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Netzausbau: Energie-Lotsen im Netz

Ausgabe 11/2013

50Hertz baut derzeit die thüringische Strombrücke, die die Windenergie aus dem Norden in die Fabriken im Süden Deutschlands leiten soll. Die Netzwerker schieben ständig Strommengen hin und her, der Stress wächst – aber auch die Belegschaft. Von Annette Jensen

Ein schwarzer Samstag hat sich tief in Hans-Peter Polzers Gehirn eingebrannt: Am 4. November 2006 versank halb Westeuropa im Dunklen. Menschen blieben in Aufzügen stecken, Computer stürzten ab, Züge konnten nicht mehr weiterfahren. Zwar hatte der Ingenieur beim Stromnetzbetreiber 50Hertz am Abend des Blackouts frei, doch seine Kollegen aus der Leitzentrale berichteten ihm anschließend von der megastressigen Nacht. Nur mit allergrößter Mühe hatten sie das ostdeutsche Elektrizitätsnetz stabil halten können. Ursache des Desasters: Die Mannschaft des angrenzenden Übertragungsnetzbetreibers E.ON, heute Tennet, schaltete zwei Leitungen über der Ems ab, um einem Kreuzfahrtschiff die sichere Ausfahrt aus der Werft in Papenburg zu ermöglichen. Dabei unterschätzten die Kollegen, wie viel Kapazitäten sie in der stürmischen Nacht für den Windstrom von der Nordsee hätten einplanen müssen, und sprachen sich außerdem nicht ausreichend mit den Leuten in den anderen Steuerzentralen ab. So geriet das Netz völlig aus dem Takt – eine Kaskade von Abschaltungen war die Folge.

 „Früher konnten wir jeden Tag gut vorplanen, heute ändert sich manchmal ganz viel innerhalb von nur fünf Minuten “, sagt Hans-Peter Polzer, der seit 34 Jahren das ostdeutsche Hochspannungsnetz überwacht. Rasch lässt der Schichtleiter die Augen über die lange Monitorreihe auf seinem Schreibtisch gleiten, doch zurzeit ist alles sehr entspannt: In der Mitte jedes Versorgungsgebiets zwischen Belgien, der Schweiz und Polen prangt eine grüne Ampel. Dass die Stromhändler ihre Ein- und Verkäufe für die folgende Viertelstunde noch nicht ganz abgeschlossen haben und das entsprechende Quadrat deshalb noch rot leuchtet, ist ebenfalls völlig normal. In solchen Phasen klingelt nur selten ein Telefon in der 50Hertz-Leitzentrale, die seit ein paar Jahren „Transmission Control Centre“ (TCC) heißt und in einem sicher abgeschirmten Flachbau in Neuenhagen östlich von Berlin untergebracht ist.

 „Bei uns ist es so ähnlich wie bei der Feuerwehr: Lange Zeit ist es ruhig, und wir beobachten und kontrollieren. Die Herausforderung kommt bei Abweichungen vom Normalbetrieb“, sagt Polzer. Doch solche Situationen häufen sich, weil immer mehr Faktoren die verabredeten Pläne der Übertragungsnetzbetreiber über den Haufen werfen können. Vielleicht haben die vorhergesagten Gewitterwolken Verspätung, oder der Wind bläst stärker als erwartet. Seit der Liberalisierung 1998 mischen außerdem Hunderte von Händlern mit. Und anders als früher sind heute, da jedermann Strom produzieren kann, viele Netzanschlusskunden nicht mehr klar als Lieferanten oder Abnehmer zu identifizieren. Zwar planen 50Hertz und die anderen Übertragungsnetzbetreiber immer Sicherheitsreserven und Redundanzen ein, sodass sie einzelne Störungen ohne Probleme ausgleichen können. Doch die vielfältigen Einflüsse machen es schwer, alle Konsequenzen vorherzusehen

Weil alles so komplex geworden ist, arbeiten seit Kurzem immer vier statt drei Leute in der 50Hertz-Leitwarte, die rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr besetzt ist. Häufig müssen die Ingenieure mit den Kollegen der angrenzenden Unternehmen in Polen, Tschechien und Westdeutschland beraten, welche Leitungen sie zu- oder abschalten. Waren die Kuppelstellen zwischen den verschiedenen Hochspannungsbetreibern in alten Zeiten nur für Ausnahmesituationen gedacht, so fließen dort inzwischen ständig große Strommengen hin und her. „Manchmal wollen drei oder vier Leute gleichzeitig mit mir telefonieren“, berichtet Polzer. Auch in solchen Situationen heißt es ruhig bleiben – trotz extremer innerer Anspannung. Nur wer über gute Nerven, analytisches Vermögen und Entscheidungsfreude verfügt, kann hier arbeiten, beschreibt TCC-Chef Lutz Schulze die Anforderungen.

