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„Keimzelle des Protests“ Die Fahrradkuriere, die Essen ausliefern, gelten als Prototyp des neuen digitalen Proletariats. Doch sie lassen sich nicht mehr alles gefallen. Wie sie sich organisieren, erklärt der Soziologe Heiner Heiland. Magazin Mitbestimmung

Lieferdienste: "Keimzelle des Protests"

Ausgabe 05/2019

Die Fahrradkuriere, die Essen ausliefern, gelten als Prototyp des neuen digitalen Proletariats. Doch sie lassen sich nicht mehr alles gefallen. Wie sie sich organisieren, erklärt der Soziologe Heiner Heiland. Das Gespräch führte Andreas Molitor

Wie kamen die Kontakte unter den Fahrern und damit letztlich auch die Chatgruppen zustande?

Es ist ja nicht so, dass die Rider sich nie begegnen. Wenn es beispielsweise kaum Aufträge gibt, beordern die Plattformen die Fahrer ins Zentrum ihrer Lieferzone. Das ist meist ein zentraler Platz, um den herum sich viele Restaurants befinden. Gibt es wieder Aufträge, sind die Rider sofort zur Stelle. Dort treffen die Fahrer aufeinander. Man erkennt sich sehr schnell. Man redet, tauscht Handynummern aus – und aus vielen dieser Kontakte sind dann Chatgruppen entstanden …

… zu denen der Arbeitgeber keinen Zugang hat?

Richtig. Eine Zeit lang gab es bei Deliveroo einen deutschlandweiten Chatkanal unter Regie der Plattform. Der wurde allerdings von der Firmenleitung dichtgemacht, nachdem einige Aktivisten über den Kanal die Absicht zur Gründung eines Betriebsrats kommuniziert hatten. Danach haben die Fahrer in vielen Städten Chatkanäle installiert, auf die der Arbeitgeber keinen Zugriff hat. 

Worüber tauschen die Fahrer sich aus?

Primär über alltägliche Probleme bei der Arbeit: Wie rechne ich meine Schichten richtig ab, wie reiche ich Urlaub ein, wo kann ich mein Fahrrad preiswert reparieren lassen, bei welchem Restaurant dauert es gerade extrem lange, welcher Kunde pöbelt einen an? Mit der Zeit haben sich diese Chatgruppen bei WhatsApp oder auf Facebook zur Keimzelle des Protests entwickelt. Auch die wenigen Betriebsräte, die es bislang gibt, sind aus solchen Chatgruppen entstanden.

Wie stehen die Unternehmen zu Betriebsräten?

Foodora und Lieferando sind nach ihrem Zusammenschluss und dem Marktaustritt von Deliveroo im August der einzig verbliebene große Player in Deutschland. Lieferando ist gegenwärtig noch betriebsratsfrei, und Foodora verfolgt im Umgang mit Betriebsräten keine einheitliche Strategie. In Köln und Hamburg und seit Kurzem auch in einigen weiteren Städten wird der Betriebsrat zumindest geduldet, in Münster versucht das Unternehmen nach Kräften, die Gründung einer Interessenvertretung zu verhindern. Deliveroo stand bis zu seinem Marktaustritt für eine klar betriebsratsfeindliche Politik. Nachdem in Köln ein Betriebsrat gegründet worden war, stellte das Unternehmen sein System auf selbstständige Fahrer um – die keinen Betriebsrat gründen können. Und die Verträge der fest angestellten Fahrer, die sich für den Betriebsrat starkgemacht hatten, wurden nicht verlängert. Das war das Ende des Betriebsrats.

In Deutschland existiert jetzt ein Monopol aus Foodora und Lieferando. Ist das gut oder schlecht für die Beschäftigten?

