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Magazin Mitbestimmung

: SPEZIAL EUROKRISE Europa sitzt auf einem Pulverfass

Ausgabe 07+08/2010

EGB-POSITIONEN Sparpolitik und sinkende Löhne sollen die Kosten der Krise wieder hereinspielen. Gefragt ist ein Mehr an gemeinsamer Wirtschaftspolitik in der EU. Von Wolfgang Kowalsky

Von Wolfgang Kowalsky ist Referent beim Europäischen Gewerkschaftsbund in Brüssel.

Der Euro ist das Ergebnis politischen Willens überzeugter Europapolitiker. Sicherlich war es 1999 ein Geburtsfehler, anzunehmen, eine Währungsunion funktioniere allein mit einer Europäischen Zentralbank, ohne jegliche Abstimmung von 16 unterschiedlichen Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeitsmarkt- und Lohnpolitiken. Und dennoch: Eine "Exit-Option", ein Ausstieg aus der Währungsunion - wie Martin Höpner ihn nahelegt - hätte katastrophale Folgen, dies würde das europäische Institutionengefüge so erschüttern, dass kein Stein auf dem anderen bliebe.

Nach der dramatischen Erfahrung der Eurokrise müsste jetzt die Koordination angepackt werden. Aber es besteht keine Einigkeit - weder über den einzuschlagenden Weg noch über die Ziele. Immerhin zeugt das 750-Milliarden-Euro-Rettungspaket, das am zweiten Maiwochenende geschnürt wurde, vom aktuellen Bewusstsein der Regierenden, dass der Euro mehr ist als eine gemeinsame Währung.

Die deutsche Regierung hat mit ihrem Zögern und Lavieren eines klargemacht: Schon die Diskussion darüber, ein Land, das in Finanzmarktturbulenzen geraten ist, aus der Eurozone auszuschließen, untergräbt deren Stabilität. Eine Studie des Europäischen Parlaments, "The Cost of Non-Europe in the Crisis" ("Die Kosten nicht-europäischer Krisenlösungen"), vom Mai spricht von einem verlorenen Jahrzehnt und davon, dass sich die europäische Wirtschaft erst 2017 von der Krise erholen würde - sollten die Länder weiterhin fragmentiert agieren und die Politiken mangelhaft koordinieren.

EXPORTWELTMEISTER IN DER KRITIK_ Die Ungleichgewichte wachsen, weil Währungen in der Eurozone nicht auf- oder abgewertet werden können. Ein zentrales Instrument sind nun die Löhne: Deutschland hat durch eine Serie moderater Lohnabschlüsse exorbitante Exportüberschüsse erzielt und so seine Stellung verbessert. Da fragen die Ökonomen Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker zu Recht: "Wer hat stärker gegen die Regeln des Maastrichter Vertrages verstoßen, derjenige, der fünf Prozentpunkte über seinen Verhältnissen gelebt hat (wie Griechenland), oder der, der dreizehn Prozentpunkte unter seinen Verhältnissen gelebt hat (wie Deutschland)?"

Als Kehrseite dieser Medaille sank die Wettbewerbskraft südeuropäischer Euro-Länder, ohne dass die Abwertungsoption als Anpassungsinstrument zur Verfügung steht. Daher der wachsende Unmut über deutsche Exportüberschüsse und die Strafkomponente im Rettungspaket, denn der von der EU gewährte Kreditzins liegt höher als ein IWF-Kredit, um den "Sünder" Griechenland zu bestrafen. In dieser Situation kam der Begriff "European Economic Governance" wieder in Mode, der mit "europäische Wirtschaftsregierung" nur mangelhaft übersetzt wird. Auf jeden Fall behauptet der Europäische Rat am 17. Juni, er habe die Koordination der Wirtschaftspolitiken "verstärkt". Doch was will man? Ziel ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die Budgetsanierung. Nichts erfahren wir dagegen, wie sich Haushalts-, Steuer- und gar Lohnpolitik steuern ließen. Wenn so etwas wie eine "europäische Wirtschaftsregierung" derzeit in Konturen sichtbar wird, dann nur mit einer europaweiten Austeritätspolitik, die sich auf einseitige Sparpolitik kapriziert unter Drosselung öffentlicher Ausgaben, was auch den privaten Konsum abwürgen wird.

Gerade wegen der vorherrschenden Skepsis gegen mehr Annäherung müsste Europa stärker soziales Profil zeigen: So lautet eine zentrale Forderung des EGB, dass die sozialen Kompetenzen nicht als Wurmfortsatz, sondern proaktiv als höherrangig gegenüber den ökonomischen konzipiert werden müssen, um der EU auch ein Profil als Sozialunion zu geben. Faktisch werden ja die sozialpolitischen Kompetenzen der Mitgliedstaaten überwölbt (um nicht zu sagen ausgehöhlt) vom Wirken des Binnenmarkts - mit zum Teil negativen Auswirkungen auf das soziale Gefüge und das System industrieller Beziehungen.