Gute Aussichten für die Beschäftigten

Der Aus- und Umbau der Stromnetze ist inzwischen zum entscheidenden Faktor für das Gelingen der Energiewende geworden. „Herausforderung“ ist das wohl häufigste Wort, das die Beschäftigten bei 50Hertz benutzen, wenn sie die Neuerungen beschreiben. „Kein Tag ist wie der andere“, sagt Polzer und meint das positiv. Weil die Aufgaben wachsen, wächst auch die Belegschaft. Als der schwedische Stromerzeuger Vattenfall 2010 den Netzbetrieb in Ostdeutschland und Hamburg für 810 Millionen Euro an den belgischen Konzern Elia und eine australische Fondsgesellschaft verkaufte, arbeiteten gut 600 Menschen bei 50Hertz. Inzwischen verdienen dort 850 Menschen ihr Geld.

 „Wir profitieren zweifellos von der Energiewende. Dem Unternehmen geht es gut, und die Perspektiven sind auch gut“, sagt Betriebsratschef Lutz Pscherer. Für Bau und Nutzung der Seekabel, mit denen Offshore-Windparks angeschlossen werden, wird das Unternehmen weiteres Personal anstellen müssen. Auch die Bezahlung ist ordentlich: Der von der IG BCE ausgehandelte Haustarif orientiert sich an den großen Energieerzeugern wie E.ON, RWE und Vattenfall. Ein junger Facharbeiter startet mit 2500 Euro, ein Hochschulabsolvent kann nach zwei Jahren mit über 4000 Euro rechnen. Doch die Energiewende ist auch problematisch, schiebt Betriebsrat Pscherer nach: „Wünsche und Träume müssten erst einmal mit der Realität in Einklang gebracht werden. Es wäre viel besser, wenn die Politik nicht dauernd so überstürzt handeln, sondern bedachter vorgehen würde.“

Dabei denkt der promovierte Elektroingenieur nicht nur an das Hü und Hott beim Atomausstieg. Auch der politisch gewollte Boom der Erneuerbaren hat technische Folgen, die nicht leicht zu beherrschen sind. So verfügen bisher kaum Photovoltaikanlagen über Ausschalter, weil niemand damit gerechnet hatte, wie schnell sie eine relevante Größenordnung erreichen. Außerdem sind die Erneuerbaren „launisch“, weswegen entweder Akkus oder steuerbare Kraftwerke die Lücken schließen müssen. Doch Batterien gibt es – abgesehen von einigen Pumpspeicherkraftwerken – erst im Pilotprojektstadium, und Kohlekraftwerke sind nicht nur träge, sondern können ihre Leistung auch nur um maximal 60 Prozent drosseln. Die Überschüsse ins Ausland zu verschieben sorgt ebenfalls für Ärger. So wurde die 50Hertz-Geschäftsführung bereits zum polnischen Botschafter zitiert und musste zusagen, eine Art Absperrhahn einzurichten, berichtet Pscherer.

Seit 1990 leitet er den Betriebsrat des ostdeutschen Übertragungsnetzbetreibers und hat die Belegschaft durch zahlreiche Umstrukturierungen mit hohem Personalabbau begleitet. Lange wurden alle Über-55-Jährigen in Vorruhestand geschickt, jetzt sollen allein im TCC jedes Jahr drei bis fünf junge Ingenieure an Bord geholt werden und die 50-köpfige Mannschaft ergänzen. Doch es ist nicht leicht, Nachwuchs zu finden. Damit die Älteren bis zur Rente durchhalten, will TCC-Leiter Lutz Schulze sie rechtzeitig aus dem Schichtdienst nehmen und auf andere Aufgaben vorbereiten. Auch Fortbildung wird immer bedeutsamer. So trainieren die Leute aus den Leitwarten firmenübergreifend kritische Situationen an einem nachgebauten TCC-Simulator in Cottbus. Für Hans-Peter Polzer wird es wichtiger, die Menschen persönlich einschätzen zu können, mit denen er laufend das Netz ausbalancieren muss. Wie bei Fluglotsen.

