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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Zu viel Ungleichheit schadet uns"

Ausgabe 03/2015

Sozialökonom Till van Treeck über die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und ihre ökonomischen Folgen. Das Gespräch führten Margarete Hasel und Kay Meiners

Wenn von Ungleichheit die Rede ist, wird häufig auf den „Gini-Koeffizienten“ verwiesen, eine Zahl, die die Ungleichheit der Einkommen misst. Dieses Maß ist in Deutschland in 30 Jahren von rund 0,25 auf 0,30 gestiegen. Ein Grund zur Panik? 

Der Gini-Koeffizient für die verfügbaren Haushaltseinkommen ist nur eines von vielen Maßen für die Ungleichheit, und noch dazu ein sehr grobes. Insgesamt bietet die Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland aus meiner Sicht in der Tat Grund zur Besorgnis.

Der Gini-Koeffizient ist das, was Mathematiker ein „Streumaß“ nennen; sie sagt nichts über den Lebensstandard. Äthiopien hat einen ähnlichen Wert wie Deutschland. 

Ein Streumaß sagt nichts über die durchschnittlichen Einkommen und die soziale Realität in einem Land aus. Es sagt nichts darüber aus, ob in einem Land absolute Armut herrscht oder nur relative. Diese Abstraktheit ist sicher eine seiner Schwächen. Die Entwicklung bei den Haushaltseinkommen in Deutschland ist dennoch ein Anlass zur Besorgnis, denn sie zeigt eine Tendenz an: hin zu mehr Ungleichheit. Hinzu kommt, dass der Gini-Koeffizient in Deutschland bis zur Finanzkrise 2008 stärker als in fast allen Industrieländern angestiegen ist. 

Sie sind der Meinung, dass der Gini-Koeffizient die Entwicklung in Deutschland zu rosig darstellt, und behaupten, die Realität sei schlimmer. Warum?

Die privaten Haushaltseinkommen, die der Gini-Koeffizient misst, sind nur ein Teil der gesamtwirtschaftlichen Einkommen. Ein anderer Teil wird nicht in Form von Löhnen, ausgeschütteten Gewinnen oder Zinsen an die Haushalte verteilt, sondern verbleibt im Unternehmenssektor – und schlägt sich somit auch nicht in einem höheren Gini-Koeffizienten nieder. Das nennen wir den Unternehmensschleier. 

Die Gewerkschaften fordern gern, Gewinne nicht auszuschütten, sondern im Unternehmen zu belassen. Sie wollen eine nachhaltige Unternehmenspolitik, die nicht am kurzfristigen Shareholde-Value ausgerichtet ist. 

Ja – aber das gilt nur, wenn auch investiert wird. Der Unternehmenssektor hat in den vergangenen 15 Jahren mehr einbehalten, als notwendig war für Investitionen. Der Unternehmenssektor bildete also Geldvermögen. Seit Anfang der 2000er Jahre ist in Deutschland die Lohnquote sehr stark – um zwischenzeitlich etwa fünf Prozentpunkte – gefallen. Spiegelbildlich sind die Gewinne gestiegen, die im Unternehmenssektor blieben. Wenn sie an die Eigentümer der Unternehmen ausgeschüttet worden wären, wäre auch die Ungleichheit der Haushaltseinkommen stärker gestiegen. Wären sie dagegen in Form von Löhnen an die Haushalte gezahlt worden, hätte das die Konsumnachfrage gestärkt, aber die Investitionsnachfrage höchstwahrscheinlich nicht geschwächt.

Unternehmen, die wettbewerbsfähig sind, verdienen gutes Geld und erwirtschaften Überschüsse. Rücklagen können unternehmenspolitisch doch sinnvoll sein. 

Ja – aber makroökonomisch können sie schädlich sein. Die Wettbewerbsfähigkeit erklärt, warum sich in Deutschland die Exporte so gut entwickelt haben. Nichts spricht dagegen, dass deutsche Unternehmen profitabel sind und auch hohe Gewinne machen. Nur müssen diese Einkommen auch ausgegeben werden. Wenn der 
Unternehmenssektor seine hohen Gewinne an den privaten Haushaltssektor weitergegeben hätte, hätte Deutschland zwar auch viel exportiert, aber auch mehr importiert und nicht diese Leistungsbilanzüberschüsse erzielt.

Beispiel Griechenland: So viele Waren aus Griechenland hätten wir kaum konsumieren können. Wie viel Schafskäse und Oliven sollen wir kaufen?

Es ist ein häufiges Missverständnis, dass von strukturellen Problemen in anderen Ländern abgelenkt werden soll, wenn der deutsche Exportüberschuss kritisiert wird. Natürlich muss Griechenland sein Wettbewerbsproblem lösen, genauso muss Deutschland seine strukturellen Probleme lösen – die schwache Binnennachfrage und die zu große Abhängigkeit von Exportüberschüssen. 

