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Magazin Mitbestimmung

: Die skeptische Generation

Ausgabe 04/2009

JUGENDSTUDIEN Gewerkschaften genießen bei vielen Jugendlichen Vertrauen. Aber nur ein Teil will selbst Mitglied werden. Forscher erklären die Diskrepanz mit radikalen Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt.

Von Dominik Reinle, Journalist in Köln

Eine lethargische, konsumsüchtige Generation sind die Jugendlichen des Jahres 2008 nicht. Fast 80 Prozent der jungen Beschäftigten unter 30 Jahren können sich vorstellen, persönlich für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Zu diesem Ergebnis jedenfalls kommt die DGB-Jugendstudie, die Ende 2007 von der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ingrid Sehrbrock in Berlin vorgestellt wurde. Junge Arbeitnehmer, so erklärte Sehrbrock, seien weder gleichgültig, noch hätten sie resigniert: "Sie wollen sich für ihre berufliche Zukunft einsetzen."

Dass die Gewerkschaften es ernst damit meinen, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, ist der jungen Generation bewusst - und bei einem beachtlichen Teil der Generation stoßen sie dabei auf hohe Zustimmung. So gaben im Jahr 2003 beim Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) rund 38 Prozent der Jugendlichen in Westdeutschland an, "großes Vertrauen" in die Gewerkschaften zu haben. In Ostdeutschland war es nur ein Prozentpunkt weniger. Noch positiver sah die IG-Metall-Jugendstudie von 2002 die Zukunft. Sie erbrachte bei den 16- bis 27-Jährigen "keine Hinweise darauf, dass sich Jugendliche von den Gewerkschaften abwenden".

Doch allzu euphorisch darf man diese Zahlen nicht betrachten. Im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Institutionen stehen die Gewerkschaften bei den Zustimmungswerten eher im Mittelfeld: Während Gerichte und Polizei bei der Shell-Jugendstudie von 2006 den höchsten Grad an Vertrauen erreichen, ist das Verhältnis der Jugendlichen im Alter von 15 bis 25 Jahren zu den Gewerkschaften "eher gespalten, weder positiv noch negativ". Auf der Skala von sehr wenig bis sehr viel Vertrauen drückt sich diese Ambivalenz durch das Ankreuzen des Mittelwerts aus. Immerhin aber rangieren die Gewerkschaften damit - wie schon 2002 - knapp vor den Unternehmerverbänden, Kirchen und politischen Parteien.

Bestätigt wird diese Position im Mittelfeld durch die Tübinger Forschungsgruppe um den Erziehungswissenschaftler Josef Held. Eine für dieses Magazin vorgenommene Vorab-Auswertung des aktuellen Forschungsprojekts "U 35" über junge Erwachsene, die im Dienstleistungssektor arbeiten, hat im März 2009 ergeben, dass Gewerkschaften nur für 14 Prozent der befragten 25- bis 35-Jährigen "sehr wichtig" sind. Die Befragten, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, haben sich in der Mehrzahl für den Mittelwert entschieden.

SCHWIERIGE ANSPRACHE_ Die DGB-Jugendstudie von 2007 hat nicht nur festgestellt, dass junge Arbeitnehmer zu einem hohen Engagement bereit sind. Die Bereitschaft jüngerer Beschäftigten, sich für bessere Arbeitsbedingungen zu engagieren, ist sogar deutlich höher als unter älteren Beschäftigten: Während sich rund vier Fünftel der unter 30-Jährigen persönlich einsetzen wollen, sind es bei den über 30-Jährigen zwei Drittel. Doch zwischen der Absicht und der tatsächlichen Beteiligung klafft eine Lücke. Weder hohe Vertrauenswerte noch Aktivitätszusagen schlagen sich positiv in den Mitgliederzahlen der Gewerkschaften nieder. Im Gegenteil. Die Gewerkschaften haben Schwierigkeiten, ihre Mitgliederzahlen bei Jugendlichen zu konsolidieren - besonders in Ostdeutschland. Zwischen 1998 und 2006 sank die Mitgliederquote unter Jugendlichen im Westen von zehn Prozent auf acht Prozent, im Osten von 15 auf fünf Prozent.


