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Polnische Arbeiter sind dabei, den Rostschutz an einem Strommast zu erneuern. Magazin Mitbestimmung

Von ANNETTE JENSEN: "Die Entsendung wird missbraucht, um den Mindestlohn zu umgehen"

Ausgabe 05/2018

Wissen Mit vielfältigen Tricks prellen osteuropäische Firmen ihre Beschäftigten. Doch die meisten Kontrollen laufen ins Leere.

Von ANNETTE JENSEN

Immer mehr Menschen in der EU werden von ihrem Arbeitgeber in ein anderes Mitgliedsland entsandt. 2016 stellten die Behörden 1,6 Millionen A1-Bescheinigungen aus, die offiziell bestätigen, dass die Beschäftigten in der Heimat sozialversichert sind. Was ursprünglich als Instrument für gelegentliche Auslandseinsätze gedacht war, hat sich in einigen Branchen zum Massenphänomen entwickelt – besonders in Deutschland. 400 000 Entsandte gab es hier 2016 und damit 20-mal so viele wie 2005.

„Die Entsendung wird systematisch missbraucht, um den Mindestlohn zu umgehen“, sagt Szabolcs Sepsi. Der Mann mit rumänischem Pass und ungarischem Studium berät seit fünf Jahren osteuropäische Beschäftigte im Rahmen des DGB-Projekts „Faire Mobilität“, das aus Bundesmitteln finanziert wird und inzwischen acht Büros in ganz Deutschland betreibt. Häufig besitzen die entsendenden Firmen in der Heimat lediglich einen Briefkasten und sind vollständig darauf ausgerichtet, dass ihre gesamte Belegschaft in Deutschland arbeitet.

Sie bezahlen den Beschäftigten den Mindestlohn ihres offiziellen Geschäftssitzes – das sind in Polen knapp 500 Euro brutto und in Rumänien etwa 400 Euro brutto – und entrichten darauf auch Steuern und Abgaben. Die Differenz zum deutschen Niveau deklarieren sie auf dem Lohnzettel als Spesen.

Kommt ein Trupp der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls vorbei und überprüft die Papiere, gibt es keine Probleme. Auch bei der deutschen Berufsgenossenschaft sind die Leute angemeldet und haben unterschrieben, eine Sicherheitsunterweisung bekommen zu haben. Erleidet jemand einen schweren Arbeitsunfall, steht die Sozialversicherung des Heimatlandes in der Pflicht.

Deutscher Mindestlohn wird systematisch durch Tricks ausgehebelt

Die durchzusetzen ist allerdings äußerst schwierig, und so landen die oft hohen Rechnungen im Briefkasten des Unfallopfers selbst. „Ohne intensive Beratung und Rechtsbeistand sind solche Fälle für Betroffene so gut wie unlösbar“, sagt Sepsi und berichtet von einem Mann, der lebenslänglich arbeitsunfähig ist und keinerlei Rente bekommt, so lange die juristische Auseinandersetzung läuft.

Auch durch eine Verlängerung der Arbeitszeit oder Sonderkosten hebeln Unternehmen den deutschen Mindestlohn aus. Die Methoden sind vielfältig: Unbezahlte Überstunden gehören ebenso dazu wie Abzüge für Arbeitskleidung und Werkzeuge. Häufig sind Kost und Logis auch völlig überteuert, manchmal sind Arbeitgeber und Vermieter identisch.

Bernadett Petö, die wie Sepsi im Dortmunder Büro von Faire Mobilität arbeitet, berichtet von einer Gruppe Ungarn: Über 60 Stunden pro Woche schuften die etwa 100 Männer in einer deutschen Lackiererei. Seit fünf Jahren haben sie keinen bezahlten Urlaub gehabt, weil ihr Arbeitgeber sie in den Sommerferien und über Weihnachten regelmäßig von der Sozialversicherung abmeldet. Auch kassiert er täglich Geld für die Fahrt zur 30 bis 40 Kilometer entfernten Massenunterkunft.

Zwar hat sich ein Beschäftigter bei Petö in der Beratungsstelle gemeldet – doch aus der Deckung kommen will er nicht: Der Mann fürchtet um seine Existenzgrundlage. Beim Schichtwechsel haben Petö und ihre Mitstreiter Flyer verteilt und ihre Hilfe angeboten; bisher aber hat sich niemand gemeldet.

Ruxandra Empen aus dem Berliner Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte des DGB kann verstehen, dass unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nur wenige Betroffene auspacken. „Der Zoll ist eine Kontrollbehörde, die das öffentliche Interesse vertritt – nicht das der Beschäftigten. Die Entsandten sind eine besonders verletzliche Gruppe. Sie sehen keinen Vorteil für sich darin, als Zeugen aufzutreten.“

Wer sich doch dazu durchringt, darf nicht einmal damit rechnen, später eine Rückmeldung über den weiteren Verlauf des Verfahrens zu bekommen. Hinzu kommt, dass der Zoll und die dort angesiedelte Finanzkontrolle Schwarzarbeit seit Jahren unterbesetzt ist und die Zahl der Arbeitgeberüberprüfungen immer weiter abgenommen hat.

Abhilfe schaffen könnte nicht nur eine Aufstockung des Personals in der Behörde, sondern auch eine Verpflichtung zu mehr Transparenz. Müssten Arbeitgeber die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten dokumentieren und ihnen die Listen aushändigen, würde das Schummeln deutlich riskanter – auch weil die Beobachtung durch Wettbewerber und Gewerkschaften dann einfacher wäre.

