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Magazin Mitbestimmung

Sozialunion: Ungeliebtes Erbe der Krise

Ausgabe 03/2015

Eine europäische Arbeitslosenversicherung könnte den Euroraum stabiler und solidarischer machen. Doch die Debatte tritt auf der Stelle. Berlin bremst, Brüssel will keine neuen sozialpolitischen Experimente wagen. Von Eric Bonse

Es gibt Erbstücke, mit denen wollen die Nachfahren beim besten Willen nichts zu tun haben. Die europäische Arbeitslosenversicherung ist so ein Erbe. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2012 war sie in aller Munde. Halb Brüssel begeisterte sich für die Idee eines neuen solidarischen Finanzausgleichs in der Eurozone. Der frühere Ratspräsident Herman Van Rompuy versprach sich von der Arbeitslosenkasse einen Puffer gegen Wirtschaftskrisen und soziale Schocks. Der französische Staatschef François Hollande verlangte die Versicherung als Gegenleistung für Reformverträge, mit denen Kanzlerin Angela Merkel eine Agendapolitik in allen Euroländern erzwingen wollte. Die EU-Kommission arbeitete an ersten Plänen. 

Doch nun, da das Brüsseler Personal ausgewechselt wurde, will niemand mehr etwas von diesem Erbe der Krise wissen. Der neue Ratspräsident Donald Tusk interessiert sich nicht für den Euro; selbst mit dem Schuldenstreit um Griechenland möchte er nichts zu tun haben. Hollande hat mittlerweile andere Sorgen; er ist schon froh, wenn ihn Brüssel wegen des französischen Budgetdefizits in Ruhe lässt. Und die neue EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker hat andere Prioritäten. Statt einer Sozialunion plant sie eine Kapitalmarktunion. Juncker setzt auf Wirtschaft und Wachstum; die Arbeitslosenversicherung ist in Vergessenheit geraten.

DEFIZITE DER WÄHRUNGSUNION

Dabei hat die Eurokrise tiefe Verwüstungen in Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen, nicht nur in Griechenland. Die Arbeitslosigkeit in Europa ist immer noch nahe an historischen Rekordhöhen. Immer mehr Menschen wandern auf der Suche nach einem Job aus dem Süden nach Deutschland aus. Doch der Währungsunion fehlen die Instrumente, um Wirtschaftszyklen und Arbeitsmigration zu steuern.

Ohne solche Instrumente werde die Währungsunion niemals optimal funktionieren, warnt László Andor, der bis 2014 als EU-Sozialkommissar an dem Thema arbeitete. „Wir brauchen ein europäisches Sicherheitsnetz für die nationalen Sicherheitsnetze“, sagt er im Interview. Während seiner eigenen Amtszeit in Brüssel konnte sich der Ökonom aus Ungarn allerdings nicht durchsetzen. Vor allem Deutschland bremste. 

Nach massivem Druck aus Berlin blies die EU-Kommission das Projekt 2013 ab. Ohne eine Änderung des EU-Vertrags sei eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung nicht möglich, hieß es. In Wahrheit ging es der damals schwarz-gelben Bundesregierung aber wohl darum, jede Debatte über eine „Transferunion“ im Keim zu ersticken. Kurz vor der Bundestagswahl 2013 war eine Diskussion über mögliche deutsche Hilfen für griechische oder französische Arbeitslose unerwünscht.

Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass Deutschland der Zahlmeister wäre. Wenn es Anfang der 90er Jahre eine europäische Arbeitslosenversicherung gegeben hätte, so hätte auch Deutschland davon profitiert, glaubt Andor. Die gemeinsame Kasse solle auch keineswegs das deutsche Sozialversicherungssystem ersetzen, sondern es nur ergänzen. Das europäische Arbeitslosengeld könne zum Beispiel 40 Prozent des letzten Einkommens betragen und nach sechs Monaten auslaufen, so der Ex-Kommissar.

