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HBS Böckler Impuls

Arbeitswelt: Wenn Computer bestimmen

Ausgabe 12/2017

Durch die Digitalisierung fallen einfache Jobs weg, die übrigen Beschäftigten dürfen sich aber über attraktivere Stellen mit größeren Handlungsspielräumen freuen. So heißt es oft. Doch es könnte anders kommen: Arbeitnehmer werden zu Handlangern der Algorithmen.

Computer und Roboter können viel, aber nicht alles. So scheiterte der Versandhändler Amazon an der Entwicklung einer Software, die zuverlässig doppelte und unpassende Produkte aus dem Onlineangebot filtert. Doch das Unternehmen fand eine Lösung: Es ließ die Computer eine Vorauswahl treffen und stellte Bilder und Beschreibungen der fraglichen Produkte auf eine Website. Hier können sich Menschen, die ein bisschen Geld verdienen wollen, anmelden und die Sortieraufgaben übernehmen – pro Entscheidung gibt es zwei Cent. So entstand die Crowdwork-Plattform Amazon Mechanical Turk. Mit rund 500.000 angemeldeten Digitalarbeitern gehört sie heute „eher zu den kleineren bis mittleren Plattformen“, so Moritz Altenried von der Berliner Humboldt-Universität.

Er und andere Sozialforscher haben sich kritisch mit der digitalen Ökonomie auseinandergesetzt. Ihre Beobachtungen stellen das häufig beschworene Bild einer Wirtschaft infrage, in der Maschinen alles Stumpfsinnige übernehmen, während sich die verbleibenden Beschäftigten bei guter Bezahlung und selbstbestimmt auf höhere Aufgaben konzentrieren können. Was die Arbeitsbedingungen betrifft, bedeutet Digitalisierung den Analysen der Wissenschaftler zufolge heute vielerorts das Gegenteil von Fortschritt: Mit den neuen Jobs kehren Frühformen kapitalistischer Ausbeutung zurück. Millionen Heimarbeiter ohne institutionalisierte soziale Absicherung konkurrieren weltweit um Miniaufträge von Unternehmen. Als Lohn winkt ein karger Stückakkord; die Wenigsten kommen auf den Mindestlohn.
Andere führen nur noch die Anweisungen der künstlichen Intelligenz aus – permanent überwacht, zurechtgewiesen und unter Druck gesetzt von Systemen mit Sensoren und Kameras.

Crowdwork und Gig Economy

Amazon hat seine Plattform Mechanical Turk – der Name spielt auf einen vermeintlichen Schachcomputer aus dem 18. Jahrhundert an, in dem in Wirklichkeit ein Mensch versteckt war – später für andere Unternehmen geöffnet. In Deutschland nutzte beispielweise der Energieversorger ENBW die Technik, um handschriftlich erfasste Zählerstände zu digitalisieren. Mit dieser „digitalen Fließbandarbeit“ erschließen die Unternehmen neues Arbeitskräftepotenzial, erklärt Altenried: Menschen, die sich abends, nachts oder zwischendurch, wenn die familiären Verpflichtungen es erlauben, eine Weile an den Computer setzen. Eine relevante Gruppe sind Frauen, die Kinder erziehen oder Angehörige pflegen.

„Heimarbeit und Stücklohn sind keine Neuerfindung digitaler Ökonomien, sondern klassisches Mittel, um Frauen neben der unbezahlten Reproduktionsarbeit in die kapitalistische Produktion einzubinden“, so der Forscher. Ebenso wenig neu sei der Ansatz, Arbeit in kleinste Portionen aufzuteilen. Altenried spricht von „digitalem Taylorismus“, der ohne Fabriken auskomme. Formell selbstständige Erwerbstätige, um deren soziale Absicherung sich der Arbeitgeber nicht kümmern muss, Niedriglöhne, kaum Möglichkeiten aufzubegehren, weil alle auf möglichst gute Bewertungen durch die Arbeitgeber angewiesen sind: Dies alles gab es auch früher schon. Neu am Crowdworking ist, was Wissenschaftler mit „Skalierbarkeit“ umschreiben. Hunderte Heimarbeiter für ein paar Wochen verpflichten – das konnten Unternehmen schon immer. Aber 50.000 Leute zwei Tage lang an einem Projekt arbeiten zu lassen, ermöglichen erst die digitalen Arbeitsbasare. Auch in geografischer Hinsicht haben sich Dimensionen verändert: In den Entwicklungsländern gibt es viele Millionen potenzieller Arbeitskräfte, die lediglich ein Handy mit Internetzugriff brauchen. Zum Teil bekommen sie derzeit nicht einmal Geld, sondern nur SMS- oder Gesprächsguthaben als Gegenleistung für ihre Arbeit. Auf diese Weise ließ Nokia in Kenia die Menüs seiner Telefone übersetzen.

