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Podium Tagung Soloselbständige 2023 Service aktuell

Tagungsbericht : Auch Solisten brauchen kollektive Rechte

„Kollektivrechtliche Regelungen für Solo-Selbstständige“ – unter diesem Titel veranstaltete das Hugo Sinzheimer Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung am 29. März mit dem Haus der Selbstständigen in Leipzig ein Fachsymposium.

von Jeannette Goddar

Sie sind Lehrkräfte, Filmemacher, IT-Fachkräfte, Clickworker, Designer, Handwerker, und vieles mehr: Nahezu zwei Millionen Menschen in Deutschland arbeiten als Solo-Selbstständige. Von Sozialpartnerschaften werden sie nicht erfasst, weil sie nicht abhängig beschäftigt sind. Damit werden für sie keine Tarifverhandlungen geführt, nur in den wenigsten Fällen – etwa wenn sie als feste Freie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder in der Hauswirtschaft tätig sind – greifen Regelungen im Tarifvertrags- oder im Heimarbeitsgesetz.

Warum wir auch für Solo-Selbstständige kollektiv handeln müssen, erklärte Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung in ihrer Eröffnung des Fachsymposiums Kollektivrechte für Solo-Selbstständige - Möglichkeiten, Grenzen, Reformbedarf. Es fand nicht zufällig in Leipzig statt:  Im Herbst 2020 öffnete in der sächsischen Innenstadt ein „Haus der Selbstständigen“ (HdS) in Trägerschaft der ver.di-Tochter INPUT Consulting. Die Einrichtung will die Interessen der Solo-Selbstständigen stärken, Wissen und Themen bündeln, Initiativen vernetzen und unterstützen. „Synergien unterstützen, kollektive Durchsetzungsmacht erhöhen, juristische und politische Handlungsbedarfe identifizieren – all das haben wir uns vorgenommen“, sagte Gerlinde Vogl, Leiterin des Hauses der Selbstständigen. 

Aufbrauchstimmung in Sachen kollektive Rechte

Unter Juristinnen und Juristen herrscht seit 2022 ein bisschen Aufbruchstimmung in Sachen kollektive Rechte – ausgelöst ausgerechnet von der auf freien Wettbewerb bedachten Europäischen Kommission. Sie betrachtete Selbstständige schlicht als Unternehmen. Eine gemeinsame Interessenvertretung war deshalb unmöglich. Sie hätte gegen das Kartellrecht verstoßen - so dargelegt in Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Angeregt durch die Plattformwirtschaft – aber nicht nur auf diese anwendbar – liegen nun Leitlinien vor, die gewissen Gruppen ermöglichen, sich doch zu kollektiven Verhandlungen zusammenzuschließen. Sie richten sich an Solo-Selbstständige, die ihre Dienstleistungen ganz oder überwiegend für ein Unternehmen erbringen, die Seite an Seite mit abhängig Beschäftigten arbeiten, und/oder ihre Dienstleistungen für oder über eine digitale Arbeitsplattform erbringen. Die Leitlinien sollen „Solo-Selbstständigen Rechtssicherheit bieten“, indem sie klarstellen, „wann ihre Bemühungen, gemeinsam über bessere Konditionen zu verhandeln, wettbewerbsrechtlich unbedenklich sind“, erklärte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Denn einzeln, ergänzte sie, seien diese möglicherweise nicht in der Lage, gute Arbeitsbedingungen auszuhandeln: „Ein gemeinsames Vorgehen bei Tarifverhandlungen eignet sich als Instrument, um diese Bedingungen zu verbessern.“ 
 
Als „Meilenstein“ und „unionsrechtlichen Paradigmenwechsel“ wertete Karin Schulze Buschoff, Leiterin der Abteilung Arbeitsmarktpolitik im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) die Leitlinien. Bemerkenswert sei insbesondere, dass die Kommission die Schutzbedürftigkeit über das Primat des Kartellrechts stelle: „Der Sozialschutz stand bisher eher nicht im Fokus“. 

Schulze Buschoff, die vor ihrer Zeit im WSI bereits im DGB und im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zu Selbstständigen arbeitete, veranschaulichte anhand von Daten die Schutzbedürftigkeit: Solo-Selbstständige haben im Median monatlich rund 550 Euro weniger zur Verfügung als abhängig Beschäftigte (1255 Euro netto versus 1800). Nahezu jeder zweite (44 Prozent) gibt zudem an, die Pandemie habe sich negativ ausgewirkt. Zugleich sind Solo-Selbstständige oft hoch qualifiziert – und hoch motiviert. Die WSI-Forscherin berichtete von Interviews in den Corona-betroffenen Branchen Tourismus, Beauty, Gastgewerbe (Working Paper Selbstständig in der Krise: www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=9807): „Der unglaubliche Durchhaltewillen hat uns wirklich beeindruckt“. Als größte Baustelle nannte sie die mangelnde Absicherung im Alter. Die Ampelkoalition habe eine Pflicht zur Altersvorsorge mit Wahlfreiheit zwar vereinbart, geschehen sei bisher nichts. Auch in der Sozialversicherung wie im Arbeitsrecht gäbe es Reformbedarf. Auf die Frage, ob Solo-Selbstständige überhaupt für Zahlungen in das Sozialversicherungssystem offen seien, antwortete sie: Tatsächlich verstünden sich viele selbst als Unternehmer und setzten auf Eigenverantwortung. Aus dem Publikum kam dazu aber auch Widerspruch. 