Mehr Wochenendarbeit

Ortswechsel nach Sachsen-Anhalt zu einem der 70 Umspannwerke von 50Hertz am Rande von Bad Lauchstädt. Hinter einem Zaun erstreckt sich ein mehrere Fußballfelder großes, kurz gemähtes Gelände mit langen Reihen von Sammelschienen, die an gigantische Wäscheständer erinnern. Etwas abseits stehen mehrere waggonartige Trafos, die jeweils über 300 Tonnen wiegen. An einem hat Matthias Döhr gerade eine Reparatur beendet, nun schlendert der Elektromonteur zurück zum Relaishäuschen, in dem mehrere Blechschränke untergebracht sind, legt einen Schalter um und meldet ans Regionalzentrum: Die Anlage ist wieder einsatzfähig. Wenig später wird die Nachricht auch im TCC eintreffen. Geplant werden solche Einsätze von Peter Büschmann, der für alle zwölf Umspannwerke im Regionalzentrum Südwest zuständig ist. „Wenn ich nicht im Auto sitz’, sitz’ ich am Schreibtisch“, beschreibt der 50-Jährige seinen Arbeitsplatz. Alle Umspannwerke sind heute fernüberwacht, die meiste Zeit sind die Gelände völlig menschenleer. Früher meldete Büschmann die anstehenden Wartungsarbeiten lediglich bei der Zentrale an, inzwischen muss er immer damit rechnen, dass das TCC die Anlagen nicht freigibt, weil beispielsweise Sturm angesagt ist und bestimmte Leitungen deshalb dringend gebraucht werden. Schließlich haben Windrad- und Photovoltaikanlagenbetreiber laut EEG das Recht, ihren gesamten Strom einzuspeisen. Ist das Netz nicht in der Lage, die Mengen aufzunehmen, muss 50Hertz die entgangenen Einnahmen ersetzen. Auch eine Anweisung an Vattenfall, aufgrund mangelnder Transportkapazität nicht das betriebswirtschaftlich günstigste, sondern ein anderes Kraftwerk hochzufahren, verursacht Kosten. Solche Probleme wachsen – und deshalb müssen für ihre Wartungsarbeiten Matthias Döhr und Peter Büschmann immer häufiger am Samstag oder Sonntag arbeiten, weil die Netzsituation dann entspannter ist. Schließlich ruht am Wochenende ein Großteil der Industrie.

Zeitdruck FÜr die Thüringer Stromautobahn

Schon heute wird auf dem Gebiet von 50Hertz viel mehr Strom produziert als konsumiert. Vor allem um Windstrom in die süddeutschen Industriegebiete zu bringen, errichtet der Übertragungsnetzbetreiber gegenwärtig die Südwestkuppelleitung durch den Thüringer Wald. Der Bau genießt gesetzlichen Vorrang: Schließlich soll das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld bei Schweinfurt Ende 2015 für immer abgeschaltet werden. Damit auch anschließend die Bänder in den bayerischen und baden-württembergischen Fabriken weiterlaufen, gilt die 210 Kilometer lange „Thüringer Strombrücke“ als unerlässlich. Der erste Abschnitt ist schon in Betrieb, der zweite im Bau und der dritte in Planung. Andreas Nöckel hat die Aufsicht über einen 13,2 Kilometer langen Abschnitt südlich von Erfurt, der im kommenden Sommer fertig sein soll; nachdem alle Klagen abgewiesen wurden, steht dem nichts mehr im Weg. Mit einem weißen Jeep fährt der 53-Jährige einen neu angelegten Schotterweg hinauf, der bei einem aufgeschütteten Plateau endet. „Bis vor Kurzem war das eine schöne Wiese. Ich versteh’, dass das den Leuten wehtut“, sagt der Mann, der vor 37 Jahren seine Lehre als Freileitungsmonteur beim DDR-Kombinat Verbundnetze Energie antrat. Hier, am Standort von Mast 103, gießen Arbeiter einer hessischen Firma gerade das Fundament. Sie haben runde Metallkäfige in die 23 Meter tiefen Löcher eingelassen, jetzt pladdert der Beton in einen Trichter und verschwindet in der Tiefe. Eine Woche werden sie wohl brauchen – dann kann der oberirdische Maststuhl oben draufgebaut werden. Alle 300 bis 400 Meter gibt es eine Baustelle, die Nöckel zeitweise mehrfach täglich besucht. Mancherorts werden gerade erst die Bäume gefällt, anderswo steht der Mast bereits, und junge, mit Gurten gesicherte Männer laufen behände in den Traversen herum, um die Montage der Isolatoren vorzubereiten. Auch Nöckel muss ab und zu fast 100 Meter hochsteigen, um die Arbeiten der Fremdfirmen zu kontrollieren.

