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Die ersten ihrer Art Service aktuell

Tagungsbericht Podiumsdiskussion "Die Ersten ihrer Art?": Betriebe müssen wieder mehr ausbilden

Durch die Digitalisierung fallen Arbeitsplätze weg, gleichzeitig entstehen neue. Wie die Transformation des Arbeitsmarktes aussehen könnte, diskutierten Fachleute in Bonn.

Von Sophie Deistler

In vielen Läden lösen Selbstbedienungskassen Kassiererinnen und Kassierer ab. Nur ein Beispiel, wie Automatisierung und Digitalisierung zunehmend die Berufswelt verändern. Welche gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Transformation der Arbeitswelt notwendig sind, war Thema einer Diskussion in der Bundeskunsthalle in Bonn. Auf dem Podium: Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, Elke Hannack, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds und Michael Böhm, Professor von der Technischen Universität Dortmund.

Die Podiumsdiskussion fand im Rahmen der Ausstellung „Die Letzten ihrer Art: Handwerk und Berufe im Wandel“ statt. Die gemeinsame Ausstellung der Bundeskunsthalle Bonn und des WSI zeigt Transformationsprozesse anhand von fünf Berufen. 

Teilzeitarbeitende Frauen, Menschen ohne Berufsausbildung und Migranten könnten den Fachkräftemangel lösen

Wenn es um den Wandel der Arbeitswelt geht, ist das Thema Fachkräftesicherung sehr wichtig. WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch nannte die Migration einen Teil der Lösung, allerdings sei das kein Selbstläufer. „Wir sind nicht das einzige Land, das Fachkräfte braucht“, sagt die WSI-Direktorin. Vielmehr stehe Deutschland im Wettbewerb mit anderen Ländern und müsse attraktiver werden, zum Beispiel, indem im Ausland erworbene Qualifikationen einfacher anerkannt werden.

Elke Hannack verwies darauf, dass Zuwanderung nicht das einzige Mittel gegen Fachkräftemangel sei. „Wir haben ein großes inländisches Potenzial“, sagte die stellvertretende Vorsitzende des DGB. Dieses Potenzial sieht sie in 3,5 Millionen Menschen ohne Berufsausbildung und teilzeitarbeitenden Frauen. 

Doch Vollzeit lohne sich für Frauen häufig nicht. Um das zu ändern, brauche es die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine geringere Arbeitsbelastung. „Auch das Ehegattensplitting setzt Anreize für Frauen, weniger zu arbeiten“, ergänzte Kohlrausch. Derzeit würden sich Frauen mit dem Staat die Kinderbetreuung teilen. „Eine Arbeitszeitverkürzung wäre sinnvoll, weil dadurch die Sorgearbeit anders zwischen Männer und Frauen aufgeteilt wird.“ 

Michael Böhm von der Uni Dortmund schlug vor, Vollzeit mit mehr Anreizen zu verbinden. Auch wenn gerade Frauen oft mehr Stunden arbeiten wollen, das Recht auf weniger sollte nicht hinten herunterfallen, fand Bettina Kohlrausch: „Sowohl Männer als auch Frauen müssen ihre Arbeit in bestimmten Lebensphasen auch dann noch reduzieren können.“ 

Weiterbildung sozialpartnerschaftlich organisieren

Große Einigkeit herrschte beim Thema Aus- und Weiterbildung. „Wir brauchen Frühwarnsysteme, um rechtzeitig zu erkennen, welche neuen Kompetenzen für bestimmte Berufe nötig sind“, sagte DGB-Vize Hannack. Bei Weiterbildungen gelte außerdem noch zu oft das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. „Junge, gut ausgebildete Männer kriegen Weiterbildung hinterhergeworfen“. Vor allem migrantische und ältere Beschäftigte hätten meist das Nachsehen, kritisierte sie.

Kohlrausch forderte, dass Qualifizierungen genauso standardisiert werden wie die duale Ausbildung. Die Verantwortung dafür sollte bei den Sozialpartnern liegen. Gerade im Bereich Datenanalyse sieht Böhm einen großen Mangel. Die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen basieren heute auf Daten. Die Zahl der Menschen, die Daten analysieren könnten, sei aber noch zu klein. Das fördere Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, da wenige sehr viel verdienen. „Bildung zum Thema Daten ist bisher nur universitär und privatwirtschaftlich organisiert“, bemängelte der Professor. Wie man Daten visualisiert und analysiert, könne Teil von Ausbildungen sein.

