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Orry Mittenmayer setzt sich für die Rechte der Rider ein. Magazin Mitbestimmung

Von INGO ZANDER: Naturtalent der Mitbestimmung

Ausgabe 07/2018

Thema Fahrradkurier Orry Mittenmayer war ein Initiator des ersten Betriebsrats beim Essenslieferdienst Deliveroo und Mitbegründer der branchenübergreifenden Vernetzungsplattform „Liefern am Limit“. Was treibt ihn an?

Von INGO ZANDER

Ich treffe Orry Mittenmayer am Bahnhof in Köln-Ehrenfeld. Es ist Anfang Mai 2018, und der erste Betriebsratsvorsitzende, den der Essenslieferdienst Deliveroo in Köln jemals hatte, beginnt seinen letzten Arbeitseinsatz. Fast ein Jahr war der 25-jährige Kölner dort als Fahrradkurier angestellt, immer mit befristeten Verträgen. Diese Schicht noch, dann ist das vorbei.

Schon eine Minute, nachdem Mittenmayer sich um 17 Uhr über seine App zum Dienst angemeldet hat, erhält er seine erste Order: In einem veganen Schnellrestaurant wartet über die Plattform bestelltes Essen darauf, zum Kunden gebracht zu werden. Mittenmayer hat Glück – das Restaurant befindet sich nur 500 Meter entfernt. „Ich packe jetzt das Essen in den Warmhalterucksack, bestätige das der Zentrale und erhalte die Info, wo der Kunde wohnt“, erklärt er mir.

Ein Auftrag soll möglichst innerhalb von 20 Minuten erledigt sein, so will es Deliveroo. „Früher war die Zeitvorgabe realistisch. Die Strecken waren nicht länger als drei Kilometer“, erzählt mir der junge Rider. Das hat sich geändert: Sieben Kilometer Anfahrtsstrecke, wie sie Mittenmayer jetzt vom Restaurant zum ersten Kunden fahren muss, sind keine Seltenheit mehr. „Auch wenn ich schnell bin, brauche ich eine halbe Stunde“, ist er sich sicher.

Mittenmayer fährt zügig los, durch die drückende Hitze, die stickige Luft, den dichten Feierabendverkehr. Ich bin froh, als wir zum ersten Mal an einer Ampel zum Stehen kommen und etwas Luft schnappen können. Der Rider ist mit den Gedanken schon beim Kunden: Wird der überhaupt zu Hause sein? „Manchmal haben Kunden verpennt, dass sie was bestellt haben“, erzählt er. Diesmal hat er Glück – der Kunde ist zu Hause, Orry kann liefern. An seinem letzten Arbeitstag hat der Kölner nach zwei Stunden Feierabend. „Ich logge ich mich jetzt aus und hoffe, dass Deliveroo meine Privatsphäre respektiert und mich nicht weiter über GPS verfolgt, was möglich wäre“, erzählt er. Die Dienst-App ist auf seinem privaten Smartphone installiert.

Immer mehr Angestellte durch Solo-Selbstständige ersetzt

Noch vor einem Jahr konnten fest angestellte Fahrradkuriere wie er die Aufträge abarbeiten, die die Freelancer ablehnten, wenn ihnen der zeitliche Aufwand zu groß erschien. Die angestellten Fahrer wurden – abgesehen von einem Sonderzuschlag – pro Stunde bezahlt und nicht nach der Anzahl der erledigten Kundenbestellungen. Allerdings setzte die Firma die angestellten Fahrer durch ein wöchentliches „Personal Performance Feedback“ subtil unter Druck. Nur wer es schaffte, mindestens 90 Prozent der Order in der erwünschten Zeitvorgabe abzuarbeiten, hatte Anspruch auf den „Maintenance Support Bonus“. Nach und nach tauschte Deliveroo immer mehr angestellte Fahrer durch Freiberufler aus.

Im Sommer 2017 fanden sich erstmals mehrere Fahrer zu einer WhatsApp-Gruppe zusammen, weil sie mit den Arbeitsbedingungen zunehmend unzufriedener wurden. Sie monierten falsche Lohnabrechnungen und kritisierten, dass sie die Arbeitskleidung für den Winter selbst bezahlen mussten. Auch Smartphone, Fahrrad und Ausrüstung müssen die Fahrradkuriere selbst finanzieren. Es gebe lediglich einen geringen Verschleißbonus, der jedoch an sehr hohe Bedingungen geknüpft sei, erzählt Mittenmayer.

Ersten Betriebsrat gegründet

Mit Unterstützung der Gewerkschaft NGG organisierten diese Fahrradkuriere im Dezember 2017 erstmals eine betriebliche Vollversammlung bei Deliveroo und kündigten an, einen Betriebsrat zu gründen. Die Firma reagierte prompt. „Innerhalb von drei Monaten ließ das Unternehmen mehr als die Hälfte der 100 befristeten Arbeitsverträge am Standort Köln auslaufen“, erinnert sich Elmar Jost, Gewerkschaftssekretär der NGG in Köln. „Dennoch konnte Mitte Februar 2018 ein Betriebsrat gegründet werden.“

Die Aktivisten, zu denen auch Orry Mittenmayer zählte, hatten vor der Betriebsratswahl eine Facebook-Seite eingerichtet und erfolgreich Öffentlichkeitsarbeit für ihre Sache gemacht. Auf „Liefern am Limit“ diskutierten sie über die oft unzumutbaren Arbeitsverhältnisse in der Branche. Über diese neue Vernetzungsplattform riefen sie gemeinsam mit der Gewerkschaft NGG zu einem Flashmob in der Kölner Innenstadt auf. Zu dem Protest kamen 50 Fahrradkuriere von Deliveroo, Foodora und Lieferando. Ein Erfolg.

