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Magazin Mitbestimmung

: Soziales Experiment

Ausgabe 01+02/2012

PARTIZIPATION Beim italienischen Brillenhersteller Luxottica erproben Gewerkschaften und Management ein neues Kooperationsmodell – mit mehr Beteiligungsrechten für Arbeitnehmer. Ein Vorbild für einen Neuanfang im Land? Von Michaela Namuth

MICHAELA NAMUTH ist Journalistin in Rom/Fotos: Luxottica

Am Eingang der Brillenfabrik steht die kleine Villa von „el patron“, wie die älteren Arbeiter ihren Chef noch heute nennen. Leonardo Del Vecchio, der betagte Gründer des Luxottica-Konzerns, übernachtet immer noch ab und zu hier in seinem Headquarter in den Dolomiten. Für den Ort Agordo bei Belluno ist die Brillenfabrik der Mittelpunkt des Lebens, eine Art Insel der Seligen. Auf Basis einer Vereinbarung mit den Gewerkschaften erhalten alle 3300 Beschäftigten Studiengeld für ihre Kinder und eine zusätzliche medizinische Versorgung. Das heitert das Arbeitsklima auf und beflügelt die Produktivität der Beschäftigten, die täglich Tausende von Brillengestellen montieren und Glaslinsen schleifen. Die Arbeitsplätze sind sicher. Keine der Luxottica-Fabriken wurde je geschlossen.

Im Rest des Landes sieht es weniger heiter aus. Italien gehört zu den Bankrottkandidaten der Eurozone. Die Industrie wird von Strukturproblemen gebeutelt, die – auch dank der Misswirtschaft der Berlusconi-Regierung – schon vielen Firmen den Todesstoß verpasst haben. 90 Prozent der italienischen Unternehmen beschäftigen weniger als 15 Personen und haben ohne Kapital für Investitionen in Export und Produktentwicklung kaum Chancen, auf dem globalisierten Markt zu bestehen. Von den großen Konzernen sind gerade mal Pirelli, Benetton und noch ein paar wenige übrig geblieben. In den halb leeren Montagehallen des Turiner Autokonzerns Fiat herrscht Untergangsstimmung. Das Management erpresst höhere Produktivität – das heißt weniger Pausen und mehr Sonderschichten – mit der Androhung der Fabrikschließung. Der Konzern will nicht mehr mit den Gewerkschaften verhandeln und ist aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten. Die Strategie des frontalen Konflikts kennzeichnet seit jeher die Position der Besitzerfamilie Agnelli und ihrer Manager. Jetzt geht es Fiat schlecht. In der eigenen Branche gilt der italienische Autobauer als auslaufendes Modell.

VERSTETIGUNG DER KONSULTATIONEN_ Luxottica hingegen geht es gut. Der Konzern ist mit über 60 000 Beschäftigten in Produktion und Vertrieb und einem Rekordumsatz von 5,8 Milliarden Euro im letzten Jahr inzwischen der weltweit größte Hersteller von Seh- und Sonnenbrillen. Er könnte auch ein Modell für die Erneuerung der Industriebeziehungen in Italien werden. Das zumindest hofft Valeria Fedeli, Präsidentin des europäischen Textilgewerkschaftsbundes ETUF:TCL und Vize-Generalsekretärin der italienischen FILCTEM – der größten Branchengewerkschaft der CGIL, in der sich Chemie, Textil und Energie zusammengeschlossen haben. Sie erklärt: „Luxottica setzt auf den Dialog. Und diesen Dialog brauchen wir, wenn wir neue Beteiligungsformen durchsetzen wollen.“ In der traditionell linksgerichteten CGIL, der größten italienischen Richtungsgewerkschaft, setzt sich diese Haltung der Kooperation auf Unternehmensebene immer stärker durch. Ihre neue Generalsekretärin, Susanna Camusso, gilt als Pragmatikerin. Bei ihrem Antritt vor einem Jahr sagte sie: „In unserer Gewerkschaft herrscht eine Idee der kollektiven Verantwortung.“ Bei ihr wird heute über Beteiligungsmodelle auf Unternehmensebene diskutiert – ein Thema, das bis vor wenigen Jahren so gut wie tabu war.