Er ist auch derjenige, der mit den Grundstücksbesitzern überlegt, wo die Zufahrtswege am besten verlaufen. Während einige Kollegen von „wild gewordenen Bürgern“ sprechen und „westdeutsche Studienräte“ hinter den Klagen (gegen die Strombrücke) vermuten, hat Nöckel Verständnis, dass niemand gerne eine Grunddienstbarkeit auf sein Land eintragen lässt. „Ich glaube, es ist ganz gut, dass ich von hier komme und den gleichen Dialekt spreche wie die Leute.“ 1500 bis 2500 Euro Einmal-Entschädigung kann der Baukontrolleur in der Regel dafür anbieten, dass ein Mast auf Privatgelände errichtet werden darf und auch später erreichbar bleibt. Hinzu kommen noch Zahlungen an Bauern für den Ernteausfall.

Im kommenden Jahr wird der Planfeststellungsbeschluss für den letzten und umstrittensten Abschnitt der Thüringer Stromautobahn erwartet. Die Trasse quert den Rennsteig, Deutschlands beliebtesten Wanderweg. Das Unternehmen erwartet Klagen und damit verbunden Forderungen, die Leitungen unterirdisch zu verlegen. Zwar gibt es für gerichtliche Auseinandersetzungen aufgrund eines 2009 verabschiedeten Beschleunigungsgesetzes nur noch eine Instanz, zugleich ist die Südwestkuppelleitung als Pilotprojekt für Erdverkabelung ausgewiesen. Bürgerinitiativen wollen möglichst große Abschnitte vergraben lassen, 50Hertz allenfalls kurze Strecken. Schließlich kostet ein Kilometer Freileitung etwa eine Million Euro, während Erdkabel achtmal so teuer sind. Darüber hinaus haben die Ingenieure bei 50Hertz technische Bedenken: Das Gelände am Rennsteig ist steil und felsig. Welche Variante die Natur stärker zerstört, ist Inhalt heftiger Debatten. Auch deshalb hat 50Hertz vor eineinhalb Jahren den Arbeitsplatz von Dirk Manthey geschaffen, der als Projektkommunikator den Kontakt zu Anwohnern und Lokalpolitikern pflegen soll. Nun tingelt der PR-Experte durch die Provinz und führt ein Video vor, das einen Flug entlang der Trasse simuliert und die Perspektive manchmal auch auf Fußgängerhöhe absenkt. „Hier am Rennsteig steht ja ein dichter Wald – da sehen Sie die Masten nur auf einem ganz kurzen Stück“, macht er Überzeugungsarbeit.

Der von der Politik aufgebaute Zeitdruck ist immens: Zum einen sind die Betreiber der Hochspannungsnetze per Gesetz verpflichtet, die Übertragung von elektrischer Energie sicherzustellen und ein Gleichgewicht von Erzeugung und Verbrauch auszubalancieren. Zugleich schreibt der Atomausstiegsbeschluss verbindlich vor, dass der Meiler in Grafenrheinfeld in gut zwei Jahren vom Netz muss. So spricht alles dafür, dass die Thüringer Strombrücke gebaut wird, bevor die Richter entschieden haben – so wie es schon beim mittleren Trassenabschnitt der Fall war. Sollte die Genehmigungsbehörde anschließend die Prozesse verlieren, müsste 50Hertz alles wieder abreißen. Das aber erscheint äußerst unwahrscheinlich.

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