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HBS Böckler Impuls

Armut: Die Rückkehr der Klassengesellschaft

Ausgabe 03/2006

Dass die Armut in Deutschland seit den 70er-Jahren langsam, aber stetig zunimmt, ist vielfach belegt. Experten streiten aber, wer wie lange von Armut betroffen ist. Eine Trendanalyse zeigt: Armut verfestigt sich zunehmend dauerhaft unter Arbeitern.

Wie durchlässig ist die deutsche Gesellschaft? Prägen vor allem Geburt und Elternhaus die Lebenschancen oder ist doch jeder selbst seines Glückes Schmied?

Manche Wissenschaftler sehen eine "soziale Spaltung", die einen Teil der Gesellschaft dauerhaft ausgrenzt vom Wohlstand der Mehrheit. Andere diagnostizieren eine "neue Armut", die sich in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Eine dritte Gruppe analysiert Armut eher als kurzfristige Episode materieller Notlage, die in der Risikogesellschaft entsteht: Mit den neuen Freiheiten (post)moderner Lebensentwürfe wächst auch das Risiko, in verschiedenen Lebenslagen zwischendurch mal Schiffbruch zu erleiden.
Diese Szenarien hat Olaf Groh-Samberg, Soziologe an der Universität Münster, einer empirischen Analyse auf Basis der Daten aus demSozioökonomischen Panel (SOEP) unterzogen.

Der Forscher untersucht Armut nach ihrer Dauer, nach Klassenstrukturen und im Hinblick auf Einkommensarmut und "Lebenslagen". Er unterscheidet Wohlstand, Prekarität und Armut. Seine Forschungsfragen und Befunde zu den Trends von 1984 bis 2004:

=> Armut als dauerhafte Ausgrenzung oder kurzfristige Episode?

"Die dauerhafte Einkommensarmut nimmt in West wie Ost zu", so Groh-Samberg. Immer mehr Menschen erhalten über mehr als zwei Jahre weniger als die Hälfte des Durchschnittsverdienstes. Im Osten nimmt die soziale Ungleichheit zu und passt sich allmählich an westdeutsche Strukturen an.

=> Entsteht eine neue Schicht der mehrfach Benachteiligten - mit geringem Einkommen, schlechter Wohnung, Arbeitslosigkeit, geringen Rücklagen -, oder bröckelt der Wohlstand in der gesellschaftlichen Mitte?

Hier zeigt sich im Westen ein Anstieg der mehrschichtigen, andauernden Armut von 7,5 auf 10 Prozent der Bevölkerung. Die prekären Lebenssituationen in der Grauzone zur Armut haben sich dagegen nicht vergrößert, der Wohlstandsbereich wächst leicht auf rund 47 Prozent. Im Osten wächst die Armut quasi von unten nach oben: Die mehrfach Armen werden mehr (von 8 auf 12 Prozent), und auch die prekäre Grauzone, in der das Abrutsch-Risiko nach unten groß ist, wird tendenziell größer. Die Wohlstandszone bleibt mit um die 44 Prozent etwa gleich. In Ost wie West verfestigen sich die Armutsgrenzen, so Groh-Samberg.

=> Kann Armut jeden treffen oder wirken weiter Klassenstrukturen?

Groh-Samberg diagnostiziert einen engen Zusammenhang zwischen Armut und Klassenstruktur, stabil seit Mitte der 80er-Jahre. Drei Viertel der dauerhaft und mehrfach armen Personen stammen aus den Arbeiterklassen. "Vertiefende Analysen zeigen, dass insbesondere Arbeiterfamilien mit mehreren Kindern sowie ausländische Arbeiter/-innen, und erst recht ausländische Arbeiterfamilien, zu den Kerngruppen der Armut in Deutschland gehören. Deutsche Familien aus höheren sozialen Klassen weisen demgegenüber unterdurchschnittliche Armutsquoten auf." Groh-Samberg sieht in den Daten ein neues "Dienstleistungsproletariat" entstehen. Die Armutsrisiken der "Service-Dienstleister/-innen" steigen im Osten dramatisch, im Westen leicht.

Die Studie bilanziert: Zunehmend verfestigen sich soziale Ausgrenzung und Polarisierung strukturell. Der Befund bestätige "klassenspezifische Chancenungleichheiten, wie sie die jüngere Bildungs- und Mobilitätsforschung belegt". Die PISA-Studien hatten erschreckende strukturelle Benachteiligungen von Kindern aus Arbeiter- und Migrantenfamilien belegt. Die angebliche "Neue soziale Frage" scheint eher die alte: Die Arbeiterklassen sind vom ökonomischen Strukturwandel und dem Umbau des Wohlfahrtsstaates am stärksten betroffen. Auch Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungen tragen dazu bei, dass immer mehr der gering qualifizierten Arbeiter in Armut abrutschen. Groh-Samberg kritisiert das sozialpolitische Konzept der "Aktivierung" als individualisierende Umdeutung eines Verteilungsproblems.  

  • Einfache Arbeiter sind zusehends von Armut bedroht. Zur Grafik

Olaf Groh-Samberg: Die Aktualität der sozialen Frage - Trendanalysen sozialer Ausgrenzung 1984-2004, in: WSI-Mitteilungen 11/2005.

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