Extrem flexible Kurzzeitjobs, häufig mit dem Label „Gig Economy“ versehen, in denen die Beschäftigten nach den Vorgaben der Computeralgorithmen handeln, spielen sich nicht ausschließlich im digitalen Raum ab. Auch Lieferdienste wie Foodora oder das Online-Portal My Hammer, in dem Handwerker ihre Arbeitskraft anbieten, folgen derselben Logik, sagt Altenried.

Totale Überwachung

Der verstärkte Einsatz vernetzter Computer verändert nicht nur die Mechanismen der Arbeitszuteilung. Auch die Kon­trolle der Ausführung erreicht neue Dimensionen. Das zeigen etwa die Fallstudien von Eva-Maria Raffetseder und Simon Schaupp von der Technischen Universität München sowie Philipp Staab vom Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit in Berlin. Sie haben untersucht, welche Techniken sich hinter dem Schlagwort Industrie 4.0 verbergen. Dazu gehört beispielsweise Software für Vertriebsabteilungen, die jeden Druck auf die Tastatur aufzeichnet. Und Mogeln geht nicht mehr: Solange die Formulare aus Papier waren, konnte man zur Not ein paar Felder freilassen, doch am Bildschirm lassen sie sich nicht wegklicken, bevor alles ausgefüllt ist. Auf sogenannten Dash­boards sehen die Angestellten stets vor sich, ob sie mit der aktuellen Arbeitsleistung im Soll liegen oder nicht – und wie sie im Vergleich zu den Kollegen dastehen. Auf diese Weise sorgen die Computer für die „individuelle Selbstoptimierung der Beschäftigten“. Für das untere und mittlere Management bleibt nicht mehr viel zu tun.

Ähnlich umfassend lässt sich die Kontrolle in Produktion und Logistik gestalten. Dabei geht es nicht mehr nur um die Erfassung der Pausenzeiten. Ein befragter Manager sagt: „Wir erfassen alles. Wann fährt er den Tisch hoch, wie hält er den Lötkolben? Alles.“ Der sogenannte smarte Handschuh, der über einen Mini-Computer sowie eine Reihe von Sensoren verfügt, verschickt automatisch Informationen über die verbauten Teile ans Lager und piepst sofort, wenn der Arbeiter zur falschen Schraube greift. Ein ähnliches Überwachungsniveau herrscht in den Warenlagern von Amazon, wie eine Untersuchung der Leipziger Sozialforscher Georg Barthel und Jan Rottenbach zeigt. Im Bewusstsein der dortigen Arbeiter sei angekommen, dass die „Maschinen denken und entscheiden, während die Menschen laufen, Waren einordnen und aufs Band legen“. Die Wissenschaftler sprechen von einer „panoptischen Fabrik“ – in Anlehnung an das von Jeremy Bentham vor mehr als 200 Jahren entworfene Panoptikum, eine Gefängniskonstruktion, in der ein einziger Aufseher stets alle Insassen im Blick hat.

Weniger Hierarchie, mehr Mitbestimmung?

Entsprechend fragwürdig erscheinen die „von Bundesregierung und Industrieverbänden einmütig erteilten Heilsversprechen“ in Sachen Digitalisierung und „smarte Fabrik“. Das betonen Jobst Gaus, Christopher Knop und David Wandjo von der Universität Jena. Sie haben ebenfalls anhand von Fallstudien analysiert, inwieweit digitale Kommunikation, bei der Kundenwünsche ohne Umwege an die Produktionsarbeiter weitergereicht werden, und Selbststeuerungsmechanismen den Beschäftigten nützen. Es wurden jedoch „keine Hierarchieverflachungstendenzen sichtbar“, und auch „die Dimension der Mitarbeiterpartizipation wies keine substanziellen Wandlungstendenzen auf“. Hinsichtlich der vielfach ge­äußerten „Demokratisierungsversprechen“ sehen die Soziologen „einen Widerspruch zwischen scheinbarer und tatsächlicher Selbstermächtigung“.