Deshalb ist die Kooperation zwischen dem Luxottica-Konzern und den Gewerkschaften ein wichtiges Experiment. Es begann 2009. Damals unterzeichneten die beiden Gewerkschaften CISL und UIL ein Abkommen mit der Berlusconi-Regierung, das Handwerkskammern und anderen Institutionen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten sind, Vertragskompetenzen zugesteht, die einen Teil der nationalen Tarifverhandlungen ersetzen sollen. Die CGIL weigerte sich zu unterzeichnen. Kurz darauf begannen die Gespräche bei Luxottica über ein Sozialpaket für die Beschäftigten. Bei dem Brillenhersteller blieb die CGIL am Verhandlungstisch sitzen. „Das Management schlug Maßnahmen vor, die die Tarifautonomie nicht infrage stellen, sondern ein zusätzliches Standbein zu Tarif- und Unternehmensverträgen sind“, erklärt Fedeli. Die Vereinbarungen für die 8000 Beschäftigten in Italien sehen Kinderkrippen im Betrieb, Einkaufsgutscheine für Lebensmittel, Schulbücher und Studiengeld für die Kinder und die Erstattung von Facharzt- und Zahnarztbesuchen vor, die die Italiener in der Regel aus eigener Tasche bezahlen müssen.

Alle Maßnahmen wurden zwischen Management, Belegschaftsvertretern und den drei Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL vereinbart. Von einem echten Beteiligungsmodell sind sie allerdings weit entfernt. Auch der paternalistische Charakter der Maßnahmen und die Gefahr, dass die Unternehmen – wie in den USA – den Sozialstaat ersetzen, ist eine Kritik, die Valeria Fedeli aus den eigenen Reihen zu hören bekommt. Davon lässt sie sich aber nicht aufhalten. „Wir sind auf dem richtigen Weg. Unser nächstes Ziel ist eine Institution, in der sich Unternehmens- und Arbeitnehmervertreter regelmäßig treffen“, erklärt sie. Diese Institution müsse nicht Aufsichtsrat heißen, es könne einfach ein bilateraler Ausschuss sein. „Wichtig ist, jetzt nicht stehen zu bleiben“, findet Fedeli.

ANSPRUCHSVOLLE QUALITÄTSPRODUKTION_ Eine neue Vereinbarung bei Luxottica, die erst vor ein paar Wochen abgeschlossen wurde, bestätigt sie in ihrer Meinung. Das neue Abkommen stellt eindeutig eine qualitative Verbesserung dar und stärkt die Rolle der betrieblichen Vertretungen, der „Rappresentanza sindacale unitaria“, kurz RSU, da diese für die Umsetzung der Vereinbarungen zuständig sind. Der zentrale Punkt ist die Einführung von neuen und weniger prekären Formen der Flexibilität. Die Beschäftigten, zu 60 Prozent Frauen, können ihren Arbeitsplatz künftig mit Familienmitgliedern oder arbeitslosen Ehemänner teilen. Auch die zeitlich begrenzten Saisonverträge werden abgeschafft. Wer keinen Vollzeitjob hat, kann dennoch einen unbefristeten Vertrag über eine begrenzte Stundenzahl abschließen, die über ein Zeitkonto organisiert werden. „Dadurch entfällt das Risiko und der Stress, den Vertrag immer wieder erneuern zu müssen“, erklärt Piergiorgio Angeli, verantwortlicher Manager für die Industriebeziehungen bei Luxottica. Er ist der Ansprechpartner für die Belegschaften und ihre Vertretungen.

„Der Konzern setzt auf inneren Zusammenhalt“, sagt er. Das ist zum einen die Philosophie des Firmengründers Del Vecchio, der den Beschäftigten seines Familienkonzerns immer gern das Wir-sind-alle-eine-große-Familie-Gefühl vermittelt. Zum anderen produziert Luxottica teure Marken wie Ray Ban, Chanel und Versace, und das bedeutet für die Beschäftigten, dass sie Spitzenqualität abliefern und immer flexiblere Arbeitszeiten akzeptieren müssen. Die Automatisierung bei der Herstellung einer Qualitätsbrille beträgt höchstens 15 Prozent, und die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen sich auf eine Vielzahl von komplexen Modellen einstellen. Das funktioniert bislang nur in Italien. Luxottica produziert hier 65 Prozent des Umsatzes, verkauft aber 65 Prozent in den USA. Das soll künftig auch so bleiben. Angeli fliegt jetzt zwar öfter auch nach China, wo Luxottica zwei Fabriken eröffnet hat. Die fertigen aber nur für den lokalen Markt. „Das ist eine Realität, die wir alle erst noch verstehen müssen“, sagt er.