Der Datenreport 2008 stellt "nach wie vor eine deutliche Kluft" zwischen den 18- bis 29-Jährigen und dem Durchschnitt der Bevölkerung fest: "Die Jüngeren sind deutlich seltener gewerkschaftlich organisiert", heißt es in der vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Studie. "Diese Entwicklung verläuft in Ostdeutschland kontinuierlich und rapide, in Westdeutschland ist die Lücke zwischen dem Bevölkerungsdurchschnitt und den Jüngeren nicht weiter aufgegangen."

Aber nicht nur die Anzahl der jungen Gewerkschaftsmitglieder schrumpft, auch die Aktivität dieser Mitglieder geht zurück. 1992 sind in Ost- und Westdeutschland jeweils 65 Prozent der jungen Mitglieder aktiv. 2003 übernehmen im Osten nur noch 54 Prozent, im Westen sogar lediglich 50 Prozent eine aktive Rolle. "Es sind also nicht nur weniger Mitglieder zu verzeichnen, sondern diese sind auch zu größeren Anteilen passiv", lautet das Fazit des DJI-Jugendsurveys. Aufschlussreich sind auch die Zahlen, die messen, wie hoch der Anteil der gewerkschaftlich engagierten Jugendlichen in der Gesamtbevölkerung ist. Nach den Ergebnissen der Shell-Jugendstudie von 2006 sind nur zwei Prozent aller Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren "oft oder gelegentlich" in Gewerkschaften aktiv. Die Forscher bestätigen damit den Wert, den sie bereits 2002 erfragt hatte. Die Tübinger Forschungsgruppe ermittelt 2009 in ihrem Forschungsprojekt "U 35", dass sechs Prozent der 25- bis 35-Jährigen im Dienstleistungssektor sich in ihrer Freizeit in einer Gewerkschaft engagieren.

Rund 40 Prozent der Jugendlichen sind bereit, zu streiken. Deutlich niedriger sind aber die Zahlen über die Teilnahme an einem gewerkschaftlichen Streik: Tatsächlich gestreikt hatten im Jahr 2003 im Westen 6 Prozent, im Osten 4 Prozent der gewerkschaftlich organisierten jungen Erwachsenen. Doch gerade die Mobilisierungserfahrung, das gemeinsame Erlebnis, motiviert auch Jugendliche, sich zu engagieren.

VERÄNDERTE STRUKTUREN_ Der Vergleich mit traditionellen gesellschaftlichen Organisationen, Vereinen und Verbänden relativiert die prekäre Nachwuchslage der Gewerkschaften nur zum Teil. Denn seit den 1990er Jahren sind Mitgliedschaften und aktive Betätigung insgesamt gesehen stabil: "Nach wie vor wird etwa jeder zweite junge Mensch durch solche Organisationen erreicht und betätigt sich innerhalb ihrer Strukturen", schreiben DJI-Wissenschaftler in einem 2006 veröffentlichten Aufsatz. "Nur bei Gewerkschaften und Parteien ist ein Verlust von Mitgliedern festzustellen." Von einer grundsätzlichen Beteiligungsverweigerung junger Menschen könne keine Rede sein.

Die DJI-Wissenschaftler warnen jedoch auch vor voreiligen Schlüssen: Der "Rückgang der Bereitschaft zur Teilnahme an einem gewerkschaftlichen Streik sollte jedoch ebenso wie der Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht als Mangel an Einsicht und Motivation interpretiert werden, sondern muss im Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt gesehen werden". Durch den Strukturwandel fallen Normalarbeitsplätze weg, Ausbildungsplätze werden weniger, Arbeitslosigkeit, Zeitverträge, Pseudo-Praktikumsstellen nehmen zu, und soziokulturelle Milieus der Arbeiterschicht verschwinden. "Ein Weg ins Erwerbsleben, der auch gewerkschaftsbezogen sozialisiert, ist eher die Ausnahme geworden", so die DJI-Forscher. Faktoren, die es den Jugendlichen erschweren, Gewerkschaftsarbeit attraktiv zu finden, seien "individualistische Lebenspläne, flexibilisierte Berufsverläufe, fragmentierte Betriebserfahrungen und schwer durchschaubare globalisierte Firmenstrukturen".

