Integration: Es braucht jemanden, der sich kümmert
Auch wenn viele Branchen auf sie angewiesen sind – Menschen mit ausländischen Wurzeln, Migrations- oder Fluchtgeschichte müssen auf dem Weg in den Arbeitsmarkt oft einige Hürden überwinden. Mitbestimmung macht es ihnen leichter. Von Fabienne Melzer
Eine ganze Weile redete die Frau von der Arbeitsagentur auf den jungen Mann aus Afghanistan ein. Lebhaft und durchaus freundlich sei sie gewesen, erinnert sich Michael Hellriegel, Betriebsrat bei Siemens Schaltanlagenbau in Leipzig, der den jungen Mann begleitet hatte. Dann fragte sie den damals 17-Jährigen, ob in dem Buch mit den Berufen etwas für ihn dabei sei. Hellriegel hörte zu, staunte und fragte schließlich: „Wie viele schaffen es denn, ohne Schulabschluss und Ausbildung einen Job zu bekommen?“ Die Frau antwortete: „Fünf Prozent.“ Da schlug Hellriegel vor, doch erst einmal mit einem Schulabschluss anzufangen. Seit fünf Jahren begleitet der Siemens-Betriebsrat den jungen Mann durch den deutschen Behördendschungel und stellt fest: „Das war auch für mich interessant. Ich habe zum ersten Mal erlebt, wie Behörden auf diesem Gebiet arbeiten.“ Er schimpft nicht auf die Bürokratie, vieles sei gar nicht schlecht geregelt, aber das ganze Recht so kompliziert, dass selbst er als Muttersprachler kaum durchblicke. „Wenn Geflüchtete niemanden haben, der sich kümmert, der mit zu Terminen geht, sind sie verloren.“
Nicht nur nach Nützlichkeit
Für Daniel Weber, beim DGB-Bildungswerk zuständig für Integration, steckt dahinter auch Absicht: „Gerade für Geflüchtete sind die Hürden auf dem Arbeitsmarkt enorm hochgesetzt worden.“ Dabei ist Deutschland auf Einwanderung angewiesen, so wie schon in den 1950er und 60er Jahren, als Migranten noch Gastarbeiter hießen. Doch nicht jeder ist gleich willkommen. Mit dem Fachkräftezuwanderungsgesetz hat die Bundesregierung 2019 die Hürden für nichtakademische Fachkräfte gesenkt und gleichzeitig die Abschiebung abgelehnter Asylsuchender vereinfacht.
Nützlichkeit für den deutschen Arbeitsmarkt darf aber aus Sicht Webers nicht das alleinige Kriterium sein. „Wir brauchen auch Wege in den Arbeitsmarkt für alle, die bei uns Schutz suchen“, sagt Weber. „Wichtig dafür ist ein offener Umgang mit Zuwanderung, und der gelingt in Betrieben besser, wenn sie gut organisiert sind.“ Das bestätigt auch eine Studie, die die Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat. Darin kommt Werner Schmidt vom Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur (F.A.T.K.) zu dem Ergebnis, dass Geflüchtete leichter in Betrieben Fuß fassen, die mitbestimmt sind. Denn Tarifverträge und Arbeitnehmervertretungen fragen nicht nach der Herkunft von Beschäftigten, heißt es in der Studie.
Wenn Geflüchtete niemanden haben, der mit zu Terminen geht, sind sie verloren.“
Wo ein Wille ist, findet sich auch für Geflüchtete ein Weg in den Arbeitsmarkt, wie das Beispiel Siemens in Leipzig zeigt. Betriebsrat Hellriegel wollte etwas für Geflüchtete tun. Als er Shamsullhaq Safi, den alle nur Shams nennen, kennenlernte, lebte der allein in einer Flüchtlingsunterkunft in Leipzig. Hellriegel half Shams, sich zum Unterricht für einen Schulabschluss anzumelden. Bei Siemens setzte er sich gemeinsam mit seinen Betriebsratskollegen und der Betriebsleitung dafür ein, Geflüchteten Praktika anzubieten. Abends ging Shams nun zur Schule, tagsüber arbeitete er bei Siemens. Das stramme Tagespensum machte ihm nichts: „Ich wollte etwas erreichen.“ Er bekam Mindestlohn, von dem er drei Viertel an den Träger seiner Unterkunft abgeben musste, und er wollte eine Ausbildung machen. Wieder kümmerte sich der Betriebsrat. Shams absolvierte eine Einstiegsqualifizierung und begann wie zwei weitere Geflüchtete 2018 eine zweijährige Ausbildung zum Industrieelektroniker für Betriebstechnik.