DEUTSCHE MITBESTIMMUNG als VORBILD_ Luxottica ist eines der wenigen Unternehmen in Italien, das eine Verbindung zwischen der Qualität des Produkts und der Qualität der Produktion, sprich Arbeitsbedingungen, herstellt. Bis jetzt hat davon sowohl das Unternehmen als auch die Belegschaft profitiert. Es handelt sich um eine Art Gegenmodell zum Fiat-Konzern, wo konfliktorische Industriebeziehungen und dauernde Produktmängel zum Problem geworden sind. Der Industriesoziologe Luciano Gallo gibt zwar zu bedenken, dass der Druck, die Produktivität zu steigern und die Kosten zu senken, in der Autoindustrie besonders hoch ist. Er betont aber auch, dass man in Europa inzwischen begriffen habe, „dass die Beteiligung der Arbeitnehmer die Qualität des Produkts steigert. Das Ergebnis in verschiedenen deutschen Konzernen ist eindeutig: Sie haben es verstanden, die Effizienz zu steigern, indem sie die Gewerkschaften stärker involvieren.“

Auch Valeria Fedeli orientiert sich am deutschen Modell der Mitbestimmung. „Die italienischen Unternehmen sind allerdings noch weit davon entfernt, über eine Institutionalisierung von Arbeitnehmerbeteiligung zu diskutieren. Man kann mit ihnen Verträge abschließen, aber wenn man von einem Aufsichtsrat spricht, blocken sie sofort ab“, erklärt sie. Das Problem ist ihrer Erfahrung nach, dass sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Gewerkschaftsseite viele nicht wissen, wie das deutsche Modell funktioniert und welche Kompetenzen ein Aufsichtsrat hat. Auch kann eine Gewerkschaft wie die CGIL, die heute stärker denn je als politische Kraft in der Gesellschaft verankert ist, nicht einfach eine Geschichte hinter sich lassen, in der es immer mehr um Tarifkampf als um Beteiligung ging. Deshalb ist das Experiment Luxottica für Fedeli ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ihr Fazit: „Wenn wir ein europäisches Beteiligungsmodell durchsetzen wollen, brauchen wir nicht nur eine Harmonisierung der verschiedenen Kulturen, sondern auch konkrete Erfahrungen.“

Unternehmensprofil

Der Brillen-Multi

Der Luxottica-Konzern wurde 1961 von Leonardo Del Vecchio in Agordo-Belluno als kleines Zulieferunternehmen gegründet. Die Gegend am Fuß der Dolomiten war schon damals ein Zentrum der Glaslinsenfabrikation. Heute ist der Konzern mit über 60 000 Beschäftigten in Produktion und Vertrieb und einem Umsatz von 5,8 Milliarden Euro Weltmarktführer in der Herstellung von Seh- und Sonnenbrillen. Zu den eigenen Marken gehören Ray Ban, Persol und Vogue. Lizenzmarken sind unter anderem Prada, Chanel, Dolce & Gabbana, Donna Karan und Tiffany. In den sechs italienischen Niederlassungen fertigen 8000 Beschäftigte die hochpreisigen Modelle, der Rest der Produktion verteilt sich auf nordamerikanische und chinesische Standorte. Das Vertriebsnetz umfasst über 6000 Geschäfte, die über den Globus verteilt sind. Das erste Verkaufsnetz wurde in den 80er Jahren in Deutschland aufgebaut. Der Konzern, bei dem Del Vecchio Mehrheitseigner ist und die Deutsche Bank einen Minderheitsanteil hält, wird von einem Managerteam geleitet. Der gesamte Vertrieb und 90 Prozent der Produktionsschritte sind unter dem eigenen Dach geblieben – und damit auch das Know-how der Beschäftigten.

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