Die ganze EU blickt nach Griechenland. Und in andere Südstaaten. Ist es eigentlich so, dass die EU erst wieder zur Ruhe kommt, wenn die Einkommens- und Lebensverhältnisse über alle Ländergrenzen hinweg angeglichen sind?

Nein, aus makroökonomischer Sicht kann eine Währungsunion auch stabil sein, wenn die Länder unterschiedlich reich sind. Dafür wäre es aber notwendig, dass die Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen abgebaut werden. Für Deutschland bedeutet das, dass wir mehr aus unseren Partnerländern importieren. 

Was wiederum voraussetzt, dass es dort etwas gibt, was wir auch nachfragen.

Ja, sicher. Wenn wir unsere Hausaufgaben machen, heißt das nicht, dass in Griechenland automatisch die Probleme gelöst sind. Dennoch: Deutschlands dauerhaft hoher Leistungsbilanzüberschuss trägt zur Destabilisierung der europäischen Wirtschaft bei.

Lassen Sie uns noch einmal auf den Gini-Koeffizienten kommen. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die Vernachlässigung des Unternehmensschleiers, sondern auch dagegen, dass er auf Selbstauskünften beruht. 

Ja, in der Regel basiert der Gini-Koeffizient auf freiwilligen Haushaltsbefragungen. Reiche Haushalte beteiligen sich daran jedoch äußerst ungern. Hinzu kommt, dass Steuern auf Dividenden wegen der Abgeltungssteuer von 2009 von den Banken anonym abgeführt werden. 

Wir wissen also kaum etwas über die Einkünfte der Superreichen. Gibt es Wege, der tatsächlichen Verteilung des Reichtums näherzukommen?

Wir brauchen bessere Methoden und griffigere Kennzahlen – sowohl für die wissenschaftliche wie für die politische Debatte. Das ist einer der Gründe, warum das Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty für so viel Wirbel sorgt. Das Neue an seiner Forschung ist vor allem die riesige Datengrundlage. Er hat keine Umfragedaten und Selbstauskünfte verwendet, wie wir das etwa vom Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) kennen, sondern offizielle Steuerstatistiken. Der große Vorteil: Damit kann man auch die hohen Einkommen und Vermögen ganz gut abdecken. Mithilfe von Pikettys World Top Incomes Database (WTID) kann man nun den Anteil der hohen Einkommen an den gesamten Haushaltseinkommen für eine Reihe von Ländern erstmals erfassen. Wobei Thomas Piketty den Fokus vor allem auf die Einkommensquoten der Superreichen legt.

Schützenhilfe in diese Richtung kam auch von der OECD und sogar vom IWF. 

Auch Autoren der OECD und des IWF verwenden teilweise die neue Datenbasis, die Piketty und seine Koautoren entwickelt haben. Dadurch wird viel neue Forschung überhaupt erst möglich. Bei den Arbeiten von OECD und IWF ging es um die Frage, welche Auswirkungen steigende Ungleichheit auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass dies zu niedrigerem und weniger stabilem Wachstum führt. Dass bei uns das Problem der absoluten Armut gelöst ist, bedeutet ja nicht, dass man sich nicht verstärkt Gedanken um die relative Armut machen muss. Dies gilt nicht nur aus moralischen, sondern auch aus ökonomischen Überlegungen heraus. 

Warum fällt das gesamte Wachstum geringer aus, wenn die relative Armut zunimmt? 

Wenn die Einkommen der unteren Einkommensgruppen fallen, sinken die Ausgaben für Bildung. Wenn sich immer weniger Menschen beispielsweise eine Universitätsausbildung leisten können, verschlechtert sich ihr Bildungserfolg. Also sinkt das Qualifikationsniveau in der Gesellschaft. So führt steigende Ungleichheit zu gesellschaftlichen Problemen – mit Nachteilen für die gesamte Gesellschaft. 

Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung haben unlängst auch zwei DIW-Wissenschaftler den Reichtum neu vermessen.

Das Problem an der Forschung, die Markus Grabka und Christian Westermeier vom DIW jetzt vorgelegt haben, ist, dass sie weiterhin auf freiwilligen Haushaltsbefragungen basiert. Dazu nehmen sie als Korrektiv die sogenannte Forbes-Liste, auf der Personen mit mehr als einer Milliarde Dollar Vermögen erfasst werden. Doch allein schon die Befunde, die sie mit diesem Ansatz zu Tage förderten, sind beeindruckend. 

Die Forbes-Liste verzeichnet 55 Deutsche unter den reichsten 200 …

... und erfasste für 2013 ein Nettovermögen von rund 230 Milliarden Euro. Aber alle Millionärshaushalte mit Vermögen von weniger als einer Milliarde Dollar werden nicht erfasst.