Am schlimmsten ist die schleichende Aushöhlung der sozialen Grundrechte durch Binnenmarktregeln. Der EGB hat daher ein soziales Fortschrittsprotokoll vorgeschlagen und eine Revision der Entsenderichtlinie, um die gewachsenen Strukturen industrieller Beziehungen zu schützen. Notwendig ist auch Lohnkoordinierung, wie vom EMB propagiert. Leider aber finden selbst die SPD und die französischen Sozialisten (PS) nicht aus ihrer sozialpolitischen Sprachlosigkeit heraus. Ein gemeinsames Papier von Mitte Juni will zwar "einen europäischen Pakt für sozialen Fortschritt", konkret wird man nur bei der Forderung nach Mindestlöhnen.

FISKALUNION NÖTIG_ Unmöglich war es bisher auch, sich auf eine Koordinierung der Fiskalpolitiken zu einigen, so dass der Steuerwettbewerb nicht unterbunden wird. Ein Instrument wäre die Steuerharmonisierung, etwa durch Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung, stärkere Besteuerung hoher Einkommen oder die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, kurzum eine Fiskalunion. Ein weiteres Instrument wäre die Errichtung eines europäischen Finanzausgleichs - ein solcher existiert in Bundesstaaten wie den USA (mit 16 Prozent des BIP) und wirkt als automatischer Stabilisator. Mit dem derzeitigen EU-Haushalt (ein Prozent des BIP) ist ein solcher effizienter Finanzausgleich nicht machbar, und überdies wären Vertragsänderungen nötig. Ein zügig umsetzbarer Schritt hin zu einer Verstärkung der europäischen Solidarität wären Eurobonds, sodass die Finanzakteure nicht länger Extraprofite auf einzelne Mitgliedstaaten einkassieren können. Jedes einzelne Land hat keine Chance gegen die Finanzmärkte, aber eine stärkere finanzielle Solidarität zwischen den Mitgliedern könnte verhindern, dass die Situation unkontrollierbar wird.

Tatsächlich geschieht derzeit in Europa etwas anderes: Demokratisch gewählte Regierungen müssen eine Politik durchsetzen, die Aufschwung, Jobs und das soziale Europa gefährdet. Die Sparpolitik startete in Griechenland und breitete sich wie ein Ölteppich über Portugal, Spanien, Italien und Deutschland aus. Erheblicher Druck wurde von Europäischer Kommission und Europäischem Rat aufgebaut, um alle Mitgliedstaaten schnellstmöglich zu einer stromlinienförmigen, recht brutalen Austeritätspolitik zu drängen und damit zu einer verfrühten Exitstrategie, so als sei die Finanzkrise vorüber. Gleichzeitig mahnt die Kommission weiterhin eine Deregulierung der Arbeitsmärkte an. Wer für die Bankenrettung die Zeche zahlen soll, ist klar: die Masse der Arbeitnehmer, deren Lebensstandard sinken wird, und nicht die Verursacher - im Gegenteil nimmt die Zahl der Millionäre zu.

Damit ist der Weg gebahnt für das Hineinschlittern in eine Rezession: Absehbar wird die Sparpolitik die Binnennachfrage beschneiden und damit eine Abwärtsspirale in Gang setzen mit einem anämischen Wachstum zwischen null und zwei Prozent bei ansteigender Massen- und vor allem Jugendarbeitslosigkeit, allen voran in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien. Die Finanzmärkte haben diese Botschaft verstanden, sodass es für sie attraktiver ist, in die USA zu gehen, wo sich das Wachstum auf drei Prozent zubewegt. US-Präsident Obama warnt vor übereilter Rücknahme der Konjunkturstimuli, sein Berater, Nobelpreisträger Paul Krugman, sagt, dass eine europäische Währungsunion, die auf rigider Sparpolitik ohne Wachstum basiert, nicht nachhaltig sein könne. Deutschland leidet vielleicht am Trauma der Hyperinflation in der Weimarer Republik, aber das kann kein Grund sein, ganz Europa in Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit zu drängen.

