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HBS Böckler Impuls

Privatisierung: Die Rückkehr des Staates - marktliberale Leitbilder verblassen

Ausgabe 09/2009

Was soll der Staat leisten und was nicht? In den vergangenen drei Jahrzehnten dominierte das Leitbild der Entstaatlichung. Doch in der Krise wird deutlich, dass die Bedeutung des Staates unterschätzt wurde.

Neue Leitbilder setzen sich oft in einer Krise durch, wenn etablierte Ideen an Attraktivität verlieren. Derzeit büßt das lange dominierende Leitbild des "schlanken Staates" an Zustimmung ein und könnte möglicherweise bald verdrängt werden, schreibt Hans-Jürgen Bieling. Der Politikwissenschaftler von der Universität Hamburg hat untersucht, wie sich die Vorstellungen vom optimalen Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft in der Bundesrepublik gewandelt haben. Bieling schildert, welche Staats-Konzepte sich in den Auseinandersetzungen für einige Jahre durchgesetzt haben, Wahrnehmungen und Deutungen prägten und so Einfluss auf die politischen Entscheidungen hatten.

Nachkriegsjahre - eingehegter Liberalismus. Die Nachkriegsordnung beschreibt Bieling als "eingebetteten Liberalismus". Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeber und andere maßgebliche gesellschaftliche Kräfte vertraten die Auffassung, dass der Kapitalismus durch zahlreiche Institutionen "einzuhegen" sei: politische Kontrolle des Währungs- und Finanzsystems, Sozialstaat und korporatistische Institutionen, die einen sozialen Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ermöglichen.

Späte 1960er und frühe 1970er-Jahre - keynesianischer Wohlfahrtsstaat. Ende der 1960er-Jahre kristallisierte sich das Leitbild des keynesianischen Wohlfahrtsstaates heraus. Die Konjunkturkrise von 1967 verhalf dem Konzept der Globalsteuerung von Karl Schiller zum Durchbruch. Erstmals betrieb der Staat eine aktive Konjunktursteuerung, wohlfahrtsstaatliche Leistungen wurden ausgeweitet. Zu diesem Leitbild passten die Bildungsexpansion und der Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung.

Späte 1970er-Jahre - Kritik am Wohlfahrtsstaat. "Als Kontrapunkt zur aufkommenden staatlichen Planungseuphorie" wurde vermehrt Kritik am keynesianischen Leitbild laut, schreibt Bieling. In einer Phase von wirtschaftlicher Stagnation, Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit konnte ein konkurrierendes Leitbild an Zustimmung gewinnen. Die Forderung lautete: An die Stelle des bürokratischen, leistungsfeindlichen Wohlfahrtsstaates solle ein schlanker Wettbewerbsstaat treten, der sich ausschließlich auf seine Kernaufgaben konzentriere. Damit würde der Weg frei für mehr Eigenverantwortung der Bürger und die Selbstheilungskräfte des Marktes.
 
1980er bis Mitte der 1990er-Jahre - schlanker Wettbewerbsstaat. Die Politik der "sozialen Anrechte" trat hinter eine marktorientierte Leistungs- und Effizienzkonzeption zurück. Als übergeordnetes Ziel wurde eine gesteigerte internationale Wettbewerbsfähigkeit verfolgt, so die Studie. Allerdings dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis sich das neue Leitbild des "schlanken Staates" durchsetzte - gegen wohlfahrtsstaatliche Institutionen und korporatistische Netzwerke, gewerkschaftliche Proteste sowie im föderalen System angelegte Widerstände. Einerseits habe es zwar Deregulierungen im Arbeitsrecht gegeben, die Bedingungen für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen seien verschärft worden und die finanzpolitische Konsolidierung sei ein wichtiges Ziel gewesen. "Andererseits klafft zwischen dem bekundeten Verschlankungsanspruch und der praktischen Politik jedoch eine unübersehbare Lücke", stellt Bieling fest. Der Entstaatlichungsprozess beschleunigte sich erst Mitte der 1990er-Jahre. Vor allem drei Faktoren waren dafür auschlaggebend:

  • die Vertiefung des europäischen Binnenmarktes mit der Liberalisierung von Post, Telekom, Strom- und Gasversorgung;
  • eine wachsende Dynamik auf den Finanzmärkten, die Privatisierungen immer lohnender erscheinen ließ;
  • eine neue Argumentationsfigur, die Einzug in die politischen Debatten erhielt: der "Reformstau".

Als Reaktion auf die Vorstellung vom Reformstau gewann die Idee vom "aktivierenden Staat" immer mehr Anhänger. Darunter verstanden sie ein neues, kooperatives Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft, das die Eigenverantwortung der Bürger betont. Als praktische Vorbilder galten die Arbeitsmarktreformen in Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden.

