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Arbeiter beim Verladen von Paketen für den Versand Magazin Mitbestimmung

Logistik: Auf den Schultern der Schwachen

Ausgabe 06/2023

Viele Pakete werden durch dubiose Subunternehmen zugestellt, der Arbeitsschutz ist miserabel. Ein Gutachten zeigt, wie man damit Schluss machen könnte – nach dem Vorbild der Fleischwirtschaft. Von Kay Meiners

Pünktlich zum „Black Friday“, dem vierten Freitag im November, der als Beginn der weihnachtlichen Einkaufssaison und Härtetest für Paketdienste und Onlinehändler gilt, startete die Gewerkschaft Verdi eine Aktionswoche: An 84 Standorten, darunter große Verteilzentren und 22 Amazon-Betriebe, verteilte die Gewerkschaft, unterstützt vom Verein Arbeit und Leben sowie vom Netzwerk Faire Mobilität, Flugblätter, die in elf Sprachen bessere Arbeitsbedingungen für diejenigen Beschäftigten fordern, die oft in letzter Minute den Frieden unter dem Weihnachtsbaum retten sollen.

Stefan Thyroke ist Koordinator der Aktion. Er sagt: „Wir sprechen die Fahrer an, die zwischen den Verteilzentren eingesetzt werden, aber auch die Fahrer auf der letzten Meile zum Endkunden.“ Ziel sei, die Leute überhaupt erst einmal mit den Hauptforderungen der Gewerkschaft bekannt zu machen, sagt Thyroke. Er ist bei Verdi Bundesfachgruppenleiter Speditionen, Logistik, Kurier-, Express- und Paketdienste. Die Forderungen seiner Gewerkschaft sind: eine Gewichtsbegrenzung von 20 Kilogramm für das Ein-Personen-Handling von Paketen, eine Kennzeichnungspflicht für schwere Pakete, eine engmaschige Überwachung durch Kontrollbehörden und – besonders wichtig – ein Verbot von Subunternehmen bei der Paketzustellung.

Denn die Fahrer leisten nicht nur Schwerstarbeit, sie arbeiten häufig auch gar nicht für die Firmen, deren Logos auf den Transportern oder auf der Dienstkleidung prangen. Die Forderungen der Gewerkschaft kennen viele Fahrer nicht. Dennoch seien sie aufgeschlossen, sagt Thyroke: „Wir stehen vor den Toren und versuchen, sie zum Anhalten zu bewegen. Wenn einer stoppt, kann es passieren, dass das Fahrzeug dahinter schon hupt, so groß ist der Zeitdruck. Aber unsere Erfahrungen sind sehr positiv.“

Die dunkle Seite der Branche

Von den Kunden der großen Versandanbieter und Onlinehändler weiß kaum einer, wie es hinter den Kulissen der Subunternehmen aussieht. Die meisten haben sich schon einmal über den Paketboten an der Tür geärgert, der kein Deutsch spricht oder die Sendungen einfach vor die Wohnungstür pfeffert. Aber die wenigsten kennen das System dahinter: Das Abliefern beim Endkunden, die berüchtigte „letzte Meile“, ist der teuerste und kritischste Teil des Transportweges. Viele Firmen wollen sie loswerden – und haben diese Arbeit deswegen an Subunternehmen delegiert.

Diese Arbeit ist ein Knochenjob der Branche, selbst wenn alle Vorschriften eingehalten werden: vergebliche Zustellversuche, Sendungen, die, wie bei Hermes, 25 Kilo bei der Abgabe im Paketshop und 31,5 Kilo bei Abholung an der Haustür schwer sein können und oft allein bewegt werden müssen, dazu Zeit- und Leistungsdruck. Am Ende des Lieferweges, bei den Werkvertraglern, sammeln sich die Risiken. Oft kommen noch Gesetzesverstöße hinzu, die endgültig für katastrophale Arbeitsbedingungen sorgen. Die Gewerkschaft Verdi hat sie alle dokumentiert: zu viele Stopps und zu viele Pakete, Unfallschäden, die die Beschäftigten selbst bezahlen müssen, Kündigung im Krankheitsfall, befristete Verträge oder bis zu vier Überstunden täglich, die von der App nicht erfasst werden. „Es ist nicht hinnehmbar, wenn die tägliche Paketzustellung in unserem Land teilweise mit ausbeuterischen und gesetzwidrigen  Arbeitsbedingungen sichergestellt wird“, sagt die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis. Ein Gutachten des Juraprofessors Manfred Walser und der Juristin Anneliese Kärcher, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde, schildert anschaulich die Rekrutierung und die Arbeitsabläufe bei den Werkvertrags-Firmen. Die Rede ist von zum Teil
„familiär organisierten“ Subunternehmen, in denen „Mütter, Kinder, Cousins usw. die Paketzustellung gemeinsam bewältigen“.

Die Zustellung ist in der Branche heute so weit standardisiert – auch dank digitaler Technik –, dass mittlerweile weder Orts- noch Sprachkenntnisse erforderlich sind: „Die Scanner und die Programme für die Routenplanung sind in mehreren Sprachen bedienbar und erklären sich mittlerweile von selbst.“ Auch ungelernte Kräfte aus Ländern wie Afghanistan oder Ghana mit nur bruchstückhaften Deutschkenntnissen können nach kurzer Einarbeitung solche Jobs in der Zustellung übernehmen.

