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Magazin Mitbestimmung

: Schuften trotz Schmerzen

Ausgabe 07/2003

Auf dem Bau und in vielen Dienstleistungsberufen wird auch heute noch hart gearbeitet. Die Folgen sind schmerzhaft für die Betroffenen - und teuer für die Allgemeinheit. Durch Vorsorge ließen sich Milliarden sparen. Ein Bericht von Christoph Mulitze

Von Christoph Mulitze. Der Autor arbeitet als Journalist in Düsseldorf.

Nach 25 Jahren hatte Dörthe Petersen* aus Lübeck die Nase gestrichen voll. Die Krankenpflegerin kündigte ihre Stellung in der Klinik, um beruflich ganz neu anzufangen. "Ich war total erschöpft, ich konnte nicht mehr", beschreibt sie ihren damaligen Zustand. Doch sie traf diese Entscheidung zu spät: Ihre Bandscheibe war an einigen Stellen schon so verschlissen, dass nur noch eine gleich bleibende Tätigkeit mit etwas Bewegung in Frage kam. Viele Möglichkeiten boten sich mit dieser Einschränkung nicht mehr. Ein Job als Reisebegleiterin wurde ihr angeboten, und Dörthe Petersen nahm ihn dankbar an.

Zwei Jahre lang fuhr die heute 46-Jährige im Bus mit. Dann ging es einfach nicht mehr. "Das viele Sitzen war zu anstrengend. Der Rücken schmerzte von Tag zu Tag mehr", berichtet sie. Alternativen fand sie nicht. Ihr Arzt riet ihr sogar davon ab, eine Umschulung zur Postbotin zu machen. Als der finanzielle Druck immer größer wurde, entschied sich die allein erziehende Mutter zweier Söhne, in ihren alten Beruf zurückzukehren. Seit Jahresanfang arbeitet sie wieder als Krankenpflegerin - allerdings nur noch in der Nachtwache, weil sie die als weniger stressig empfindet. Der Rücken bereitet derzeit keine größeren Probleme, auch die Schmerzen halten sich in Grenzen - dank täglicher Gymnastik und einer Spritzentherapie, die sie von Zeit zu Zeit über sich ergehen lässt. Ein Teil ihrer Lendenwirbelsäule ist aber inzwischen versteift. "Dort tut es jetzt weniger weh, aber dafür bin ich in der Bewegung eingeschränkt", sagt sie.

Dörthe Petersen ist kein Einzelfall. Sowohl in der Krankenpflege als auch in vielen anderen Berufen wird, trotz technischen Fortschritts, nach wie vor schwere körperliche Arbeit verrichtet. Gesundheitliche Schäden sind oft die Folgen jahrelanger Maloche. Rund jede dritte Erkrankung, schätzt der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaft, fällt dabei auf den Muskel-Skelett-Apparat. Für den Betroffenen ist das meistens äußerst schmerzhaft - und für die Volkswirtschaft ausgesprochen teuer. Eine Studie des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen (BKK) im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) kommt zu dem Schluss, dass durch arbeitsbedingte Erkrankungen im Jahr 1998 ein volkswirtschaftlicher Schaden von mindestens 28,4 Milliarden Euro entstanden ist: 14,9 Milliarden Euro Behandlungskosten und 13,5 Milliarden Euro indirekte Kosten durch Produktionsausfälle. Durch gezielte Prävention, die vor allem die gefährlichen Spritzenbelastungen bekämpfen würde, könnten allein bei den Behandlungskosten drei Milliarden Euro jährlich eingespart werden.

Schwere körperliche Anstrengungen, insbesondere das Heben von Lasten, sind vor allem noch im Baugewerbe, im Bergbau, im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Handel sowie in der Land- und Forstwirtschaft an der Tagesordnung. Und natürlich in der Krankenpflege, die mit mehr als 900000 Beschäftigten zu den größten Dienstleistungssektoren in Deutschland gehört. Viele leiden dort, wie Dörthe Petersen, unter häufigen oder sogar dauerhaften Rückenschmerzen. Das belegt eine Untersuchung der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) und der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Mehr als 1000 examinierte Pflegekräfte wurden für den "Gesundheitsreport 2000 Krankenpflege" über ihre Arbeitsbedingungen befragt. Das Ergebnis: 62,7 Prozent unterliegen einer hohen oder sehr hohen Belastung durch Heben oder Tragen und 52,1 Prozent durch Beugen und Verdrehung des Rumpfes. Von denjenigen Personen mit sehr hoher Wirbelsäulenbelastung leidet jeder Zweite unter starken Rückenschmerzen - fast doppelt so viele wie in der Gruppe mit geringer körperlicher Belastung.