Leicht fiel ihm die Ausbildung nicht. Was er nicht verstand, konnte er nicht nachschlagen. Er hatte kein Fachwörterbuch für Paschtu, seine Muttersprache. Er lernte über Videos, bekam von Siemens Nachhilfe in Sprache, Mathe und Physik und aufmunternde Worte von Michael Hellriegel: „Du schaffst das.“ Im vergangenen Jahr bestand er die Abschlussprüfungen und wurde übernommen. Die Abendschule hatte Shams für die Ausbildung aufgegeben. Doch das machte nichts. Mit dem Berufsabschluss hat er nun auch einen Schulabschluss. Für Hellriegel ein Gewinn für beide Seiten. Schließlich wird es immer schwieriger, Fachkräfte zu finden – nicht nur für Siemens in Leipzig.
In der Pflege fehlt Anerkennung
Erst kürzlich bezifferte der Chef der Bundesagentur für Arbeit den jährlichen Zuwanderungsbedarf an Fachkräften auf 400 000 Menschen. In der Pflege beispielsweise herrscht seit Jahren Mangel. Die Zahl der freien Stellen übersteigt die der Arbeitssuchenden um fast ein Drittel. Doch Pflegekräfte aus dem Ausland kehren Deutschland oft wieder den Rücken. „Pflegekräfte aus Osteuropa haben oft eine medizinische Ausbildung“, sagt Weber vom DGB-Bildungswerk. „Sie empfinden die reine Pflege als beruflichen Abstieg.“
Das bestätigen auch von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studien. Darin heißt es: Vorgesetzte und Kolleginnen erkennen die meist akademische Ausbildung der Zugewanderten häufig nicht an und beklagen fehlende Grundkenntnisse. Das führt zu Konflikten, hinter denen die Beteiligten aber häufig Mentalitätsunterschiede oder Rassismus vermuten. Daniel Weber wundert es nicht, dass Integration gerade in der Pflege oft misslingt. „Wer in seinem Berufsalltag kaum Zeit für die elementarsten Dinge hat, kann sich schwerlich um Integration kümmern.“
Im Universitätsklinikum Essen erlebte Personalratsvorsitzende Alexandra Willer vieles von dem, was die Studien beschreiben. Kolleginnen wurden als Hilfskräfte eingruppiert und Sprachhürden unterschätzt. Viele bemühen sich, die Neuen zu unterstützen. „Aber es steht zu befürchten, dass die Akzeptanz nachlässt, wenn auf einer Station die fünfte Kollegin wegen Sprachdefiziten Hemmungen hat, ans Telefon zu gehen. Das kann in einem ohnehin völlig überlasteten System nicht mehr funktionieren“, sagt Willer. Die Klinikleitung habe zwar gemerkt, dass die ausländischen Fachkräfte nicht ohne Weiteres eingesetzt werden können, und gegengesteuert. Aber nicht ohne Druck. „Wir mussten um jede Stunde Sprachunterricht kämpfen“, sagt Willer. Ihr ist jede Pflegekraft willkommen, egal woher sie kommt. „Aber wenn wir etwas gegen den Mangel in der Pflege tun wollen, müssen wir die Arbeitsbedingungen verbessern und sie nicht Menschen zumuten, die sich aufgrund von Herkunft und Sprachschwierigkeiten noch weniger wehren können als einheimische Kräfte.“
Menschen nach ihren Fähigkeiten einsetzen
Wenn Fachkräfte bleiben sollen, reichen Lippenbekenntnisse nicht aus. Integration muss überall mitgedacht werden, von der Personalplanung und -entwicklung bis zur Arbeitsgestaltung. Diesen Ansatz verfolgt das Projekt „Welcome Fachkräfte sichern durch Integration“, das Verdi und das Bildungsinstitut im Gesundheitswesen sowie die IG Metall veranstalten. Es bietet Betriebsräten und Führungskräften Schulungen an und entwickelt mit ihnen Projekte für den Betrieb.