Rekrutiert wird insbesondere über Job- und Kleinanzeigenportale oder Facebook-Gruppen – „häufig mit falschen Versprechungen“. Die Autoren schreiben, die Post- und Paketbranche sei in Wahrheit eine „zerklüftete Branche“ mit vielen Kleinstunternehmen. Bei den Subunternehmen beschäftigen rund 86 Prozent der Betriebe weniger als 20 Personen. In den meisten von ihnen existieren keine Betriebsräte, und in den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten gilt nicht einmal das Kündigungsschutzgesetz.

Vor diesem Hintergrund halten Walser und Kärcher ein Verbot der Zustellung durch Subunternehmen für rechtmäßig. Ein Nebeneffekt eines Verbots wäre, dass dies auch die Mitbestimmung der Beschäftigten stärken würde. Das würde gesetzliche Regeln erfordern, die weiter gehen als das Paketbotenschutzgesetz, ein gut gemeintes, aber bisher in vielerlei Hinsicht zahnloses Gesetz aus dem Jahr 2019, das an vielen Missständen nichts ändern konnte. „Wir begrüßen die Ergebnisse des Gutachtens, das unsere Position bestätigt“, sagt deshalb auch Andrea Kocsis. „Es ist höchste Zeit für ein gesetzliches Verbot von Subunternehmen in der Paketbranche, um prekäre Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und illegale Beschäftigung wirksam zu bekämpfen.“ Kocsis gibt sich überzeugt davon, dass ein Direktanstellungsgebot die gravierenden Missstände in der Branche beseitigen würde. Unter dem Motto „Fair zugestellt statt ausgeliefert“ hat ihre Gewerkschaft dazu eine Kampagne gestartet, zu der auch eine Onlinepetition gehört.

Schärfere Regeln oder ein Werkvertragsverbot würden den Marktführer, die DHL Group, für die meisten noch immer identisch mit „der Post“, begünstigen. Während DHL fast zu 100 Prozent eigene Zusteller beschäftigt, setzen UPS und Fedex nur zu etwa 40 Prozent Stammarbeitskräfte ein, DPD setzt fast ganz auf Subunternehmen, Hermes, GLS und der Onlinehändler Amazon haben gar keine eigenen Zusteller.

Der Jurist Walser sieht in einem Werkvertragsverbot kein wettbewerbsrechtliches Problem, im Gegenteil. Man müsse sich eher fragen, „ob die anderen Wettbewerber sich nicht durch Dumping Vorteile im Wettbewerb verschafft haben“. Ebenso argumentiert auch Andrea Kocsis, wenn sie sagt, erst ein Werkvertragsverbot würde „einheitliche Wettbewerbsbedingungen in der Branche schaffen“. Im Koalitionsvertrag ist von dem Ziel die Rede, den „fairen Wettbewerb“ stärken zu wollen. Nur, wie könnte ein fairer Wettbewerb aussehen? In Gewerkschaftskreisen ist man überwiegend der Meinung, dass der Wettbewerb angesichts des Preisdrucks aktuell eigentlich nur über schlechtere Arbeitsbedingungen ausgetragen werden kann – und damit schädlich ist.

Die bisherige Subunternehmerhaftung reicht nach der Ansicht von Walser nicht aus, die Missstände in der Branche zu beseitigen. Sie sei, wie er erklärt, vor allem für die Sozialversicherungen wichtig. Hauptunternehmen, die Subunternehmen einschalten, müssen unter bestimmten Voraussetzungen für deren nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge haften. Aber viele andere Probleme löst das nicht. Derweil steigt die Zahl der Pakete weiter an. Schon in naher Zukunft, im Jahr 2025, wird ein durchschnittlicher Haushalt, wie die Unternehmensberatung McKinsey prognostiziert, mehr als ein Paket pro Woche bekommen, die vielen Sendungen, die zwischen Unternehmen versendet werden, nicht mitgerechnet. Es wird das Jahr sein, ab dem die Haushalte endgültig mehr Pakete nach Hause bekommen als Briefe. Die Situation in den Subunternehmen wird sich, wenn nichts geschieht, mit solchen Paketmengen weiter zuspitzen.

Keine Mehrheit im Parlament

Politisch ist die Situation verfahren. Verdi hat längst Unterstützung durch den Bundesrat erhalten. Eine Entschließung für ein Verbot der Werkverträge in der Zustellung „analog zum Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“, das für bestimmte Tätigkeiten wie die industrielle Schlachtung Werkverträge untersagt, gab es hier schon im Mai – auf Initiative von Bremen, Niedersachsen, dem Saarland und Thüringen Trotzdem fand sich im Bundestag keine Mehrheit für ein Werkvertragsverbot, nachdem die Linke, die zu der Zeit noch den Fraktionsstatus besaß, einen Antrag gestellt hatte. Der Antrag wurde abgelehnt, obwohl zumindest von SPD und Grünen die Problemanalyse geteilt wird.

Für die SPD, heißt es im Bundestagsnewsletter, seien Tarifbindung und Mitbestimmung der richtige Weg. Man wolle später ein EU-rechtskonformes Gesetz auf den Weg bringen. Die Grünen betonen, dass es einen Missbrauch von Werkverträgen gebe, aber die Selbstständigkeit einfach abzuschaffen, sei problematisch. Besser sei ein Verbandsklagerecht für die Gewerkschaften. Unbeeindruckt zeigten sich die CDU/CSU, FDP und AfD, die „abstritten, dass überhaupt ein zu lösendes Problem existiere.“

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