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Ausufernde Arbeitszeiten belasten Beschäftigte Böckler Impuls

Arbeitswelt: Ausufernde Arbeitszeiten belasten Beschäftigte

Ausgabe 17/2021

Das Sondierungspapier einer möglichen Ampelkoalition skizziert Ansätze, das Arbeitszeitgesetz aufzuweichen. Doch wer die tägliche Höchstarbeitszeit verlängert und Ruhezeiten verkürzt, schadet der Gesundheit der Beschäftigten.

Digitalisierung und Homeoffice ermöglichen, zu jeder Zeit und an fast jedem Ort zu arbeiten. Flexibilität heißt das Motto der Stunde. Wird das Arbeitszeitgesetz dem noch gerecht? In ihren aktuellen Sondierungen haben SPD, Grüne und FDP über eine Reform des Gesetzes gesprochen, unter anderem sollen längere tägliche Höchstarbeitszeiten ermöglicht werden. Das könnte zulasten der Beschäftigten gehen, wie eine Analyse von Yvonne Lott und Elke Ahlers aus dem WSI zeigt. „Das bestehende Arbeitszeitgesetz ist für eine gesunderhaltende und vereinbarkeitsfreundliche Flexibilisierung der Arbeitszeit notwendig“, heißt es in der Studie. Zusätzlich sei eine gesetzlich geregelte Arbeitszeiterfassung sinnvoll, wie sie der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil verfügt hat. Die Forscherinnen haben untersucht, welche Folgen flexible Arbeitszeiten für die Gesundheit und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben haben können. Dazu haben sie die aktuelle Forschung sowie die Ergebnisse der fünften Welle der HBS-Erwerbspersonenbefragung ausgewertet. 

Verschiedene politische Akteure drängen auf eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, allerdings mit ganz unterschiedlicher Stoßrichtung. Die Gewerkschaften, die Grünen, die SPD und die Linken fordern, dass Beschäftigte stärker selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen sollten. Die FDP will dagegen das Arbeitszeitgesetz lockern, um längere tägliche Arbeitszeiten zu erlauben. Dies ist laut Wahlprogramm nötig, um mit dem wachsenden internationalen Wettbewerb mithalten und individualisierte Kundenwünsche erfüllen zu können. Ein Teil dieser Forderungen findet sich im gemeinsamen Sondierungspapier mit SPD und Grünen wieder, wo es heißt, dass eine „Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ über Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen geschaffen werden soll.

Personalnot ist Gift

Wenn Beschäftigte über ihre Arbeitszeit mitentscheiden können, wirkt sich das in der Regel positiv auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben aus, wie eine Reihe von Studien zeigt. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein. Wenn Beschäftigte im Homeoffice dauernd Überstunden leisten und ständig erreichbar sein müssen, leidet darunter die Work-Life-Balance. Flexibles Arbeiten ist vor allem problematisch in Betrieben mit unzureichender Personaldecke, häufiger Projektarbeit und knappen Deadlines. „Personalengpässe sind ein wahres Gift für die Erholung“, heißt es in der Analyse. Nur 44 Prozent der Beschäftigten geben an, sich von der Arbeit zu erholen, wenn Personal fehlt. Reicht das Personal aus, sind dies 63 Prozent. 
Leidet die Erholung, weil es schwerfällt, nach Feierabend auch wirklich komplett „abzuschalten“, begünstigt das nach dem Stand der arbeitsmedizinischen Forschung psychische Beschwerden und Erkrankungen, etwa Burnout. Insbesondere für Mütter stellen Überstunden und unplanbare Arbeitszeiten eine große Belastung dar, da sie häufig zusätzlich einen Großteil der Kinderbetreuung übernehmen. 

Ob zeit- und ortsflexibles Arbeiten den Beschäftigten nützt oder schadet, hänge wesentlich von den Arbeitsbedingungen im Betrieb und der Unternehmenskultur ab, aber auch von den gesetzlichen Rahmenbedingungen, erklären Lott und Ahlers. Geschützt werden könnten Beschäftigte durch die Erfassung der Arbeitszeit. Das gelte auch oder gerade für diejenigen, die mobil arbeiten. Nach Daten der HBS-Erwerbspersonenbefragung leisten Beschäftigte ohne Zeiterfassung im Homeoffice nicht nur mehr Überstunden, sie sind auch weniger erholt. Wird die Arbeitszeit nicht erfasst, geben nur 46 Prozent an, dass sie sich von der Arbeit erholen. Wird die Arbeitszeit von den Beschäftigten selbst dokumentiert, sagen dies 50 Prozent. Und wenn die Arbeitszeit betrieblich erfasst wird, sind es 58 Prozent. Beschäftigte im Homeoffice betrachteten oftmals nur die Stunden als Arbeitszeit, in denen sie produktiv arbeiten, und nicht etwa die Zeit, die sie unabhängig vom Arbeitsergebnis tatsächlich aufgewandt haben, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Die Folge: mehr Überstunden und weniger Erholung. Besser erholt seien Beschäftigte, wenn die Arbeitszeit auf betrieblicher Ebene dokumentiert wird, also allgemeingültig und für alle im Betrieb. Allerdings kommen solche Regelungen bisher nur einer Minderheit zugute – am häufigsten noch in mitbestimmten und tarifgebundenen Betrieben: In Betrieben mit Betriebsrat geben 32 Prozent an, dass ihre Arbeitszeit im Homeoffice betrieblich erfasst wird, in Betrieben ohne Arbeitnehmervertretung sind es nur 19 Prozent. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Beschäftigten mit und ohne Tarifvertrag. 

Verpflichtende Zeiterfassung

Eine gesetzliche Pflicht zur Zeiterfassung – wie vom EuGH im Jahr 2019 vorgeschrieben – sei unerlässlich, um mehr Beschäftigte, vor allem jene in nicht mitbestimmten Betrieben, zu schützen. Gleichzeitig müsse die Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit und die Einhaltung von Ruhezeiten gewährleistet bleiben, so die Forscherinnen. „Eine vereinbarkeits- und gesundheitsförderliche Flexibilisierung der Arbeitszeit hängt sowohl von einem starken Arbeitszeitgesetz und Arbeitsschutzgesetz als auch von einer transparenten und im Betrieb verbindlich geregelten Arbeitszeiterfassung ab“, schreiben Lott und Ahlers.

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