„Auf ‚Liefern am Limit‘ können die Fahrer über ihren Arbeitsalltag berichten und sich vernetzen“, erklärt Sarah Jochmann, ehemalige Deliveroo-Fahrradkurierin und ehrenamtliche Pressesprecherin der Website. „Die Initiative für die Plattform und die Betriebsratsgründung ging von den Fahrradkurieren aus“, lobt Gewerkschafter Jost. Die NGG unterstützte die Vernetzung, übernahm teilweise Kosten für Infoflyer und beriet die Kollegen in rechtlichen Fragen.

„Liefern am Limit“ vernetzt interessierte Rider

Rasch wuchs der Kreis der Facebook-Follower, der regelmäßig über die Erfahrungen und Aktivitäten der immer stärker gewerkschaftlich organisierten Fahrradkuriere informiert werden will, auf über 2000 Interessenten an. Über „Liefern am Limit“ werden auch regelmäßige Rider-Treffen organisiert, an denen die NGG beteiligt ist.

Orry Mittenmayer wurde zum ersten Betriebsratsvorsitzenden gewählt, war aber bald allein an Deck: Die befristeten Arbeitsverträge der übrigen vier Betriebsratsmitglieder verlängerte das Unternehmen nicht. Heute arbeiten nur noch Freelancer für Deliveroo. Einen Betriebsrat gibt es nicht mehr. Die gewählten Betriebsräte klagen jedoch mithilfe der NGG auf Weiterbeschäftigung.

Sie erfuhren dafür viel Rückenwind auf dem DGB-Bundeskongress, der, begeistert von dem Schwung und Mut der jungen Aktivisten, eine entsprechende Resolution zur „Solidarität mit den Beschäftigten und Betriebsräten von Deliveroo“ verabschiedete. Orry Mittenmayer und Sarah Jochmann hatten zuvor vor dem „Parlament der Arbeit“ unter großem Beifall über ihre Erfahrungen mit prekären Arbeitsbedingungen als Fahrradkuriere zu den Delegierten gesprochen. „Der große Zuspruch hat uns beide sehr berührt“, erzählt Mittenmayer.

„Die selbst organisierte Beteiligung der Fahrerinnen und Fahrer von ‚Liefern am Limit‘ gibt der Mitbestimmung 4.0 einen kreativen Schub. Wir lernen voneinander und ergänzen uns“, loben Melanie Frerichs, Referatsleiterin Grundsatzpolitik, und Christoph Schink, Referatsleiter Gastgewerbe beim NGG-Vorstand.

NGG will tarifvertragliche Weichen für die Branche stellen

Das Engagement der Fahrer von „Liefern am Limit“ und die Mitbestimmung durch Betriebsräte und die Gewerkschaft NGG ergänzen sich auf hervorragende Weise, sagen die Gewerkschafter. Es seien auch mehr Eintritte zu verzeichnen. „Das gibt uns die Stärke, Forderungen gemeinsam durchzusetzen.“ Beim NGG-Gewerkschaftstag im November werde man erste tarifvertragliche Weichen für eine Interessenvertretung bei Essenslieferdiensten stellen.

Auch Orry Mittenmayer kämpft weiter, obwohl sein Vertrag ebenfalls nicht verlängert wurde. Und die Öffentlichkeit ist interessiert an dem, was er zu sagen hat. Er trat in der TV-Talkshow „Hart aber fair“ auf, sprach auf der Kundgebung zum 1. Mai in Köln und konnte selbst Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für die Anliegen der Fahrradkuriere interessieren.

Wer ist dieser Mann, der so beharrlich für gute Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer in der jungen Branche streitet?

Der engagierte 25-Jährige ist gehörlos geboren. Durch die Behinderung und seine Hautfarbe hat er immer wieder Erfahrungen mit subtiler Diskriminierung machen müssen. Doch er ließ sich nicht unterkriegen. Nach der Mittleren Reife und einer Ausbildung als Buchhändler holte er mit Anfang 20 das Abitur nach. Jetzt will er mehr.

Nachdem er jetzt bei Deliveroo endgültig vom Rad gestiegen ist, möchte er Politikwissenschaften studieren, um sein gewerkschaftspolitisches Engagement theoretisch zu fundieren. „Für mich ist es schon immer ein großer Antrieb gewesen, ein erstklassiges Studium zu machen, weil mir das früher viele Menschen aufgrund meiner Gehörschädigung nicht zugetraut haben“, sagt er. Zurzeit bewirbt er sich um ein Stipendium bei der Hans-Böckler-Stiftung.

Aufmacherfoto:  Karsten Schöne

 

WEITERE INFORMATIONEN

Facebookseite der Plattform „Liefern am Limit“

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