Auf dem Markt der Essens-Lieferdienste gilt die Maxime: „The winner takes it all“. Den harten Konkurrenzkampf, den die Plattformen eine Zeit lang geführt haben, hat jetzt Lieferando mit der Übernahme von Foodora gewonnen. Außer für die Plattformen selber ist diese Entwicklung für alle Beteiligten negativ. Vor allem die ohnehin prekären Bedingungen für die Rider dürften sich kaum verbessern. Mit der fehlenden Konkurrenz besteht für Foodora/Lieferando kaum noch ein Anreiz, sich Gedanken um eine fairere Bezahlung oder bessere Arbeitsbedingungen zu machen.

Was halten Sie von Versuchen der gekündigten Deliveroo-Fahrer, eigene Lieferdienste zu gründen, etwa auf genossenschaftlicher Basis? 

Ich habe sehr große Sympathie für diese Initiativen, und ich kenne auch die Leute dahinter. Ich bin aber sehr skeptisch, ob diese Vorhaben langfristig wirtschaftlich tragfähig sind. Bisher machen kaum Restaurants mit – und außerdem sind die Investitionen in die Entwicklung einer guten App recht hoch. Vielleicht funktioniert so etwas in einem kleinen Milieu, in einem Stadtviertel. Ich sehe die Gefahr, dass der Versuch, selbstbestimmt zu arbeiten, letztlich mit selbstbestimmter Selbstausbeutung einhergeht. 

Wie gläsern ist man als Rider?

Der Fahrer kann die Plattform-App nur starten, wenn er auch das GPS eingeschaltet hat. Eine per Algorithmus automatisierte Verteilung der Aufträge geht nun mal nicht ohne GPS-Daten. Die Maschine muss wissen, wo die Rider gerade sind. Damit einher geht aber eine Überwachung. Manche Rider haben versucht, sich dem zu entziehen, indem sie ein Fake-GPS auf ihr Smartphone geladen haben. Das haben beispielsweise einige Foodora-Fahrer genutzt, die pro Stunde bezahlt wurden, und nicht pro Auftrag. Wenn sie mal gerade nicht so viel zu tun haben wollten, sendeten sie ein GPS-Signal vom Rand der Lieferzone – und wurden dann nicht mit Aufträgen behelligt. Die Plattformen haben dieses Schlupfloch dann aber gestopft.

Besteht die Möglichkeit eines Aufstiegs innerhalb der Rider-Hierarchie?

Ja, bei Foodora gibt es die Rider-Captains, eine Art Vorarbeiter, die einen Euro pro Stunde mehr erhalten. Die Captains müssen die Leistungen der ihnen unterstellten Fahrer im Auge behalten. Einmal pro Monat bekommen sie die Leistungsdaten der Rider, und je nachdem, wie die ausfallen, gibt es dann ein Telefonat.

Die Captains sind also der verlängerte Arm der Plattform?

Einerseits ja. Aber sie sind auch die primären Ansprechpartner für die Fahrer und Fahrerinnen. Ansonsten läuft der Kontakt zur Plattform ja nur über die App. Die Rider-Captains waren diejenigen, die als Erste Chatgruppen für den Austausch der Fahrer eingerichtet haben. Und aus einigen dieser Gruppen sind dann die ersten Proteste entstanden. 

Zur Studie

86% der Essenskuriere sind männlich.

61% der Befragten sagen, dass sie häufig Kontakt zu anderen Kurieren haben.

63% fühlen sich mit dem Gefühl konfrontiert, der digitalen Technik „ausgeliefert“ zu sein.

60% identifizieren sich gar nicht oder kaum mit ihrer Arbeit.

31% können sich vorstellen, auch in fünf Jahren noch als Kurier zu arbeiten.

51% sind auf der Suche nach einem anderen Job.

72% geben an, dass ihr Einkommen nicht oder gerade eben ausreicht.

Dies sind Ergebnisse einer Onlineerhebung unter Fahrradkurieren von Essens-Lieferdiensten. Heiner Heiland, Promovierender am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt, hat so die Arbeitsbedingungen in der Branche untersucht. Seine Forschungen wurden von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse erschien unter dem Titel „Plattformarbeit im Fokus“ in den WSI-Mitteilungen 4/2019.

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