OPPOSITION DER SOZIALPOLITIKER

Rückendeckung bekommt Andor von Wirtschaftsforschern. Eine gemeinsame Kasse werde nicht zu einer Umverteilung von Arm zu Reich oder zu sinkenden Sozialstandards führen, sagt Ferdinand Fichtner vom DIW in Berlin. Vielmehr hätte sie vor der Krise dazu beigetragen, die Konjunktur in damals überhitzten Ländern wie Spanien abzukühlen und dem seinerzeit „kranken Mann“ Deutschland zu helfen. Möglich wäre dies durch die Schaffung eines europäischen Fonds, der von den nationalen Systemen finanziert und dann als Basissicherung genutzt wird. Ähnliche Überlegungen hat die Brüsseler Denkfabrik Bruegel angestellt. Bruegel-Forscher Grégory Claeys hat sogar eine Art Modellbaukasten entwickelt, mit dem man Kosten und Nutzen einer gemeinsamen Kasse simulieren kann. Auch in diesem ökonomischen Modell fällt die Belastung für Deutschland insgesamt bescheiden aus. 

Allerdings haben die Ökonomen ihre Rechnung ohne die Sozialpolitiker gemacht. Und die sind nicht begeistert. In seltener Einmütigkeit haben Arbeitgeber und Gewerkschaften in Deutschland die Pläne abgelehnt. In einem gemeinsamen Brief wiesen BDA und DGB im August 2014 darauf hin, dass die Bundesanstalt für Arbeit angesichts knapper Mittel nicht in der Lage sei, als konjunkturelle Stütze in anderen Ländern zu dienen. Sie wehren sich gegen eine „Zwangsjacke“, in die die historisch gewachsenen nationalen Systeme gepresst werden sollen.

An dieser Ablehnung hat sich bis heute nichts geändert. „Andor hat ein technisches Modell mit vielen Unwägbarkeiten entwickelt und so getan, als werde es niemandem wehtun“, kritisiert Wilhelm Adamy, Sozialexperte beim DGB-Bundesvorstand. Die deutsche Arbeitslosenversicherung könne heute „nicht einmal Konjunktureinbrüche wie 2008/09 wirksam abfedern, geschweige denn in der EU“, gibt er zu bedenken. Ähnlich klingt es beim Europäischen Gewerkschaftsbund in Brüssel. Im Exekutivausschuss des EGB kam die Arbeitslosenversicherung zwar dreimal zur Sprache – und wurde dreimal vertagt. Die sozialen Sicherungssysteme in der EU seien einfach zu unterschiedlich, gibt Sozialexpertin Claudia Menne zu bedenken. In Deutschland gibt es nur noch ein Jahr Arbeitslosengeld, in Belgien hingegen drei Jahre. Auch die Höhe ist verschieden. Eine gemeinsame Kasse würde „zu viel Druck in Richtung Harmonisierung schaffen“, fürchtet Menne.

TRANSFERUNION?

Allerdings gibt es schon jetzt Harmonisierungsdruck – nach unten. So drängt die EU-Kommission Frankreich und Italien, die Arbeitsmärkte zu flexibilisieren und die Lohnersatzleistungen zu kürzen. Auch in den sogenannten Programmländern der Eurokrise, Spanien, Portugal, Irland und Griechenland, betreibt Brüssel systematisch Sozialabbau. Andor fürchtet daher nicht ganz zu Unrecht, dass es ohne europäische Transfersysteme zu einem Abbau des Sozialstaats kommt. 

Gäbe es andere Mittel als eine europäische Arbeitslosenversicherung, um gegenzusteuern? Die EU-Kommission gibt auf diese Frage bisher keine Antwort. In einem Papier zur Reform der Währungsunion, das Kommissionschef Juncker beim EU-Gipfel im Februar vorgelegt hat, kommt das Thema „Soziales Europa“ überhaupt nicht mehr vor. Auch beim Stichwort „Automatische Stabilisatoren“, unter dem Ökonomen die Versicherungsproblematik diskutieren, ist Juncker sehr vorsichtig. Er stellt nur die Frage, ob die Eurozone ein eigenes Budget oder neue Institutionen brauche, gibt aber keine Antwort.

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