Wie wichtig sind 55 Superreiche, wenn man wissen will, ob die deutsche Gesellschaft auseinanderdriftet?

230 Milliarden Euro entsprechen etwa acht Prozent des Bruttoinlandsprodukt. Das sind keine Peanuts. Bei Grabka/Westermeier kommt jetzt raus, dass das obere eine Prozent über ein Drittel aller Vermögenswerte verfügt.

Sie lassen keinen Zweifel daran, dass Sie die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen erhöhen wollen – und Sie fordern eine andere Lohnpolitik. Wie weit soll das gehen? 

Eine Lehre der Krise ab 2007/2008 ist, dass die Masseneinkommen mittelfristig mindestens so schnell wachsen müssen wie die Produktivität oder die Wirtschaft insgesamt. Weil dies nicht der Fall war, hatten wir in Deutschland eine Konsumnachfrageschwäche. Denn viele Haushalte haben in den letzten 15 Jahren ihren Konsum eingeschränkt. In anderen Ländern, wie in den USA, hat es dazu geführt, dass die privaten Haushalte trotz stagnierender Einkünfte weiter konsumiert haben – auf Basis steigender Verschuldung. Beides sind keine stabilen makroökonomischen Modelle. 

Es müsste einen Wissenschaftler jetzt doch reizen, das optimale Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit herauszufinden, wo die makroökonomischen Effekte möglichst positiv sind. 

Ich bezweifle, ob das möglich ist. Aber mehr Gleichheit, als wir sie heute haben, ist sicher nicht schädlich, sondern stabilisiert die Wirtschaft. Es war Konsens in der Nachkriegsgesellschaft, dass eine demokratische Gesellschaft die Ungleichheit begrenzen muss. Leider ist dieser Konsens verloren gegangen.

Sie fordern deutlich höhere Abgaben auf Einkommen und Vermögen, und Sie schlagen vor, die Abgeltungssteuer von 25 Prozent auf Dividenden durch den individuellen Einkommenssteuersatz zu ersetzen. Das würde auch Facharbeiter und Kleinaktionäre treffen. Keine Angst, es zu übertreiben?

Ein grundsätzliches Akzeptanzproblem ungleichheitsreduzierender Steuern sehe ich nicht. Im Gegenteil: Ich sehe in Deutschland eine große Bereitschaft, die Ungleichheit zu reduzieren. Eine wichtige Frage ist, wen solche Steuern betreffen. Bis in die 1960er Jahre lag der Spitzensteuersatz in der Einkommens- und in der Erbschaftssteuer in den USA wie in Großbritannien streckenweise über 90 Prozent. Das war im Prinzip so etwas wie ein Höchstlohn. Die Hauptfunktion eines Spitzensteuersatzes von 90 Prozent ist nicht, 90 Prozent an den Staat zu geben, um damit Sozialleistungen zu finanzieren. Die Hauptfunktion ist schlicht, die Spitzengehälter zu deckeln. Mit Facharbeitern und Kleinaktionären hat das überhaupt nichts zu tun. 

Sie sagen, dass sogar eine Vermögenssteuer von null Prozent ein erheblicher Fortschritt wäre. Warum? 

Weil dadurch die Vermögen wenigstens erfasst würden und man ein realistisches Bild von der Vermögensverteilung bekäme. Eine demokratische Gesellschaft sollte dies wissen. 

Als Gegenthese zu Ihren Vorschlägen kann man formulieren, dass die europäischen Gesellschaften bereits heute die reichsten und egalitärsten sind, die es in der Geschichte gegeben hat. 

Klar ist, dass es auch eine zu geringe Ungleichheit geben kann. Das hat Keynes in seiner „Allgemeinen Theorie“ betont: Eine Gesellschaft, die vollständig gleich ist, wäre eine Gesellschaft, in der es zu wenige Anreize gibt, Leistung zu erbringen. Das würde mit vielen Ineffizienzen einhergehen. Aber von diesem Punkt sind wir weit entfernt, gerade nachdem die Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten fast überall gestiegen ist. Im Gegenteil: Mehr Gleichheit würde die Effizienz erhöhen.

ZUR PERSON

Till van Treeck, 34, ist seit 2013 Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Davor leitete er das Referat für Allgemeine Wirtschaftspolitik am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Dem Institut ist er als Senior Research Fellow weiter verbunden. Außerdem ist er im internationalen Forschungsnetzwerk Makroökonomie und Makropolitik (FMM) engagiert und gehört dem Vorstand der „Forschungsstelle für wissenschaftsbasierte gesellschaftliche Weiterentwicklung“ (FWGW) an, die Nordrhein-Westfalens Wissenschaftsministerin Svenja Schulze im vorigen Herbst ins Leben gerufen hat. Zu van Treecks Forschungsschwerpunkten gehören Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland und gesamtwirtschaftliche Folgen der Ungleichheit.

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