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Magazin Mitbestimmung

: 'Sozialismus, warum denn nicht?'

Ausgabe 01+02/2009

INTERVIEW Der Industriesoziologe Burkart Lutz macht sich Gedanken über die Gesellschaft, in der wir gerne leben wollen, und warum darüber so wenig diskutiert wird.

Das Gespräch führten Margarete Hasel, Redakteurin der Mitbestimmung, und Herbert Hönigsberger, Politikberater und Publizist in Berlin.


Sie beschäftigen sich seit mehr als 50 Jahren mit dem Aufbau einer besseren Gesellschaft. Sind Sie nun enttäuscht, desillusioniert oder durch die aktuelle Krise neu motiviert?
Ich bin eigentlich nicht enttäuscht. Ich hatte immer tiefes Vertrauen in die Intelligenz der Menschheit. Das hat sich bis heute gehalten, obwohl mir in der letzten Zeit auch Zweifel kommen. Ich frage mich allerdings, ob die nicht altersbedingt sind.

Schon 1984 haben Sie das Ende eines kurzen Traums immerwährender Prosperität verkündet. Diese Weitsicht hat Ihnen große Anerkennung eingetragen. Wie fühlt man sich als Kassandra?
Für einen Soziologen, der es gewagt hat, eine ziemlich konkrete Prognose zu formulieren, ist es erfreulich, wenn sich seine Vorhersage als realistisch erweist. Ich war immer davon überzeugt und bin es heute mehr denn je, dass wir uns in einer Situation wachsender Krisenanfälligkeit befinden. Ich war immer der Meinung, dass die Ablösung der Finanzökonomie von der realen Ökonomie etwas hochgradig Ungesundes ist. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, was jetzt über uns hereinbricht.

Worin bestand der kurze Traum?
Dass ein hoch entwickelter Wohlfahrtsstaat keineswegs das Wirtschaftswachstum behindert, sondern unter bestimmten Bedingungen eine mächtige Dynamik freisetzen kann. Der Traum ist freilich nur kurz, da genau diese Dynamik ihre eigenen Wachstumsvoraussetzungen zerstört.

Wie das?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten auch die hoch entwickelten Gesellschaften noch eine ausgeprägt duale Struktur. Einer modernen, städtischen, marktwirtschaftlich-bürokratisch geordneten Welt mit hohem Lebensniveau stand eine immer noch gewichtige traditionelle Welt gegenüber. Dort dominierten Familienbetriebe, die wirtschaftlichen Aktivitäten waren lokal oder regional beschränkt. Landwirtschaft, Einzelhandel und Handwerk waren noch tief in vorindustriellen Verhältnissen, Strukturen und Verhaltensmustern verwurzelt. Dieser Dualismus erzeugte lange Zeit einen starken Druck auf die Löhne, der das Wachstum blockierte, weil im traditionellen Wirtschaftssektor eine große Zahl von Arbeitskräften heranwuchs, die zu Hause nicht gebraucht wurden und deshalb um jeden Preis Arbeit annehmen mussten.

Wie wurde die Blockade aufgebrochen?
Die große Entdeckung der Nachkriegszeit war der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus. Ein leistungsfähiger Wohlfahrtsstaat machte es möglich, steigende Löhne und wachsenden Massenwohlstand mit einer blühenden marktwirtschaftlichen Ökonomie zu vereinbaren. Der Preis war allerdings hoch. Das wohlfahrtskapitalistische Wachstum vernichtete innerhalb von drei Jahrzehnten den Großteil der traditionellen Wirtschafts- und Lebensformen. Familienbetriebe verloren ihre zentrale Bedeutung, Landwirtschaft, Handel und Handwerk wurden industrialisiert und in internationale Austauschbeziehungen integriert.

War es denn tatsächlich nur ein kurzer Traum? Dass es - wenn auch nur Schritt für Schritt - weiter aufwärtsgeht, ist doch immer noch ein Bild von ungeheurer Suggestivität.
Ich habe nie gesagt, dass wir binnen Kurzem mit einer existenzbedrohenden Krise rechnen müssen, sondern nur, dass die Prosperität der Nachkriegsjahrzehnte zu Ende geht, ihre Dynamik verliert und langsam ausläuft. Ich habe auch kein Datum vorhergesagt. Aber ich habe eine Entwicklung prognostiziert, die zunehmend anfällig wird für Krisen. Das wird gegenwärtig auf ziemlich unangenehme Weise bestätigt.

Eine Konstellation zerbröselt, unter der es lange gut gegangen ist. Was kommt danach?
Wir sollten mit langen Zeiträumen rechnen, bis ein neues Prosperitätsregime wenigstens in Grundzügen sichtbar wird. Erst dann kann man hoffen, dass es realitätsprägend wird. Die bisherige Wachstumskonstellation ist noch nicht ganz zum Stillstand gekommen, wenngleich sie immer stärker ins Stocken gerät. Aber die Frage, wohin wir denn eigentlich wollen, stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit.

