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HBS Böckler Impuls

Arbeitnehmerfreizügigkeit: Schutz für Zuwanderer wie Einheimische

Ausgabe 03/2011

Ab Mai steht der deutsche Arbeitsmarkt auch Jobsuchenden aus den mittelosteuropäischen EU-Ländern offen. Die Politik kann für faire Bedingungen für Zuwanderer wie Einheimische sorgen - durch gesetzliche Mindestlöhne und eine erneuerte Entsenderichtlinie.

Menschen aus den mittelosteuropäischen EU-Beitrittsstaaten von 2004 können sich erstmals ab Mai in Deutschland ohne Einschränkungen einen Job suchen. Nach der EU-Osterweiterung hatte die Bundesrepublik für eine Übergangszeit von sieben Jahren die Arbeitnehmer-Freizügigkeit von Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Ungarn und Balten eingeschränkt; nun läuft diese Frist aus.

Das Ende der Übergangsregelung dürfte "einen weiteren Migrationsschub auslösen", erwartet Thorsten Schulten vom WSI, denn noch immer besteht ein beachtliches Lohngefälle in der EU. In den vergangenen sieben Jahren hatten die Sonderregeln die innereuropäische Wanderungsbewegung umgelenkt. Vor der EU-Osterweiterung war Deutschland noch das Hauptziel der Arbeitskräfte aus Mittelosteuropa gewesen. Dank offener Grenzen wurde dann aber Großbritannien zum wichtigsten Anziehungspunkt für Menschen aus Litauen, Polen und den anderen neuen EU-Ländern. 2000 hatten lediglich 13 Prozent von ihnen die Insel angesteuert, danach 32 Prozent. Zwischen 2004 und 2008 kamen jährlich 250.000 Arbeitskräfte aus den acht neuen EU-Ländern nach Westeuropa.

Der bevorstehende Migrationsschub könnte ohne gesamtwirtschaftliche Lohn- und Beschäftigungseffekte bleiben. Darauf lässt eine Studie des IAB schließen. In vergleichbaren Situationen hat die Zuwanderung von Arbeitskräften nicht für Lohndruck und Arbeitsplatzverluste gesorgt, weisen IAB-Forscher nach. Das ist jedoch nur die makroökonomische Perspektive. In einzelnen Branchen wie Bau, Hotel, Pflege und Gebäudereinigung dürfte es anders aussehen, warnt WSI-Forscher Schulten. Zuwanderer müssen  auf dem Arbeitsmarkt meist mit gering qualifizierten Einheimischen oder länger im Land lebenden Einwanderern konkurrieren,  selbst wenn sie über ein höheres Qualifikationsniveau verfügen. Es ist damit zu rechnen, dass Unternehmen die Bereitschaft der Zuwanderer ausnutzen werden, für wenig Geld und zu schlechten Bedingungen zu arbeiten. In Großbritannien arbeiten Mittelosteuropäer häufig für Niedriglöhne; ihr mittlerer Lohn lag 2009 um ein Drittel unter dem der Einheimischen.

Der Staat kann durch Regulierung Härten vermeiden. "Für Deutschland steht mit dem Wegfall der Übergangsregelungen einmal mehr die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf der Tagesordnung, da ansonsten in vielen Branchen gerade für Migranten keine verbindlichen Lohnuntergrenzen existieren", schreibt Schulten. In Großbritannien bot der Ende der 1990er eingeführte Mindestlohn  Migranten wie Einheimischen Schutz gegen ruinöse Lohnkonkurrenz. Ein gesetzlicher Mindestlohn könnte auch in Deutschland die Maxime durchsetzen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, so Schulten.

Die EU kann ebenfalls helfen, diesen Grundsatz umzusetzen, und zwar durch eine Revision der Entsenderichtlinie. Aufgrund der Entsendung von Arbeitnehmern "entstanden innerhalb der europäischen Hochlohnländer Inseln fremden Arbeitsrechts, die es Unternehmen erlaubten, bestehende Arbeits- und Lohnstandards systematisch zu unterbieten", so Schulten. Beschäftigte, die vom Arbeitgeber ins europäische Ausland entsandt werden, haben einen "besonders prekären Status". Wer in Polen angestellt ist und ein lokal übliches Gehalt bezieht, aber zum Arbeiten nach Deutschland geschickt wird, muss in aller Regel mit wenig Geld in einem teuren Land auskommen. Die Zahl der entsandten Arbeitskräfte in der EU wird auf gut 1,5 Millionen geschätzt.

Die 1996 verabschiedete Entsenderichtlinie erlaubt den EU-Staaten, per Gesetz oder per allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag Mindeststandards bei Entlohnung und Arbeitsbedingungen vorzugeben. Auf dieser Basis hat die Bundesregierung Branchen-Mindestlöhne bestimmt. Der Europäische Gerichtshof hat nun aber die in der Richtlinie aufgelisteten Schutzbereiche als Maximalbestimmungen interpretiert. Nur so weit dürfe der Gesetzgeber gegen Lohndumping vorgehen. Eine Revision der Entsenderichtlinie, wie sie etwa der Europäische Gewerkschaftsbund anregt, könnte klarstellen, dass die dort aufgeführten Elemente lediglich Mindestbestimmungen sind, sagt Schulten. Oder sie könnte den Schutzbereich explizit ausweiten. 

  • Briten, Iren und Schweden öffneten ihre Grenzen sofort für die neuen EU-Bürger, Deutschland und Österreich erst nach sieben Jahren. Ab Mai 2011 ist nur noch die Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus Bulgarien und Rumänien begrenzt. Zur Grafik

Thorsten Schulten: Zwischen offenen Arbeitsmärkten und ­transnationalem Lohngefälle. Gewerkschaften und Migration im Zuge der EU-Osterweiterung, in: Hans-Wolfgang Platzer, Gudrun Hetges: Europa - Quo Vadis? Ausgewählte Problemfelder der europäischen Integrationspolitik, 2011

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