Statt Maschinen helfen oft die Kollegen

Die meisten Pflegekräfte, so ein weiteres Ergebnis der Untersuchung, können heute bei der Arbeit auf Hebehilfen zurückgreifen. Viele verzichten in der Praxis aber auf die Apparate, weil sie nicht als Erleichterung angesehen werden oder oft nur eine Hilfe pro Station zur Verfügung steht. Sie jedes Mal herbeizuholen, wäre zu umständlich und schlicht zu zeitaufwändig. Technische Unterstützung beim Heben von Patienten - für Dörthe Petersen ist das eine Idee, die nur von Theoretikern stammen kann. "Wir arbeiten unter ständigem Zeitdruck. Sobald jemand klingelt, müssen wir zur Stelle sein. Wie sollen wir da noch so ein Gerät aus einem anderen Zimmer holen? Wir bräuchten mehr Personal. Denn der Kollege ist immer noch die beste Hebehilfe", so Dörthe Petersen.

Neben der Kranken- und Altenpflege zählt auch das Reinigungsgewerbe zu den Branchen, die auch heute noch mit hohen körperlichen Anstrengungen verbunden sind und in denen vor allem Frauen arbeiten. Die Belastungen durch das Stehen, Heben und Bücken sind vielfach Grund für körperliche Beschwerden. Wer beispielsweise in einer Schule putzt, muss hunderte Male am Tag Stühle hoch und anschließend wieder herunterstellen. Durch diese sich ständig wiederholenden Bewegungen sind Schmerzen im Schulter-Arm-System verbreitet. Dauerhafte Schäden kommen allerdings eher selten vor, weil viele Reinigungskräfte nur auf Teilzeitbasis arbeiten.


Ältere Mitarbeiter - ein nicht gelöstes Problem

Problematischer ist die Situation der Männer am Bau. Dort sind kaputte Gelenke, lädierte Bandscheiben, Meniskusschäden - je nach Einsatz und Berufsgruppe - an der Tagesordnung. Obwohl die Menge, die am Bau gehoben und getragen wird, sich insgesamt verringert hat. Trotzdem aber gibt es Berufsgruppen, die nach wie vor regelmäßig schwere Lasten heben müssen. Als körperlich besonders beansprucht gelten vor allem Zimmerer und Gerüstbauer. Nicht minder problematisch sind gesundheitliche Belastungen durch körperliche Zwangshaltungen. Maurer sind davon beispielsweise betroffen, Installateure, Anstreicher oder Fliesenleger. Stundenlang müssen sie hocken, knien oder sich bücken. Das ist anstrengend, belastet die Bandscheiben, die Gelenke und die Muskulatur - der körperliche Verschleiß setzt früher ein als in anderen Teilen der Bevölkerung.

"Eines unserer größten und noch nicht ansatzweise gelösten Probleme sind die älter werdenden Beschäftigten, die auf Grund der körperlich hohen Anforderungen am Bau nicht mehr voll einsatzfähig sind", sagt Bernd Hartmann, Abteilungsleiter für Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit bei der Bau-Berufsgenossenschaft in Hamburg. Es gebe zu wenig Ersatzarbeitsplätze und Umschulungen würden für ältere Mitarbeiter kaum angeboten.

Ein weiteres, ebenfalls nicht gelöstes Problem schließt sich daran an: die Anerkennung von Berufskrankheiten. Die meisten Mitarbeiter am Bau leiden unter funktionellen Störungen, die mit Schmerzen verbunden sind. Dauerhafte Schäden kommen dagegen relativ selten vor. Was aber keine dauerhaften Schäden hervorruft, wird in der Regel als Berufskrankheit nicht anerkannt. "Ältere Mitarbeiter sehen, wie sich ihre Wirbelsäule langsam verändert, sie haben Schmerzen und können nicht richtig arbeiten, aber als berufsunfähig werden sie nicht eingestuft. Das ist für viele nur schwer zu verstehen", sagt Hartmann. Der Arbeitsmediziner einer anderen Berufsgenossenschaft, der nicht namentlich zitiert werden möchte, bezeichnet die Liste an Berufskrankheiten und das dazugehörige Gesetzgebungsverfahren als "Politikum". Er selbst habe erlebt, "dass Krankheiten bewusst Jahre zu spät auf die Liste gesetzt worden seien, wenn sie faktisch keine Rolle mehr spielten."


