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Johanna Wenckebach Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: „Arbeitszeiterfassung schützt die Gesundheit und ist fair."

Ausgabe 03/2023

Johanna Wenckebach, Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts, erklärt, warum die Arbeitszeiterfassung im Arbeitsschutzgesetz besser aufgehoben ist.

Das Bundesarbeitsministerium hat im April einen Entwurf für eine neue gesetzliche Regulierung der Arbeitszeiterfassung vorgelegt. Es geht darum, der Arbeit gerade in digitalen Zeiten Grenzen zu setzen, jede geleistete Arbeitsminute zu vergüten und Beschäftigten ein Instrument zu geben, mit dem sie ihre Rechte auch durchsetzen können.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits 2019 deutlich gemacht: Beschäftigte haben ein Recht auf Gesundheit und faire Bezahlung. Diese Rechte müssen sie auch in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis
durchsetzen können. Vor überlangen Arbeitszeiten können sie sich nur schützen, wenn diese erfasst werden. Daher stellte der EuGH fest, dass der Arbeitgeber ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ zur Erfassung der Arbeitszeit zur Verfügung stellen muss. Überlange Arbeitszeiten machen krank, bei Überstunden steigt das Unfallrisiko. Beim Streit um die Erfassung der Arbeitszeit geht es aber auch um Geld: Gibt es Streit um die Bezahlung von Überstunden, müssen Beschäftigte ihre geleistete Arbeit jenseits der vertraglichen Pflichten nachweisen. Das geht nur, wenn Arbeitszeit auch erfasst wird.

Die Entscheidung des EuGH sorgte für große Aufregung. Der Ruf nach dem Gesetzgeber wurde laut. Aufhänger des Streits war und ist das geltende Recht: Paragraf 16 Arbeitszeitgesetz verpflichtet Arbeitgeber, „die über die werktägliche Arbeitszeit (…) hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen“. Das Bundesarbeitsgericht machte nun im September 2022 deutlich, dass Arbeitgeber bereits nach dem in Deutschland geltenden Recht im vom EuGH aufgezeigten Umfang zur Erfassung der Arbeitszeit verpflichtet sind. Nämlich aufgrund des Arbeitsschutzgesetzes. Angesichts der Bedeutung der Arbeitszeiterfassung für den Gesundheitsschutz ein nahe liegender Schluss.

Dieses Urteil sorgte für noch mehr Wirbel. Ein „Paukenschlagurteil“, mit dem das Gericht „den Gesetzgeber links überholt“ habe, war in der Presse zu lesen. Stets wurde in der öffentlichen Debatte auch das Bild „zurück zur Stechuhr“ bemüht, das die Zeiterfassung als starr und altbacken stigmatisiert – unvereinbar mit flexiblen Arbeitszeiten oder gar mobilem Arbeiten. Ein Mythos, der nichts mit moderner Zeiterfassung zu tun hat. Längst sind niedrigschwellige digitale Zeiterfassungssysteme auf dem Markt, mit denen sich die rechtlichen Vorgaben leicht erfüllen lassen. Gerade in einer digitalisierten Arbeitswelt kann Zeiterfassung verhindern, dass Menschen im wahrsten Sinne des Wortes ruhelos arbeiten müssen. Den Arbeitgeberverbänden sind tägliche Höchstarbeits- und Ruhezeiten, die deutsches und europäisches Recht vorschreiben, ein Dorn im Auge. Auch CDU/CSU und die FDP halten diese Begrenzung von Arbeit für „nicht mehr zeitgemäß“.

Insofern ist es beunruhigend, dass der Vorschlag aus dem Bundesarbeitsministerium die Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz regeln will – und nicht dort, wo das Bundesarbeitsgericht sie zu Recht sieht: im
Arbeitsschutzgesetz. Die Mittelstandsunion nannte den Regulierungsvorschlag einen „Bürokratie-Tsunami“ und forderte im Einklang mit der FDP, die Flexibilisierung der Höchstarbeitszeit anzugehen. Es wird sehr genau zu verfolgen sein, ob am Ende des nun anstehenden parlamentarischen Prozesses gesetzliche Regeln stehen, die den Gesundheitsschutz stärken, Beschäftigte vor Entgrenzung schützen und helfen, die Bezahlung geleisteter Überstunden durchzusetzen – oder ob sogar neue Ausnahmen geschaffen werden, die der Entgrenzung von Arbeit Tür und Tor öffnen.


JOHANNA WENCKEBACH ist Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung.

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