Die Spar-Obsession macht es beispielsweise für Spanien schwierig, das noch vor der Krise ein ausgeglichenes Budget hatte, sich zu erholen. Orthodoxe Wirtschaftswissenschaftler verteidigen den Sparkurs mit dem Hinweis auf die Nervosität der Finanzmärkte, womit sie den Fetischcharakter der Märkte ungewollt bestätigen. Sie versprechen sich von der Austeritätspolitik Wachstum, beflügelt von dem niedrigen Eurokurs (der bei Einführung bei 0,85 Dollar lag und 2008 bei 1,55 Dollar). Sie übersehen dabei: Nur 37 Prozent des BIP der Euro-Länder ist Exporten nach außerhalb zu verdanken, 63 Prozent ist Binnennachfrage. Der Euro müsste schon ganz erheblich im Verhältnis zum Dollar sinken, damit die "externen" Exporte in einer solchen Situation Wachstum stimulieren.

John M. Keynes wies darauf hin, dass die Überschussländer für Ungleichgewichte genauso verantwortlich sind wie die Defizitländer; es gibt eine Ko-Verantwortung. Es wäre unverantwortlich, Griechenland mit seinen Finanzproblemen allein zu lassen. Die Verschuldung ist Symptom einer Krise, aber nicht die Ursache. Die Schulden stiegen sprunghaft an, weil die Rettungsaktionen in der Finanzkrise so kostspielig waren. Lohnmoderation hat mit dazu beigetragen, dass die Euro-Länder gespalten sind in eine Region mit hohen Schulden und eine mit hohem Sparniveau. Das führt zu Vertrauensverlust: Derzeit scheinen Länder außerhalb der Euro-Gruppe weniger zur Zielscheibe der Finanzmärkte zu werden, obwohl sie höhere Schuldenstände aufweisen.

CHANCE FÜR EUROPA_ Nach dem gescheiterten G20-Gipfel in Toronto Ende Juni wird die internationale Herangehensweise - sei es zur Finanzmarktregulierung oder zur Klimaregulierung - derzeit zum Synonym für Lähmung und Handlungsunfähigkeit. Das wäre eine Chance für europäische Lösungen, die die Spekulation und den Einfluss der Rating-Agenturen zurückdrängen und eine Finanztransaktionssteuer einführen. Doch aufgrund der Zögerlichkeit der Europäischen Kommission und des Rats kommt bislang niemand voran. Eine koordinierte europäische Industriepolitik zum Umsteuern auf eine CO2-arme Wirtschaft, ein Zurückführen des aufgeblähten Finanzsektors wären wichtige Schritte. Immerhin setzt hier ein vorsichtiges Umdenken bei EU-Kommission und -Parlament ein.

Dagegen beharrt die Kommission darauf, Schulden seien Ausdruck mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, und fordert eine extreme Flexibilität der Löhne und der angeblich zu rigiden Arbeitsmärkte. Der EGB hält es für inakzeptabel, dass diejenigen, die bereits die Zeche für die Finanzkrise gezahlt haben, nun auch noch den Gürtel enger schnallen sollen, wohingegen die Verursacher die Krise aussitzen und sich zurücklehnen, statt ihren Beitrag zu leisten.

Dasselbe Bild zeigt sich derzeit in vielen europäischen Ländern: Dort steigt die Arbeitslosigkeit, wachsen dramatisch die prekären Beschäftigungsverhältnisse und werden die Löhne im öffentlichen Sektor gekürzt - so in Lettland, Irland, Griechenland, Spanien, Rumänien (um 25 Prozent). Dazu kommen Kürzungen der Sozialleistungen in Dänemark, Irland und Großbritannien. Und nicht zuletzt empfiehlt die EU-Kommission, das Rentenalter zu erhöhen.

Derweil lässt man die Finanzmärkte so weiteragieren, als hätten sie nie das System zum Beinahe-Kollabieren gebracht. Und die Wende der EZB ist paradox: Jahrzehnte hat sie Preisstabilität empfohlen, nun wird der Nutzen fallender Preise zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gepriesen. Wir meinen: Diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt, da fallende Löhne und Preise die Binnennachfrage zerstören. Löhne können und dürfen nicht das einzige Anpassungsinstrument werden; Fiskal- und Steuerpolitiken müssen ihren Beitrag leisten. Andernfalls sitzt Europa bald auf einem Pulverfass. Es rumort in Spanien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Portugal, Frankreich, Lettland. Die Gefahr populistischer, regionalistischer und nationalistischer Reaktionen wächst. Der EGB hat für den 29. September zu europäischen Aktionen aufgerufen - die spanischen Gewerkschaften mobilisieren zum Generalstreik.


Mehr Informationen 

IMK Report 51: Gustav A. Horn, Torsten Niechoj, Silke Tober, Till van Treeck, Achim Truger: Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts: Nicht nur öffentliche, auch private Verschuldung zählt. IMK Report 51, Juli 2010. Download www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_51_2010.pdf

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