Fast jeder Zweite leidet an Rückenschmerzen

Bei Vorsorgeuntersuchungen hat die Bau-Berufsgenossenschaft rund 4500 Mitarbeiter anonym nach ihrem Befinden befragt. Ergebnis: 45 Prozent der Beschäftigten gaben an, in den vergangenen vier Wochen Rückenschmerzen gehabt zu haben. Über Schulter-Nacken-Schmerzen klagten im gleichen Zeitraum 28 Prozent. Am Tag der Umfrage hatten 25 Prozent Rücken- und 15 Prozent Schulter-Nacken-Schmerzen. In allen Fällen nahmen die Klagen mit steigendem Alter zu. Passend zu den Umfragezahlen ist das durchschnittlich frühe Renteneintrittsalter in der Baubranche. Knapp zwei Drittel aller dort Beschäftigten scheiden nicht mit dem normalen Rentenalter aus dem Beruf. Der Frührentner ist im Durchschnitt nur 54 Jahre alt. Nach Hartmanns Angaben sind die allermeisten Frühverrentungen gesundheitlich begründet. "Zumindest für Gerüstbauer sehe ich auf Dauer keine Chance, dass das gesetzliche Rentenalter auch nur annähernd erreichbar sein wird."

Um das Renteneintrittsalter zu erhöhen, das Risiko der Erwerbsunfähigkeit zu verringern und die körperliche Fitness der Mitarbeiter am Bau zu verbessern, wurden die Vorsorgeprogramme in den vergangenen Jahren stetig ausgebaut. Durch ergonomische Trainings soll richtiges Heben gelernt und immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Was bei Bauarbeitern im ersten Moment nicht notwendig erscheint, macht aber tatsächlich Sinn: Fitness- und Krafttraining. Die körperliche Belastung während der Arbeit ist bei den meisten einseitig ausgerichtet, was eine Stärkung der deshalb minder entwickelten Muskelgruppen notwendig macht. Mehr und mehr setzt sich bauspezifisches Rückentraining schon für Auszubildende durch. Nachhaltigkeit ist auch hier das Wort der Stunde. Frühzeitige Prävention entlastet die kommenden Generationen, besonders finanziell. Hartmann: "Wir arbeiten heute zu einem großen Teil die Versäumnisse der Vergangenheit auf."


Rentenversicherung auf Präventionskurs

Zur unmittelbaren Verhinderung der Erwerbsunfähigkeit wurde für 35- bis 50-Jährige, die als gesundheitlich besonders gefährdet gelten, ein umfassendes Reha-Programm in einer Spezialklinik entwickelt. Die gesamten Kosten dieser Maßnahme trägt die Rentenversicherung. Auch dort hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Prävention weniger kostet als Frühverrentungen. Aber auch die Arbeitgeber sind gefragt. Mit der Aktion "Musterbaustelle 2002" haben die Bau-Berufsgenossenschaften im vergangenen Jahr auf 15 verschiedenen Baustellen bundesweit technische Hilfen vorgestellt, die das Arbeiten erleichtern. Zum Konzept gehört, dass Mauersteine nicht getragen, sondern maschinell versetzt werden können. Hier gibt es ein Konfliktfeld. Denn vor allem kleinere Bauunternehmen sind oft nicht innovationsfreudig. "Mit solchen Aktionen wollen wir sie überzeugen, dass auch der Unternehmer von technischen Investitionen profitiert, weil seine Mitarbeiter gesünder sind und deshalb seltener ausfallen", erklärt der Arbeitsmediziner Hartmann.

Prävention ist auch in der Krankenpflege notwendig. Dörthe Petersen weiß, wo in der Krankenpflege anzusetzen wäre. Drei Punkte hält sie für besonders sinnvoll: "Bessere psychische Betreuung schon während der Ausbildung, intensive Schulungen für körpergerechtes Arbeiten und ein besserer Verdienst. Denn nur wer gut verdient, kann sich eine notwendige und regelmäßige Regeneration leisten", meint Dörthe Petersen. Für sie mag es ein schwacher Trost sein, dass der rundum gesunde Arbeitsplatz noch nicht gefunden ist: Denn auch wer im Büro ausschließlich im Sitzen arbeitet, trägt ein hohes Gesundheitsrisiko. Neben Herz- und Kreislaufbelastungen sind auch hier Probleme mit Rücken und Bandscheibe besonders häufig - genau wie bei den Malocher-Jobs.

* Name von der Redaktion geändert

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