Ja, wohin?
Die neue Prosperitätskonstellation wird keine Wachstumskonstellation im traditionellen Sinn mehr sein. Die wichtigen Orientierungen des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens werden auf anderen Ebenen als der Ebene materiellen Wohlstandes liegen. Welche Mechanismen wir benötigen, um den Auszug aus einer Epoche zu gestalten, in der materielles Wachstum zentraler Motor der Entwicklung und Garant sozialer Integration war, weiß heute niemand.

Aber irgendjemand muss doch mehr wissen?
In Deutschland gibt es nur wenige Orte, an denen kluge Leute ernsthaft über wichtige Probleme unserer Zukunft nachdenken können. In den USA sehe ich in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften seit einiger Zeit interessante Entwicklungen, die vermutlich in der Obama-Präsidentschaft auch die Politik beeinflussen werden. Insgesamt vertrauen wir noch zu sehr auf die alten Rezepte und glauben, man könne zu früheren Wachstumskonstellationen zurückkehren. Heute müssten wir mit Leidenschaft und Klugheit darüber diskutieren, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die unsere Existenzgrundlage sichert und in der wir gerne leben wollen. Aber die allgemeine Stimmung, die öffentliche Meinung, die Politik, die kurzsichtig unter Termindruck handelt, und die Manager, die sich weigern, über das nächste Quartal hinaus zu denken: Dies alles besorgt mich zutiefst.

Haben wir denn noch Zeit?
Das wohlfahrtsstaatliche System in Europa brauchte, bevor es nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Stil greifen konnte, ein halbes Jahrhundert des Vorausdenkens und des Experimentierens. Leichter werden auch der Entwurf, die schrittweise Erprobung und schließlich die großräumige Implementation einer neuen Prosperitätskonstellation nicht zu haben sein.

Trotzdem, hier und heute: Worauf läuft das neue Prosperitätsregime hinaus?
Die großen Herausforderungen sind bekannt: Das physische Überleben der Menschheit ist nicht gesichert. Die biologische Reproduktion bedarf dringend der gesellschaftlichen Steuerung und des gesellschaftlichen Konsens: Soll die Bevölkerung wachsen oder schrumpfen? Der demografische Wandel läutet offenkundig einen neuen Abschnitt der Menschheitsgeschichte ein. Wir müssen die Familie ebenso neu definieren wie unseren Umgang mit dem Alter. Und wir müssen das ganze Bildungssystem von Grund auf neu durchdenken. Unser Lebensstil kann nicht auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Wie soll der künftige Wohlstand der Milliarden armer Menschen aussehen - ein Wohlstand, der Zufriedenheit ermöglicht, ohne kostbare Ressourcen zu verschleudern? All diese Fragen erfordern schwierige Entscheidungen, die aber drängen, wenn wir nicht an die Grenzen stoßen wollen, deren Überschreitung das Überleben der Menschheit gefährdet.

Irgendwer verliert bei solchen Entscheidungen immer. Wer ist es beim nächsten Anlauf?
Das kann man nicht beantworten. Man kann nur sagen, wer gewinnen soll: nämlich möglichst viele. Ein neues Prosperitätsregime muss bei der Lösung der genannten Aufgaben zwei Zielen dienen: die Wahlfreiheit für möglichst viele Menschen massiv erhöhen und die Zahl der Opfer so gering wie möglich halten. Jeder Strukturwandel muss sich an diesen beiden Prinzipien messen lassen. Das erfordert eine erhebliche Ausweitung des Volumens der Wohlfahrtsleistungen. Vor allem sollen die Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen. Dazu wird es entscheidend darauf ankommen, Gleichberechtigung mit großer Vielfalt der Chancen zu vereinen. Dies wird nicht ohne neue Regeln und Institutionen möglich sein.

Dazu brauchen wir die Politik.
Lösungen gibt es nur, wenn Politik eine zentrale, aktive Rolle übernimmt - wie dies nun in den USA versucht wird. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir die Politik, die eigentlich nach vorne denken sollte, in eine gigantische Veranstaltung zur Verteidigung und Bewahrung von Strukturen verwandelt, die früher einmal vernünftig waren. Wir brauchen eine Neuentdeckung, eine Erneuerung der Politik. Das ist eine riesige Aufgabe.

Worauf kommt es dabei an?
Wir müssen wieder lernen, ganzheitlich zu denken. Ein neues Prosperitätsregime braucht neue Ziele und Instrumente. Es bedarf grundlegender Reformen von Regeln und Strukturen, die tief in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen verwurzelt sind. Man kann also nicht von heute auf morgen völlig neu beginnen. Hektik würde unser Handlungspotenzial eher einschränken als erweitern. Lösungen von Dauer können auch nicht ohne Beteiligung der Betroffenen funktionieren. Und es wird keine Politik aus einem Guss geben, sondern pragmatische Lösungen mittlerer Reichweite und viele punktuelle Lerneffekte. Neues wird kleinteilig, durch Versuch und Irrtum und zunächst mit begrenztem Ausstrahlungseffekt entstehen. Aber je mehr es gelingt, Elemente und Mechanismen einer neuen Prosperitätskonstellation in die Welt zu rufen, desto mehr Alternativen werden wir entdecken. Und wir brauchen einen reichen Fundus an Alternativen, die bereits kritisch überprüft und praktisch erprobt sind. Freilich müssen sich die Innovationen zuerst in den Köpfen vollziehen.