Monika Zimpel ist bei den Alten- und Pflegezentren des Main-Kinzig-Kreises unter anderem für Personalmanagement zuständig und hat an den Schulungen des Welcome-Projekts teilgenommen. Auch sie kennt Schwierigkeiten im Arbeitsalltag, die unterschiedliche Berufsvorstellungen und Sprachbarrieren mit sich bringen. In den Schulungen sah sie sich bestätigt, wie wichtig eine offene Kommunikation ist. „Betriebliche Integration bedeutet erst einmal, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Und dazu müssen Schwierigkeiten angesprochen werden dürfen“, sagt Zimpel. Das Projekt kann sie jedem empfehlen, schließlich sei nicht nur die Pflege auf Fachkräftezuwanderung angewiesen.
In einem Team müssen sich alle integrieren.“
Diese Ansicht teilt auch Jörg Butzke, Betriebsrat bei Daimler Group Services in Berlin. Er hat das Qualifizierungsprogramm von „Welcome Fachkräfte“ ebenfalls durchlaufen. Bei Daimler in Berlin arbeiten rund 1600 Menschen aus 21 Nationen. Eine von ihnen ist Velena Gergova. Die 29-jährige Bulgarin studierte Betriebswirtschaftslehre, lernte Deutsch und kam vor sechs Jahren in die Produktkalkulation von Daimler. In ihrem Team arbeiten Polen, Türken, Kasachen, Deutsche und eine Reihe anderer Nationalitäten. „Ich fühlte mich gut aufgenommen“, sagt Velena Gergova. Die Chemie zwischen ihnen stimme einfach. Ein Punkt, den Jörg Butzke entscheidend findet: „Es funktioniert nicht, wenn wir nur die integrieren, die aus dem Ausland kommen. In einem Team müssen sich alle integrieren, wir müssen immer unterschiedliche Charaktere auf ein gemeinsames Ziel bringen.“ Deshalb kommt es für ihn vor allem auf eins an: die Talente und Kompetenzen jedes Menschen zu erkennen und ihn im Betrieb an die richtige Stelle zu setzen, egal, woher er kommt.
Doch Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind oder ausländische Wurzeln haben, bekommen seltener eine Chance, ihre Talente zu zeigen. Die Bildungssoziologin Sophie Krug von Nidda untersuchte, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, warum Jugendliche mit Migrationshintergrund schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Ein Ergebnis: Offenbar sprechen Betriebe Migranten häufiger ab, dass sie ins Team passen. Hürden bauen sich aber schon früher auf. Schulerfolg hängt vom finanziellen Hintergrund und den Bildungsabschlüssen der Eltern ab. Kinder mit Migrationshintergrund leben häufiger in sozial benachteiligten Familien.
Rechtliche Hürden, Vorurteile – Migranten überwinden oft viele Hindernisse und leben dennoch in Unsicherheit. Auch als fest angestellter Facharbeiter bei Siemens musste Shams Safi noch einige Zeit um seine Zukunft in Deutschland zittern. Sein Asylantrag war abgelehnt worden. Er war nur geduldet. „Wenn ich in den Nachrichten hörte, dass Afghanen abgeschoben wurden, konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen“, sagt Shams. Mithilfe eines Anwalts beantragte er einen Aufenthaltstitel aufgrund besonderer Integrationsleistungen. „Das war viel schwieriger, als es sich anhört“, sagt Betriebsrat Hellriegel. Allein um den dafür notwendigen Pass aus Afghanistan zu bekommen, fuhr Shams immer wieder zur Botschaft nach Berlin. Zehnmal wurde er nicht vorgelassen, beim elften Mal hatte er Glück. Er bekam seinen Pass, und seit Anfang Februar hat er einen Aufenthaltstitel. In gut einem Jahr kann er einen Antrag auf Einbürgerung stellen, wenn er 60 Monate in die Sozialsysteme eingezahlt hat. Der junge Mann, der mit Ausbildungsbeginn in die IG Metall eintrat, möchte in Deutschland bleiben und sagt: „Ich fühle mich gut hier.“