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Agenda 2010 Service aktuell

Interview mit Bettina Kohlrausch: Agenda 2010: Zweifelhafte Wirkung - hohe soziale Kosten

Als Gerhard Schröder am 14.3.2003 seine Rede zur „Agenda 2010“ hielt, ahnten wohl nur die wenigsten, wie umstritten die Reformen auch 20 Jahre später bleiben würden. WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch über die Folgen der Hartz-Gesetze.

Die Agenda-Reformen werden oft für den deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren verantwortlich gemacht. Stimmt das eigentlich? 

Bettina Kohlrausch: Da machen es sich viele konservative Kommentatoren sehr einfach, die den gesamten Rückgang der Arbeitslosigkeit allein den Agenda-Reformen zuschreiben wollen. Richtig ist: Durch die zusätzlichen Qualifizierungsangebote konnten Arbeitssuchende tatsächlich in Arbeit gebracht werden. Doch eine Erleichterung des Zugangs zu Qualifikationen – dafür hätte es den massiven Abbau an sozialer Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht. Es spricht vieles dafür, dass vor allem die gute konjunkturelle Entwicklung seit Mitte der Nullerjahre zu einer Verringerung der Arbeitslosigkeit geführt hat. Die hätte auch ohne die Deregulierung des Arbeitsmarkts und ohne den großen Niedriglohnsektor, der durch Hartz IV entstanden ist, ihre Wirkung gezeigt.  

Der Ökonom Tom Krebs hat den Effekt von Hartz IV auf die strukturelle Arbeitslosigkeit errechnet: Demnach gehen nur 0,5 Prozentpunkte weniger Arbeitslose auf den gestiegenen Druck durch das Hartz-System zurück. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Klaus Wälde von der Uni Mainz. Auch weitere Studien attestierten nur sehr begrenze Effekte, unter anderem von Peter Bofinger oder aus dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung.

  • Schlaglicht zur Gleichstellung Bettina Kohlrausch
    Prof. Dr. Bettina Kohlrausch ist die Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.

Welche sozialen Auswirkungen hatten die Reformen? 

Kohlrausch: “Any job is better than no job” – das war immer das Kernargument der Befürworter*innen der Reformen. Aber stimmt das eigentlich? Große Teile der entstandenen Arbeitsmarktsegmente sind dysfunktional, geprägt von zu niedrigen Löhnen und Unsicherheit. Etwa im Bereich der Leiharbeit oder Minijobs. Insbesondere letztere waren und sind für die Beschäftigten – oft sind es übrigens Frauen – keineswegs Sprungbretter in bessere Vollzeitjobs. Im Gegenteil: Aus vernünftigen Jobs wurden kurzerhand solche atypischen Arbeitsverhältnisse gemacht, die dann von den Arbeitssuchenden angenommen werden mussten und die oftmals für die Betroffenen eine Sackgasse darstellten und in mangelnde soziale Absicherung und Altersarmut führten. 

Auch ein Blick auf die Position der Beschäftigten und ihre Interessensvertreter, die Gewerkschaften, zeigt eine Reihe problematischer Folgen: Mit der Leiharbeit hat sich etwa die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften abgeschwächt. Damit einher gingen auch ein Abbau des Schutzes von Erwerbsarbeit und schwindende Verhandlungsmacht. Die Folge war die Entstehung eines riesigen Niedriglohnsektors mit allen negativen Folgen. So beobachten wir in diesem Zeitraum auch einen Anstieg der relativen Einkommensarmut. Hier waren die Einführung des Mindestlohns und seine Erhöhung auf 12 Euro wichtige Schritte, um gegenzusteuern – eine positive Entwicklung, die jedoch nun durch die hohe Inflation wieder infrage steht. Insgesamt haben wir einen Anstieg der Einkommensarmut beobachten müssen, auch die Einkommensungleichheit ist deutlich höher als noch in den 1990er Jahren - verteilungspolitisch ist das natürlich hochproblematisch.  

Die Angst vor Hartz IV und damit dem sozialen Abstieg in Armut war eine prägende Erfahrung für viele Beschäftigte. Welche Folgen hatte das, auch politisch? 

Kohlrausch: Arbeitssuchende wurden um jeden Preis in Jobs gebracht, auf Kosten von Sicherheit, Perspektiven, Selbstbestimmung und Mitbestimmungsmöglichkeiten und letztlich oft auch sozialer Anerkennung. Das hatte auch Auswirkungen auf diejenigen, die nicht direkt von Arbeitslosigkeit oder Hartz IV betroffen waren. Wir beobachten in unseren Studien schon länger einen Rückgang der Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, der sich durch geringe Arbeitslosigkeit erklären lässt. Gleichzeitig sind die Sorgen um die eigene finanzielle Situation und vor allem die langfristige Sorge um die finanzielle Absicherung im Alter kaum zurückgegangen. Es hat also eine Entkopplung lang- und kurzfristiger finanzieller Sorgen von den Sorgen um den Job-Verlust stattgefunden. Ich interpretiere das so, dass Arbeit bis hinein in die Mittelschichten ihr gesellschaftliches Integrationsversprechen, die Garantie auf soziale Sicherheit, verloren hat. Die damit einhergehenden Verunsicherungen sind ein Faktor, der zum Beispiel auch anti-demokratische Einstellungen verstärkt. Auch das ist eine Folge der Agenda 2010.  

Heute stellt sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt ganz anders dar als noch vor 20 Jahren: Fachkräftemangel, eine niedrigere Arbeitslosigkeit und potenziell mehr Macht für die Beschäftigten. Verliert die Agenda-Politik damit an Bedeutung? 

Kohlrausch: Auch wenn in vielen Branchen mittlerweile Fachkräftemangel herrscht – der Niedriglohnsektor existiert nach wie vor und er verschwindet und reguliert sich nicht von alleine. Es ist ein Fortschritt, dass mit der Einführung des Bürgergeldes die Qualifizierung von Arbeitslosen stärker in den Vordergrund rückt – statt wie bei Hartz IV vor allem möglichst schnell in “irgendeinen Job” zu vermitteln. Hier sind nach wie vor weitere politische Reformen nötig – etwa die Abschaffung der Minijobs und ein Mindestlohn, der mit der Inflation mithalten kann. Aber auch die Gewerkschaften sind weiter gefragt, für gute Arbeit und gute Löhne auch in den vergessenen und prekären Bereichen des Arbeitsmarkts zu kämpfen. 

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