Derzeit agiert die Politik eher hektisch und konventionell.
Politischer Handlungsdruck tritt meist unvorhergesehen auf und lässt nur wenig Zeit zum Nachdenken. Dann bleibt nur die Möglichkeit, auf bereits Bekanntes und Vertrautes zurückzugreifen. Die schlechteste Politik ist die des Nicht-Handelns. Die Frage darf nicht mehr sein: "Geht das überhaupt?" sondern sie muss lauten: "Geht das rechtzeitig und schnell genug?" In der Vergangenheit haben wir es in Notstandsfällen einige Male geschafft, sehr schnell das notwendige Bewusstsein zu erzeugen.

Haben Sie ein ermutigendes Beispiel?
Die Weimarer Republik hat sozialpolitisch einige unglaublich großartige Dinge begonnen und einiges auch tatsächlich geleistet. Noch 1925 gab es für Arbeitslose nichts außer gewerkschaftlichen Unterstützungskassen und der Wohlfahrt. Innerhalb von drei Jahren hat das Reichsarbeitsministerium zusammen mit den Sozialpartnern mit großer Kühnheit und in hohem Tempo das komplexe System der Arbeitslosenversicherung in die Welt gesetzt. Die Lernfähigkeit der Politik ist nicht zu niedrig anzusetzen.

Was bleibt auf dem langen Marsch ins neue Prosperitätsregime von sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Konzepten?
Sozialdemokratie und Gewerkschaften stehen, wie die Gesellschaft als Ganzes, vor einer tief greifenden Neuorientierung. Wir erleben den Zerfall alter Strukturen, die jahrzehntelang hervorragend funktioniert haben, aber noch nicht die Entstehung neuer. Elemente des sozialdemokratischen Prosperitätsregimes werden sicherlich überleben. Was von den Gewerkschaften bleibt, hängt davon ab, wie gut und fantasievoll sie die Aufgaben lösen, die ihnen verbleiben und sich ihnen neu stellen. Denn wir werden in vielen Lebensbereichen mehr Präsenz gewerkschaftlicher Ideen und Leistungen brauchen. Die Zukunft der Gewerkschaften hängt deshalb vor allem davon ab, ob sie fähig sind, neue Handlungsfelder zu erschließen und neue Formen der Präsenz zu entwickeln.

Und was bleibt vom Kapitalismus übrig?
Vieles, was uns vertraut ist, wird in der einen oder anderen Form überdauern. Elemente wie Marktsteuerung und Privateigentum an Produktionsmitteln und der Zusammenhang zwischen Eigentum und Einfluss werden nicht völlig verschwinden, aber sie werden an Bedeutung verlieren. Neue Prosperitätskonstellationen sind ja nicht bloße Varianten des Bisherigen, sondern setzen andere Steuerungsparameter, Einflussgrößen, Dringlichkeiten und Formen des Austausches voraus. Dass wir bereits ein ganzes Stück auf dem Weg in eine neue Prosperitätskonstellation zurückgelegt haben, merken wir vielleicht erst mit großer Verspätung, weil sich die Perspektiven, Denkformen und Handlungsweisen nur langsam ändern.

Und wie sollen wir das Ganze nennen?
Das kann man Sozialismus nennen, warum denn nicht?


zur Person
BURKART LUTZ, 83, beschäftigt sich seit über 50 Jahren als Industriesoziologe mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis - und hat darüber seinen menschenfreundlichen Optimismus nicht verloren. Zu seinen ersten Auftraggebern zählte Anfang der 50er Jahre das Wirtschaftswissenschaftliche Institut (WWI) des DGB in Köln, das Vorgängerinstitut des heutigen WSI in der Hans-Böckler-Stiftung. Auf dem Soziologiekongress im vergangenen Herbst wurde Lutz mit dem "Preis für ein herausragendes wissenschaftliches Lebenswerk" geehrt. Einen prominenten Platz in diesem Lebenswerk nimmt die 1984 erschienene Gesellschaftsanalyse "Der kurze Traum immerwährender Prosperität" ein. Sie erweist sich, so der Göttinger Soziologe Michael Schumann in der Laudatio,
"im Lichte der aktuellen Entwicklungen als eine der wenigen polit-ökonomischen, soziologischen Zeitdiagnosen unserer Zunft mit prognostischem Wahrheitsanspruch und Realitätsgehalt." Wichtiger Teil dieses Lebenswerkes sind auch die Gründung und langjährige Leitung des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München sowie des Zentrums für Sozialforschung Halle (ZSH).

Zitate
"Insgesamt vertrauen wir noch zu sehr auf die alten Rezepte."

"Es wird entscheidend darauf ankommen, Gleichberechtigung mit großer Vielfalt der Chancen zu vereinen."

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