Ausbildung darf für Betriebe kein Wettbewerbsnachteil sein

Datenanalyse kann nur dort Teil der Ausbildung sein, wo auch ausgebildet wird. Hier sieht Elke Hannack eine weitere große Baustelle. Denn nur noch rund 20 Prozent der Betriebe in Deutschland bilden überhaupt aus. Sie schlug daher vor, ausbildende Betriebe mit Geld aus einem Fonds zu belohnen. Schließlich bilden diese auf eigene Kosten Fachkräfte aus, die dann oftmals von anderen Unternehmen abgeworben werden. „Trittbrettfahren sollte kein Wettbewerbsvorteil sein“, findet auch Böhm.

Auch würden sich viele Unternehmen zu wenig um ihre Auszubildenden kümmern und zu hohe Ansprüche an diese stellen. In Stellenanzeigen sei oftmals das Abitur Voraussetzung, selbst wenn dies gar nicht nötig sei. Als Beispiel nennt Hannack den Einzelhandel. Sie fordert Unternehmen dazu auf, stattdessen vorhandene Unterstützungsangebote wie die assistierte Ausbildung zu nutzen. Gerade junge Menschen, die während der Pandemie abgehängt wurden, bräuchten laut Kohlrausch Unterstützung, um auf den Arbeitsmarkt zu kommen. 

Automatisierung kann zugleich eine Chance und eine Gefahr sein

Ein Arbeitsmarkt, der sich in den kommenden Jahren stark verändern wird. Das Bundesinstitut für Berufsbildung geht davon aus, dass bis 2035 rund 3,4 Millionen Arbeitsplätze durch die Digitalisierung wegfallen. Gleichzeitig sollen jedoch auch 3,2 Millionen neu entstehen. Vor allem im Einzelhandel und in der Kfz-Branche sollen demnach Arbeitsplätze wegfallen, während unter anderem Informatik sowie das Sozial- und Gesundheitswesen zulegen werden.

Böhm verwies darauf, dass Automatisierung auch Potenziale freisetze, weil Verwaltungstätigkeiten wegfallen. Gerade in medizinischen und pflegerischen Berufen nimmt Verwaltung noch einen großen Teil der Arbeitszeit ein.

„Automatisierung ist kein Schreckgespenst“, war sich auch die WSI-Direktorin sicher und Elke Hannack ergänzte: „Sie soll die Beschäftigten unterstützen, aber keine Arbeitskräfte ersetzen.” Eine Grenze sei erreicht, wenn Maschinen zwischenmenschliche Beziehungen ersetzen – zum Beispiel, wenn Roboter als Krankenpfleger eingesetzt werden. Dazu müsse es eine ethische Debatte geben, meint die stellvertretende Vorsitzende des DGB.

Berufe befinden sich dauernd im Wandel 

Maschinen veränderten schon immer den Berufsalltag, wie auch die Ausstellung zeigt, die der Diskussion den Rahmen gab. Sie zeugt aber auch vom Überleben in Zeiten der Automatisierung. Im Backhandwerk haben viele Arbeiten inzwischen Maschinen übernommen, der Beruf schützt sich vor Rationalisierung, indem er seinen Fokus auf Vielfalt und Qualität legt. So stehen über 3.000 deutsche Brotrezepte auf der Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO. 

Die Textilbranche ist wegen der billigeren Produktionskosten in andere Länder abgewandert. Vor allem Frauen wurden dabei ohne ausreichende Kompensation arbeitslos.

Seit im Jahr 2018 der Steinkohleabbau in Deutschland eingestellt wurde, gibt es den Beruf des Bergmannes nicht mehr. Die ehemaligen Kumpel erhielten bessere Kompensationen als andere Berufe. Dennoch leiden viele Bergmänner heute an der gesellschaftlichen Entwertung ihres Berufes.

Der Beruf des Schriftsetzers blieb 500 Jahre lang fast unverändert. Maschinen unterstützten die Arbeit, ersetzten sie jedoch nicht. Ab den 80er-Jahren wurde es möglich, Layouts mit dem Computer zu erstellen. Dadurch starb der Beruf aus, neue Berufe im Bereich Grafikdesign und Mediengestaltung entstanden.

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