Viele Selbstständige scheuen sich vor Honorarverhandlungen

Die Leiterin des Verdi-Referats Selbstständige, Veronika Mirschel, berichtete aus ihren Beratungen, in denen die Frage, wie man sich durch den Monat bringt, sehr häufig im Vordergrund stehe.  „Über Geld zu reden“ sei ein heikles Thema; vielen Selbstständigen fielen Honorarverhandlungen schwer. „Der Markt muss transparenter werden“, sagte Mirschel. Weil auch Honorarempfehlungen gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen, seien veröffentlichte Honorarumfragen gut, wie auch das Haus der Selbstständigen 2022 eine durchführte. Ein weiterer Tipp: Selbstständige können Auftraggebern eine Transparenzkarte mitliefern, die festhält, welche Ausgaben bei den Honoraren mitbedacht werden müssten. Als wenige Beispiele für feste Honorare nannte Mirschel den in einer Trägerzulassungsverordnung geregelten Stundensatz für Integrationskurse sowie eine Berliner Rechtsverordnung zur Bezahlung in Volkshochschulen und Musikschulen. Weitere Regelungen finden sich im Bereich Medien und Kultur, in Form des für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschaffenen Paragraf 12 a Tarifvertragsgesetz und im Urhebervertragsrecht.

Wasser in den Wein goss in Bezug auf die EU-Leitlinien Arbeitsrechtler Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science. Sie führten nicht zwangsläufig zu Konsequenzen für nationales Recht, stellte er in einem vom Haus der Selbstständigen beauftragten Gutachten („Reformbedarf kollektivrechtlicher Regelungsmöglichkeiten aus Sicht von Soloselbstständigen“) fest. Immerhin könnten sich Mitgliedstaaten nun nicht mehr darauf zurückziehen, dass wegen EU-Bestimmungen tarifrechtlich nichts möglich ist. Von der Gesamtlage zum Thema Soloselbstständige zeigte sich der Arbeitsrechtler indes ernüchtert: „Neue Denkmodelle sind nicht erkennbar.“ Daher fragte er, ob nicht besser mehr Solo-Selbstständige zu abhängig Beschäftigten werden sollten?“ Etwa die Hälfte falle – indes nach sehr alten Zahlen – im Grunde ohnehin in diese Kategorie.

Die Festanstellung sieht ver.di-Justiziar Valentin Döring als das Normalarbeitsverhältnis. „Aber wir treten auch für echte Selbstständigkeit ein“, erklärte er auf dem Abschlusspodium. Gute Bedingungen brauchen beide. Döring kündigte an, auf Basis der EU-Leitlinien zu verhandeln – etwa mit den Zeitungsverlegern, die sich bisher stets auf einen Verstoß gegen das Kartellrecht berufen hätten, und: „Wir als Verdi haben viel Erfahrung mit Verhandlungen für Solo-Selbstständige.“ Auch Arbeitsrechtler Achim Seifert (Friedrich-Schiller-Universität Jena) riet zu Vereinbarungen, die über Stundensätze durchaus hinausgehen dürften: Dem Wortlaut der Leitlinien nach seien auch Verhandlungen zu Urlaub, Krankheit und ähnlichem denkbar. Wenn es gelinge, solche Bedingungen zu vereinbaren, würden diese auf den „Markt durchschlagen“. Wenn – und dieser Einwurf fiel mehrfach – die Leitlinien einer etwaigen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) tatsächlich standhalten.

Wir brauchen ein digitales Zugangsrecht

Die Gewerkschaften sollten die Gunst der Stunde nutzen, um Selbstständige stärker zu organisieren – „sonst wird die Gunst der Stunde von anderen genutzt“, so hatte es Karin Schulze Buschoff formuliert. „Wir brauchen ein digitales Zugangsrecht“, forderte Johanna Wenckebach; und erinnerte daran, dass der Entwurf eines modernen Betriebsverfassungsgesetzes vom DGB und seinen Mitgliedgewerkschaften dieses vorsehe. Für kollektives Handeln sei zudem ein Zugriffsrecht auf Algorithmen entscheidend: „In der Plattformwirtschaft bestimmt Künstliche Intelligenz, wer welchen Auftrag bekommt. Transparenz ist unerlässlich.“

Der für Tarifvertrags-, Mindestlohn- und Entsenderecht zuständige Referatsleiter im Bundesarbeitsministerium, Christian Riechert, ließ durchblicken: Ein digitales Zugangsrecht – koalitionsspezifisch, betrieblich, auch zur Mitgliedergewinnung sei in Arbeit, allerdings im Tarifvertragsgesetz. Er sei zuversichtlich, dass bis Ende des Halbjahres ein erster Vorschlag vorliegt.

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