  • Crowdworker sind eine bunte Truppe Zur Grafik
  • Betriebsräte sorgen dafür, dass Beschäftigte bei Werksschließungen eher eine Abfindung erhalten. Zur Grafik

Bei individuellen Entlassungen scheint sich Mitbestimmung dagegen nachteilig auszuwirken. Die Autoren erklären das mit der größeren Beschäftigungsstabilität in mitbestimmten Firmen: Betriebsräte achteten darauf, dass es nur bei wirklich gravierendem Fehlverhalten wie beispielsweise Alkoholmissbrauch oder Diebstahl zu einer Kündigung kommt. Viele der Entlassenen dürften also nicht nur dem Unternehmen geschadet haben, sondern auch ihren Kollegen und könnten daher nicht mit Unterstützung rechnen. Wenn eine Entlassung dagegen nicht selbst verschuldet ist, sondern aus betrieblichen Gründen erfolgt, werde der Betriebsrat aktiv.

Ansonsten ist das Engagement von Arbeitnehmervertretern offenbar auch von den beruflichen Perspektiven der Entlassenen abhängig: Der positive Effekt fällt bei denjenigen am stärksten aus, die zum Zeitpunkt der Befragung immer noch arbeitslos waren. Die Betriebsräte scheinen ihre Bemühungen also auf die Kollegen zu konzentrieren, die am meisten auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, so Grund und Martin. Denkbar wäre auch, dass sie statt einer Abfindung bisweilen Unterstützung bei der Vermittlung in eine neue Stelle durchsetzen.

   

Die Arbeitswelt verändert sich dramatisch – durch die Digitalisierung, aber nicht nur dadurch. Was geschehen muss, damit die Arbeitnehmer dabei nicht den Kürzeren ziehen, hat die von der Hans-Böckler-Stiftung ­in­­itiierte Kommission Arbeit der Zukunft in einem umfangreichen Bericht zusammengetragen. Den Expertinnen und

Experten aus Wissenschaft, Management, Gewerkschaft, Mitbestimmung und Politik geht es darum, weder Fatalismus noch Technikgläubigkeit die Oberhand gewinnen zu lassen, sondern gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten hervorzuheben. Einige wichtige Punkte:

  • Der Strukturwandel darf nicht zum Job-Killer werden. Deshalb soll das Instrument Transfergesellschaft weiterentwickelt werden – zum „internen Startup“ mit Weiterbildungsprogramm.
  • Rechtliche Standards müssen angepasst werden. Das gilt in der globalisierten und digitalisierten Welt für den Betriebsbegriff wie für den Arbeitnehmerbegriff. Auch für Arbeit „jenseits der Anstellung“ müssen Mindeststandards gelten. Zudem soll das Bestellerprinzip eingeführt werden: Wenn ein deutsches Unternehmen Aufträge an Crowdworker vergibt, muss deutsches beziehungsweise EU-Recht gelten.
  • Die sozialen Dienstleistungen müssen aufgewertet werden – sie stellen die derzeit größte Wachstumsbranche dar. Dieser Wirtschaftszweig kann nicht ausschließlich nach den Kriterien klassischer Betriebswirtschaft geführt werden. Hier müssen neue Maßstäbe für Produktivität und Erfolg her. Produziert wird schließlich nicht ein Konsumgut, sondern Lebensqualität.
  • Das Weiterbildungssystem muss ausgebaut werden und gerade weniger Qualifizierte einbeziehen. Die Arbeitsbedingungen der Weiterbildenden sollen verbessert und Hochschulen auch systematisch als Weiterbildungseinrichtungen wirken.
  • In der zunehmend „fluiden“ Arbeitswelt fehlen noch Spielregeln für die Arbeitszeit. Zum einen sollte es ein Recht auf mobiles Arbeiten geben; gleichzeitig ist die „schleichende Expansion“ der Arbeitszeit durch neue Kommunikationsmöglichkeiten zu stoppen. Zudem sollten alle Beschäftigten die Möglichkeit bekommen, längere Auszeiten zu nehmen.
  • Psychische Belastungen durch Erwerbsarbeit müssen eingedämmt werden. Dazu wollen die Experten Gefährdungsbeurteilungen wirksamer machen. Nötig sei eine branchenspezifische „Risikolandkarte“ für psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz.
  • Erfolgreicher Wandel kann nur partnerschaftlich gestaltet werden. Die Unternehmen brauchen dazu eine „vitale Mitbestimmung“. Betriebsratswahlen seien zu vereinfachen, Schlupf­löcher bei der Unternehmensmitbestimmung zu schließen und das Tarifsystem zu stützen.

Quelle:

Kerstin Jürgens, Reiner Hoffmann, Christina Schildmann: Arbeit transformieren, Denkanstöße der Kommission Arbeit der Zukunft (pdf), Juni 2017

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