Die Vereinzelung junger Erwachsener drückt sich offenbar auch in ihrem Umgang mit Konflikten aus. Auf die Frage, was sie für sinnvoll halten, um ihre beruflichen Interessen durchzusetzen, bekam die Tübinger Forschungsgruppe 2009 entsprechende Antworten. 25- bis 35-Jährige halten demnach "individuelle Lösungen" für am sinnvollsten. Erst an zweiter Stelle wird von ihnen "gewerkschaftliche Arbeit" genannt. An letzter Stelle stehen "spontane Protestformen". Auch bei Problemlösungen hat die individuelle Perspektive eine Mehrheit: 47 Prozent geben an, für sich alleine eine Lösung finden zu wollen. Immerhin versuchen aber auch 40 Prozent, zusammen mit anderen etwas zu erreichen. "Nicht sehr ermutigend" findet der Tübinger Professor Held die Antworten auf die Frage nach der Wichtigkeit von Arbeitsmerkmalen. An erster Stelle steht ein "gutes Betriebsklima", erst auf dem sechsten und letzten Platz landet "mehr Mitbestimmung". "Die jungen Erwachsenen sind offenbar mehr an einem harmonischen Miteinander interessiert als an der Durchsetzung eigener Interessen", kommentiert Held.

In ihren Diagnosen stimmen die aktuellen Jugendstudien grundsätzlich überein: Den Gewerkschaften fällt es nicht leicht, trotz Vertrauensvorschuss und Handlungsbereitschaft neue Mitglieder zu gewinnen und zu mobilisieren. Die Wissenschafter geben aber auch einige Anregungen, woran sich die Gewerkschaften bei der Lösung der Nachwuchsfrage orientieren können. So hält die Shell Jugendstudie von 2006 "die wichtigste Voraussetzung" für jugendliches Engagement fest: Für 15- bis 25-Jährige setzt das Mitmachen in einer Interessengruppe, wie es Gewerkschaften sind, voraus, dass sie "sich auch persönlich zugehörig" fühlen.

Dieses Engagement müsse deshalb mit einem persönlich fassbaren Nutzen verbunden sein. "Möglich wird das in der Regel dann, wenn den Jugendlichen im Rahmen ihres Engagements eigene Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten geboten werden", so die Shell-Studie. "Entscheidungsprozesse in Organisationen müssen nicht nur möglichst transparent, sondern von Jugendlichen auch aktiv beeinflusst werden können." Auch die IG-Metall-Jugendstudie hob 2002 hervor, dass Jugendliche aktiv sind, wenn sie "für sich einen eindeutigen Gewinn in irgendeiner Form erkennen". Das sei "die unbedingte Voraussetzung für ihr Engagement." Wer junge Erwachsene an Planung, Entscheidung und praktischer Arbeit teilhaben lasse, ermögliche eine bessere Identifikation mit der Institution. Die Autoren des DJI-Jugendsurveys kommen 2006 ebenfalls zum Schluss: "Mädchen und Jungen, junge Frauen und junge Männer brauchen Anregung, Kompetenzen und Strukturen, in denen sie ihr Engagement wirkungsvoll einbringen können."

Mehr Informationen

Klaus Hurrelmann/Mathias Albert/TNS Infratest ­Sozialforschung: 15. SHELL JUGENDSTUDIE.
Frankfurt/M., Fischer 2006, 14,95 Euro

Martina Gille/Sabine Sardei-Biermann/Wolfgang Gaiser/Johann de Rijke: JUGENDSURVEY 3.
Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland - Lebensverhältnisse, Werte und gesellschaftliche
Beteiligung 12- bis 29-Jähriger. Schriften des Deutschen Jugendinstituts, Wiesbaden, VS Verlag 2006, 34,90 Euro

Wolfgang Gaiser/Martina Gille/Johann de Rijke: Beteiligung von Jugendlichen in Organisationen und der Stellenwert von Kirchen
und Gewerkschaften. In: Ulrich von Alemann/Martin Morlok/Thelse Godewert (Hrsg.): Jugend
und Politik. Baden-Baden, Nomos 2006, 34 Euro

Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck im Dienst­leistungsbereich. Das "U 35"-Projekt der ­Tübinger Forschungsgruppe von 2009, kann unter www.tuebinger-forschungsgruppe.de/35.html heruntergeladen werden.

Das Statistische Bundesamt stellt den Datenreport 2008 - Der Sozialbericht für Deutschland als Download unter http://www.destatis.de/ zur Verfügung. Die Buchausgabe ist gegen Versandkosten über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.

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