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Zitat Malte Lübker: Deutschland braucht einen angemessenen Mindestlohn im Einklang mit der EU-Richtlinie. Damit die Mindestlohnkommission dies umsetzen kann, gehört die europäische Zielsetzung auch in das deutsche Mindestlohngesetz. Service aktuell

Mindestlöhne: Zuwächse in Europa – und ein eigenartiges Spiel in Deutschland

Die spürbar steigenden Mindestlöhne in vielen EU-Ländern sind ein Schritt Richtung sozialer Gerechtigkeit. Deutschland bleibt zurück. Es ist Zeit für Reformen am Mindestlohngesetz, schreibt Malte Lübker.

[18.03.2024]

Die Mindestlöhne in der Europäischen Union steigen auf breiter Front: Im Median beträgt das Plus gegenüber dem Vorjahr satte 9,7 Prozent. Ganz vorne mit dabei sind viele osteuropäische Länder, aber auch Malta, Irland und die Niederlande haben ihre Mindestlöhne um mehr als 10 Prozent angehoben. Die Zuwächse relativieren sich, wenn man die steigenden Lebenshaltungskosten gegenrechnet – aber sie verschwinden nicht ganz. In der überwiegenden Mehrheit der EU-Länder steigt auch die Kaufkraft des Mindestlohns, sodass im Median ein reales Plus von 2,5 Prozent zu Buche schlägt. Dies bringt eine gewisse Entlastung am unteren Rand der Lohnverteilung, besonders vor dem Hintergrund ansonsten stagnierender oder fallender Reallöhne.

Diese positive Entwicklung ist auch auf die Europäische Mindestlohnrichtlinie zurückzuführen, die in vielen Ländern eine Neuausrichtung der nationalen Mindestlohnpolitiken angestoßen hat. Besonders einflussreich ist die Vorgabe, dass alle Mitgliedsländer künftig bei der „Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde“ legen. Wie hoch diese sind, bleibt dem einzelnen Land überlassen. Trotzdem haben sich die in der Richtlinie verankerten Werte von 60 Prozent des Medianlohns und 50 Prozent des Durchschnittslohns durchgesetzt. So strebt beispielsweise Irland bis zum Jahr 2026 das erstgenannte Ziel an, Estland will bis 2027 das zweitgenannte Ziel erreichen – und Bulgarien hat dies bereits gesetzlich verankert.

In diesem Umfeld macht Deutschland derzeit eine schlechte Figur: Mit der Mini-Erhöhung des Mindestlohns von 12,00 auf 12,41 Euro zum Jahreswechsel liegt Deutschland mit einem Plus von 3,4 Prozent im europäischen Vergleich weit hinten; nur Belgien weist mit einem nominalen Plus von zwei Prozent einen noch langsameren Anstieg auf. Während Deutschland mit 12,00 Euro im Vorjahr noch den zweiten Platz nach Luxemburg (derzeit 14,86 Euro) innehatte, sind die Niederlande (13,27 Euro) und Irland (12,70 Euro) an Deutschland vorbeigezogen. Da die Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter*innen auch für 2025 bereits eine Erhöhung um nur 41 Cent beschlossen hat, dürfte die Bundesrepublik im kommenden Jahr weiter zurückfallen.

Während Deutschland auf europäischer Ebene einer der lautesten Fürsprecher der Mindestlohnrichtlinie war, vollzieht sich hierzulande bei ihrer Umsetzung – die bis November 2024 abgeschlossen sein muss – ein eigenartiges Spiel, bei dem die relevanten Akteure gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen. So argumentiert der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages, dass sich das aktuelle Mindestlohngesetz europarechtskonform auslegen lässt. Dies erfordert, dass die Mindestlohnkommission künftig den gesamten Inhalt der Richtlinie in das kleine Wort „Gesamtabwägung“ hineinliest. Der Arbeitsminister konstatiert, dass folglich für ihn kein Handlungsbedarf besteht. Und die Mehrheit der Mindestlohnkommission hat recht unverblümt klar gemacht, dass sie auf das Europarecht pfeift und auch künftig nur die im Gesetzestext explizit genannten Kriterien berücksichtigen wird.

Der einzige Ausweg aus der verfahrenen Situation ist, Rechtsklarheit zu schaffen: Was ohnehin gilt, gehört auch in das deutsche Mindestlohngesetz. Außerdem muss die Bundesregierung Farbe bekennen, wie sie es mit dem 60-Prozent-Kriterium hält. Nicht nur in Gewerkschaftskreisen wird gefordert, dies der Mindestlohnkommission als künftigen Richtwert vorzugeben. Auch in der Politik gibt es hierfür zwei prominente Fürsprecher: Hubertus Heil und Olaf Scholz, die eine entsprechende Gesetzesänderung bereits im März 2021 gefordert haben. Es ist Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen.

Dr. Malte Lübker ist Referatsleiter für Tarif- und Einkommensanalysen am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

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