wir reden hier teilweise über Tätigkeiten für Ungelernte. Um hier das Reservoir billiger Arbeitskräfte zu erhöhen, will der DIHK Zuwanderungsbeschränkungen beseitigen. Es geht darum, den Niedriglohnsektor mit Arbeitskräften zu versorgen. Aktuell ist die Ablösung der Arbeitseinwanderung von den tatsächlichen Engpassberufen in das sogenannte Eckpunktepapier von Horst Seehofer eingegangen. Ich halte das für einen grundlegenden Fehler.

Was will der DIKH noch?

Ein zweiter wichtiger Punkt ist meiner Ansicht nach, dass der DIHK eine sogenannte Zuwanderung zur Arbeitsplatzsuche forcieren will. Derzeit ist es noch so, dass die Einwanderung aus einem Drittstaat – es geht nicht um EU-Staaten – an eine Arbeitsplatzzusage hierzulande geknüpft ist. Das heißt, die Leute können nur kommen, wenn ihnen hier ein Arbeitsplatz vorab zugesagt ist.

Was bedeutet es, diese Regel aufzuweichen?

Auch davor kann ich nur warnen. Zugewanderte auf Arbeitsplatzsuche müssen schnell einen Job finden, weil sie sonst wieder gehen müssen. Diese Leute sind dann extrem erpressbar.

Aufmacherfoto: Karsten Schöne

 

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