Späte 1990er-Jahre bis heute - Gewährleistungsstaat. Mit dem Gewährleistungsstaat entwickelte sich Ende der 1990er-Jahre ein neues Leitbild, das die Idee des aktivierenden Staates präzisierte. Die Rolle des Staates wandelte sich Bieling zufolge "vom Versorgungsmonopolisten zum Versorgungsmanager". Öffentliche Dienstleistungen sollten weitgehend von privatwirtschaftlichen Betrieben erbracht werden, der Staat habe aber weiterhin eine flächendeckende Versorgung in ­ausreichender Qualität und zum angemessenen Preis zu garantieren. Das Resultat sei eine "zwar wettbewerbs- und sozialpolitisch eingefasste, aber fortgesetzte Entstaatlichungspolitik". Wurde einige Jahre zuvor noch diskutiert, ob Privatisierung an sich der richtige Weg sei, sollte es gemäß des Leitbildes im Gewährleistungsstaat nur noch darum gehen, die Privatisierung zu gestalten.

Indizien für eine Trendwende. Die Vorstellung vom schlanken Staat, der möglichst viele Aufgaben dem Markt überantwortet und nur ein wenig reguliert, hat in jüngster Zeit an Akzeptanz verloren, beobachtet Bieling. Sie bestimme nicht mehr die politische Agenda. Bereits im Bundestagswahlkampf 2005 habe es Anzeichen für eine Kehrtwende gegeben. Eine "marktliberale Reformstrategie" sei nicht mehrheitsfähig gewesen. Der Wissenschaftler führt dies auf eine veränderte Wahrnehmung zurück: Die sozialen Probleme haben den "Reformstau" von der politischen Tagesordnung verdrängt. Armut und Prekarisierung, die sozialen Folgewirkungen des "marktliberalen Reformeifers", traten in den Vordergrund. Und die Politik reagierte mit ersten Korrekturen an den zuvor bestimmenden Leitlinien: Ältere Arbeitslose bekommen wieder länger Arbeitslosengeld, zumindest in einigen Branchen machte sich die Politik für die Einführung von Mindestlöhnen stark. Eltern- und höheres Kindergeld "weisen in Richtung einer gestärkten sozialstaatlichen Flankierung der marktliberalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik".

Die Folgen der Finanzkrise. Die Finanzmarktkrise scheine sich als Wendepunkt in der Definition staatlicher Aufgabenbereiche zu erweisen, schreibt Bieling. Ansätze zu einer neuen Finanzmarktregulierung und staatliche Konjunkturprogramme zeugten von einer gesteigerten Bereitschaft, wieder stärker in die kapitalistische Ökonomie einzugreifen. Zentrale Aspekte des "finanzgetriebenen Akkumulationsregimes bzw. des angloamerikanischen Kapitalismusmodells" würden nun infrage gestellt. Die Protagonisten und "Aushängeschilder" dieses Wirtschaftsmodells seien "vorläufig von der Bühne verschwunden": die fünf großen US-amerikanischen Investmentbanken.

Die Bevölkerung sieht die Privatisierung vormalig öffentlicher Aufgaben heute recht kritisch, das belegen Umfragen.  So sprachen sich im Oktober 2008 deutliche Mehrheiten für eine Beteiligung des Staates an Unternehmen der Energiewirtschaft, des Flug- und Bahnverkehrs sowie der Post aus. Staatsbeteiligungen wünschten sich fast zwei Drittel der Befragten auch in der Finanz- und Versicherungsbranche. "Es hat sich mittlerweile die Auffassung breitgemacht, dass der Gewährleistungsstaat vielfach nicht mehr in der Lage sei, flächendeckende, zuverlässige, qualitativ hochwertige und preisgünstige Infrastrukturdienstleistungen sicherzustellen", fasst der Wissenschaftler das Stimmungsbild zusammen.

Allerdings warnt Bieling auch davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Denn nicht alle Politiker oder Wirtschaftsvertreter, die in der Krise mehr staatliches Engagement fordern, sehen den Staat als dauerhaften "Wirtschaftsgestalter". Viele, die bislang den schlanken Staat propagiert haben, billigen ihm nur eine zeitlich begrenzte Rolle als "Katastrophenschützer" zu, der sich schnell wieder zurückziehen soll, sobald die Aufräumarbeiten erledigt sind.

  • Der öffentliche Sektor hat in Deutschland heute einen geringeren Anteil am Wirtschaftsgeschehen als in Großbritannien. Zur Grafik
  • Ob Post, Telekom oder Stadtwerke: Der Staat verkauft kontinuierlich Unternehmen. Zur Grafik
  • Der "schlanke Staat" muss mit wenig Personal auskommen. Zur Grafik

Hans-Jürgen Bieling: "Privat vor Staat"? Zur Entwicklung politischer Leitbilder über die Rolle des Staates, in WSI-Mitteilungen 5/2009

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