Bisher jedoch verbessern nicht einmal erfolgreiche Individualklagen die Lage in einem Betrieb, wie ein Fall aus der Fleischindustrie belegt. Etwa 3500 Menschen arbeiten in Rheda-Wiedenbrück über Subunternehmen auf dem Gelände der Tönnies Lebensmittel GmbH in der Produktion. Sie bekommen kein Geld für die Zeiten zum Umziehen, um ihren Arbeitsplatz am Fließband zu erreichen und die Messer zu schärfen – immerhin gut eine halbe Stunde am Tag.

Weil das deutschem Arbeitsrecht widerspricht, klagten einige Betroffene. Nach einem jahrelangen Verfahren zahlte das Werkvertragsunternehmen ihnen schließlich den Lohn für die Monate nach, die sie als Beispiele dokumentiert hatten – und verhinderte so ein rechtskräftiges Urteil. An der Alltagspraxis der Kläger und ihrer Kollegen änderte sich nichts.

Gewerkschaften fordern seit langem staatliche Arbeitsinspektionen, die die Sachlage umfassend recherchieren und nicht immer nur Einzelaspekte wie Arbeitssicherheit, Sozialversicherungsschutz oder die Abführung von Steuern und Sozialabgaben überprüfen. Bisher sind diese Kompetenzen völlig zersplittert, und so versickern die Kontrollergebnisse häufig zwischen den Behörden und Ländern.

Der Arbeitsrechtsexperte Jan Cremers von der Tilburg University in den Niederlanden bringt die Lage auf den Punkt: Während die europaweite Zusammenarbeit beispielsweise bei Rückrufaktionen von vergifteter Zahnpasta gut funktioniert, sieht es beim Verbot dubioser Geschäftsbetriebe düster aus. So kann eine Firma, die von den Behörden in einem EU-Land geschlossen wurde, in einem anderen EU-Land am nächsten Tag wieder eröffnen.

Französische und belgische Behörden kritischer als deutsche

Hinzu kommt, dass die zuständigen Ämter in Osteuropa gar kein Interesse daran haben, etwas zu ändern, erfuhr Sepsi bei einer Recherchereise nach Rumänien. Inoffiziell, aber unverblümt teilte ihm eine Mitarbeiterin in der Rentenbehörde mit, dass sie einmal erteilte A1-Bescheinigungen nur selten aberkenne. Zum einen entlasten die Entsandten die rumänische Arbeitslosenstatistik. Vor allem aber fließen die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge der im Ausland arbeitenden Landsleute in die rumänischen Kassen. Zugleich berichten osteuropäische Beamte aber auch, dass sie aus Deutschland nur wenige A1-Beanstandungen erhalten, während französische und belgische Behörden wesentlich häufiger nachhaken oder protestieren.

Die Gewerkschaften sind sich einig, dass den Missständen nur durch ein Verbandsklagerecht beizukommen ist. Unterstützung kommt nicht nur von den Bündnisgrünen, sondern auch von der SPD – deren Koalitionspartner CDU und CSU jedoch einen entsprechenden Vorstoß verhindern. Immerhin hat auch die EU-Kommission die Notwendigkeit erkannt, die bisher zersplitterten Kompetenzen zu bündeln und die Kontrollen zu koordinieren.

Mitte März veröffentlichte sie ihren Vorschlag zur Errichtung einer europäischen Arbeitsbehörde (ELA). Das ist zwar ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Doch was geschieht, wenn Entscheidungen der ELA nicht respektiert werden, steht nicht im Entwurf.

Auch will die EU-Kommission ausgerechnet das hochproblematische Transportgewerbe ausnehmen, obwohl ein Drittel der Mautkilometer in Deutschland inzwischen von osteuropäischen Speditionen abgefahren werden. Und weitere Verwässerungen sind wahrscheinlich, weil insbesondere aus osteuropäischen Ländern mit Widerstand zu rechnen ist.

Sie argumentieren, dass es sich beim Arbeitsrecht um Sozialpolitik handelt und die EU deshalb gar nicht zuständig sei. Dagegen vertreten Befürworter strengerer Regeln die Position, dass hier Folgen des Binnenmarktes reguliert werden müssen.

Aufmacherfoto: picture alliance / Frank May

 

WEITERE INFORMATIONEN

Kongress: Arbeitnehmerrechte über Grenzen hinweg sichern

Mit der Dienstleistungsfreiheit in der EU hat auch die Auftragsvergabe an Subunternehmen aus anderen Mitgliedsländern zugenommen. Wie können Arbeitnehmerrechte über Grenzen hinweg gesichert werden? Dieser Frage ging ein Kongress nach, den das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) und das DGB Bildungswerk am 18. April in Berlin veranstalteten. Nach Erfahrungsberichten aus der Beratungspraxis kamen auch Wissenschaftlerinnen sowie Vertreter einer Arbeitsschutzbehörde, einer Berufsgenossenschaft und der EU zu Wort. Trotz großer Bemühungen der Veranstalter war es nicht gelungen, jemanden vom Zoll aufs Podium zu bekommen.

In der Schlussrunde diskutierten Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand und WSI-Direktorin Anke Hassel mit Bundestagsabgeordneten. Im Gegensatz zu allen anderen bezweifelte Wilfried Oellers von der CDU die Notwendigkeit einer europäischen Arbeitsschutzbehörde und plädierte dafür, dass Opfer von Arbeitsrechtsverstößen juristisch selbst dagegen vorgehen sollten – ein Weg, den Praktiker zuvor anhand zahlreicher Beispiele als unrealistisch dargestellt hatten.

Dokumentation der Tagung

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