zurück
HENNING MEYER, 40, ist Berater und Chefredakteur von Social Europe. Er analysiert in jeder Ausgabe die Entwicklungen der EU im Wahljahr. Magazin Mitbestimmung

Politik: Europa braucht eine gemeinsame Stimme

Ausgabe 05/2019

Die Marschrichtung der neuen EU-Kommission lässt sich mit zwei Überschriften beschreiben: Emanzipation und Konsolidierung. Die Begriffe klingen positiv, doch sie haben ihre Schattenseiten. Von Henning Meyer

Am 1. November nimmt die neue Europäische Kommission unter der Präsidentschaft der ersten Frau in diesem Amt, Ursula von der Leyen, ihre Arbeit auf. Ob das nun einen Tag nach dem Brexit oder noch vor dem britischen Austritt aus der Europäischen Union ist, kann man nur sehr schwer vorhersagen. Es muss trotzdem darauf hingewiesen werden, dass ein ungeregelter Halloween-Brexit am 31. Oktober – alle anderen EU-Mitglieder müssten einer eventuellen Fristverlängerung schließlich erst zustimmen – Ursula von der Leyen ihren Amtsantritt verhageln könnte. Wenn es zu Konflikten über den Umgang mit der irischen Grenze oder zum befürchteten Reise- und Güterverkehrschaos kommen würde, wären die angekündigten Prioritäten für den Amtsantritt der neuen Kommissionspräsidentin wohl schnell dahin. Hoffen wir also auf das Beste und schauen auf das, was wir unter „normalen“ Umständen von der neuen Kommission erwarten können und fordern sollten.

Wenn man die Marschrichtung auf zwei Begriffe reduzieren müsste, hießen sie wohl „Emanzipierung“ und „Konsolidierung“, was in der Realität aber nicht immer so positiv aussieht, wie die Begriffe vielleicht nahelegen. Der Emanzipationsgedanke findet sich in zwei der sechs übergreifenden Ziele der neuen Kommission wieder: „Schützen, was Europa ausmacht“ und „Ein stärkeres Europa in der Welt“. Europa muss im globalen Machtgefüge mit einer stärkeren und einheitlichen Stimme sprechen, um nicht im Konflikt zwischen den USA und China zerrieben zu werden. Machen wir uns nichts vor: Im Rahmen der technischen Veränderungen befinden wir uns wieder in einem Systemkampf, der sich zwischen den Polen neoliberaler Kapitalismus à la USA und autoritärer Staatskapitalismus chinesischer Prägung abspielt. In diesem Kontext das eigene, genuin europäische Modell zu erneuern und ins digitale Zeitalter zu befördern, ist sicherlich der richtige Ansatz.

Etwas anders sieht es bei dem Ziel „Schützen, was Europa ausmacht“ aus. Das unterstellte Schutzbedürfnis setzt implizit voraus, dass die europäische Identität unter Beschuss steht. Auch wenn die humanitäre Krise der vergangenen Jahre Europa sicher vor Herausforderungen gestellt hat, so ist es doch ein klar rechtspopulistischer Duktus, der von der Mär des Angriffs auf das, was Europa ausmacht, fabuliert. Dazu passt auch, dass der von Viktor Orbán entsandte ungarische Kommissar für Erweiterung zuständig sein soll. Er soll bewerten, wie es um die Rechtsstaatlichkeit der Beitrittskandidaten steht, nachdem er als Justizminister in Ungarn an der Schleifung des Rechtsstaats beteiligt war. Wenn jemals ein Bock zum Gärtner gemacht werden sollte, dann hier.

Auch von der Leyens Ausführungen zur inneren und äußeren Sicherheit und zu einem „Neuanfang in der Migrationspolitik“ lässt auf ein Entgegenkommen in Richtung reaktionärer Kräfte schließen. Natürlich sollte die Sicherheit für EU-Bürger immer verbessert werden, und der Schutz der Außengrenze ist ein legitimes Anliegen. Im Kontext der implizit unterstellten Attacke auf die europäische Identität hört sich dieses Programm aber nicht an wie das Überdenken eines Politikrahmens unter dem Eindruck neuer Herausforderungen, sondern vielmehr wie das Zurückziehen in die „Festung Europa“. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Eindruck in den tatsächlichen Initiativen der neuen Kommission nicht bewahrheitet.

Aus sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Sicht stimmen die vier Prioritäten, die auf EU-interne Reformen und zukunftsorientierte Konsolidierung abzielen, hoffnungsvoller. Unter den Labeln europäischer „new Green Deal“, „Wirtschaft für den Menschen“, „digital fittes Europa“ und „neuer Push“ für die europäische Demokratie soll versucht werden, die Europäische Union intern zu konsolidieren und in den Bereichen Digitales und Umweltschutz zukunftssicher zu machen.

Gerade das soziale Europa soll nach den Plänen von der Leyens eine tragende Rolle spielen. Und es wurden auch schon Schritte angekündigt. Innerhalb der ersten 100 Tage soll zum Beispiel ein rechtliches Instrument für einen fairen Mindestlohn überall in der Union vorgeschlagen werden. Dieses soll unter Berücksichtigung nationaler Umstände und im Einklang mit der Tradition der Sozialpartnerschaft dafür sorgen, dass überall in der EU ein „anständiges Leben“ durch Arbeit verdient werden kann. Man wird also schon anhand dieser Ankündigung recht bald sehen können, wie ernst die Betonung sozialer Belange tatsächlich gemeint ist.

Ein breites Politikprogramm ist notwendig, um ein zersplittertes Parlament hinter der Kommissionspräsidentin zu vereinen. Die Breite der Politik bedeutet aber auch, dass man aufpassen muss, inwiefern die Inhalte tatsächlich in die Tiefe gehen. Es besteht die Gefahr, dass zwar rhetorisch viel geliefert wird, Vorschläge in der Substanz aber hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die politischen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung des sozialen Europa sind da. Das IG-Metall-Vorstandsmitglied Wolfgang Lemb hat dazu ein neues Buch mit dem Titel „Für ein Europa mit Zukunft: Plädoyer für den Vorrang des Sozialen Europa“ vorgelegt, in dem klare Erwartungen formuliert werden. Ob die neue Kommission in diesem Bereich liefert, werden wir bald beurteilen können.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen