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Magazin Mitbestimmung

: Nah an den Bedürfnissen

Ausgabe 11/2009

STRATEGIE Die IG BCE hat ihre Angestelltenabteilung aufgelöst. Mit neuer Zielgruppenarbeit will sie bei jenen punkten, die einer Gewerkschaft eher distanziert gegenüberstehen. Von Matthias Helmer

MATTHIAS HELMER ist Journalist in Göttingen/Illustration: BASF/SIGNUM

Rauchende Schornsteine, Schwefelwolken, verschmutzte Flüsse - das sind Bilder von gestern. Doch auch in den Fabriken und Labors hat sich die chemische und pharmazeutische Industrie gewandelt - nicht unbedingt zum Vorteil der Gewerkschaften. "Unser Problem ist, dass wir in unserer Mitgliedschaft nicht die Beschäftigtenwelt von 2009 abbilden, sondern eher von 1965", sagt Michael Linnartz, Leiter des Ressorts Zielgruppen bei der IG BCE. Viele gewerbliche Tätigkeiten sind seither weggefallen, wurden durch neue Produktionsverfahren ersetzt oder ins Ausland verlagert. Im Gegenzug ist der Anteil der Entwicklungs- oder Verwaltungsaufgaben in den Unternehmen gewachsen, und diese werden von Arbeitnehmergruppen erledigt, mit denen sich die Gewerkschaften traditionell schwertun: Ingenieure, diplomierte Kaufleute oder promovierte Chemiker.

Aus diesem Grund hat die IG BCE ihren Politikansatz erneuert: An die Stelle einer Zweiteilung der Belegschaften in Arbeiter und Angestellte ist der Zielgruppenansatz getreten, der passgenau an den Interessen der Beschäftigten ansetzt. "In unseren Branchen wächst die Zahl der Beschäftigten mit neuen Arbeitsfeldern. Die wären früher pauschal dem Angestelltenmilieu zugerechnet worden. Diese traditionelle Charakterisierung genügt immer weniger", sagt Edeltraud Glänzer, Vorstandsmitglied der IG BCE. Auf ihrem Kongress Mitte Oktober hat die IG BCE die Neuorientierung auch organisationspolitisch vollzogen und die alte Angestelltenabteilung aufgelöst. Damit reagiert die Gewerkschaft auf die veränderten Bedürfnisse der Belegschaften und spricht insbesondere die anspruchsvolle qualifizierte Klientel an.

Dabei geht die IG BCE davon aus, dass kaufmännisch ausgebildete Akademiker nicht unbedingt mit Ingenieuren zu vergleichen sind. Mit dem Wandel der Unternehmen hat sich die Welt der sogenannten "Leistungsträger" geändert: Allein schon weil sie einen größeren Anteil am Personal ausmachen, merken sie, dass sie nicht mehr automatisch zur Elite im Unternehmen gehören. Zudem haben viele Firmen ihre Führungsstrukturen gestrafft und Leitungsposten abgebaut. Die Chancen, Karriere zu machen - jenseits der beruflich-fachlichen Lorbeeren -, sind damit geringer geworden. Und nicht zuletzt beschleicht viele Hochqualifizierte nicht erst seit Ausbruch der Finanzkrise das Gefühl, dass auch der eigene Arbeitsplatz unsicherer geworden ist.

SICH MIT ERFOLGREICHEN VERBÜNDEN_ Der neue Boden der Tatsachen, auf dem die Fach- und Führungskräfte gelandet sind, hat gleichwohl bislang nicht dazu geführt, dass sie sich verstärkt den Gewerkschaften zuwenden. Zumal es in der Chemiebranche mit dem VAA einen Berufsverband der Akademiker und Führungskräfte gibt, mit dem sich die Gewerkschaft arrangieren muss.

Die Distanz der Fach- und Führungskräfte zu einer bodenständigen Gewerkschaft, die Solidarität auf ihre Fahnen schreibt und nicht "Wir sind Elite", ist nach wie vor vorhanden. Aber bei der IG BCE will man ohnehin nicht auf die Verelendungskarte setzen, um an neue Mitglieder (oder im ersten Schritt an gewerkschaftliche Sympathisanten) zu kommen. "Wir müssen als Gewerkschaften aufpassen, dass wir nicht nur die Verlierer des Strukturwandels oder jene, die in ihrem Berufsleben nichts mehr zu erwarten haben, im Blick haben. Gewerkschaften waren immer auch erfolgreich, weil sie sich mit den Erfolgreichen verbündet haben", sagt Michael Linnartz.

Im Zuge der "Zielgruppeninitiative 2009" wurden in diesem Jahr 50 Projekte gestartet, davon allein elf für Hochqualifizierte. Man will stärker in den Betrieben sichtbar sein, wobei Betriebsräte und Vertrauensleute entscheidende Träger der Zielgruppenarbeit sind, die organisationsintern von den Bezirken der BCE verantwortet wird.

"Wir wollen mehr Beteiligungsmöglichkeiten eröffnen mit zeitlich befristetem Engagement und thematischen Freiräumen - unabhängig vom Beschäftigtenstatus", sagt Edeltraud Glänzer. Bei Themen wie "betriebliche Umstrukturierung", "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" oder "pflegebedürftige Angehörige" suchen alle Beschäftigten nach Lösungen. Letztlich entscheiden die Akteure in den Betrieben, welches Thema angegangen wird. Unterstützung bekommen sie bei Bedarf von den Bezirken und Landesbezirken der IG BCE.

Mit dem neuen Ansatz will die Gewerkschaft insbesondere bei den weiblichen Akademikern in den Betrieben punkten, etwa mit Projekten wie "Frauen in der Spitze", einem Programm, das die Führungskräfteentwicklung von Frauen in Großbetrieben analysiert und Lösungsansätze entwickelt. Oder wie bei der E.ON edis AG im Bezirk Berlin/Brandenburg, wo die IG BCE für weibliche Nachwuchskräfte ein Seminar für den Erwerb von Schlüsselqualifikationen organisierte. Auch die Themen aus der BCE-Initiative "Frauen starten durch" spielen eine gewichtige Rolle: Entgeltgleichheit, eine bessere Balance von Lebens- und Arbeitszeit sowie die besondere Interessenvertretung von und für Frauen. Mit solchen Angeboten kann die IG BCE ihre Kompetenz beweisen und zeigen, dass sie sich nicht nur für die Belange der Gewerblichen interessiert.

Denn eine der größten Hürden der Gewerkschaften, um im Milieu der Hochqualifizierten Fuß zu fassen, ist ihr Image. "Das ist vor allem ein Mentalitätsproblem", sagt Michael Linnartz. Daher versucht die IG BCE jetzt, frühzeitig Kontakt zu den angehenden Führungskräften aufzunehmen - bereits an den Hochschulen oder mit Mentoringprojekten direkt nach Eintritt ins Berufsleben. "Wenn wir die Leute entsprechend begleiten, wenn sie frisch von der Uni kommen, dann hat man die Chance, dass sich ihr Bild von Gewerkschaften ändert", betont Linnartz.

Einer dieser jungen Hoffnungsträger ist Max Enke. Der 22-Jährige absolviert seit Herbst 2008 bei Continental in Hannover eine duale Ausbildung zum Bachelor Maschinenbau. An den Gewerkschaften gefällt ihm die Solidarität. "Den Gemeinschaftsgedanken finde ich super", sagt Enke. Aus seinem Studium kennt er die Vorbehalte der Hochqualifizierten gegenüber den Gewerkschaften. "Viele betrachten sich als künftige Führungskräfte. Die denken eher kurzsichtig und sehen nicht die Vorteile der Gewerkschaften", sagt Enke. Zum Teil herrsche auch Gruppenzwang: "Auf Werbeveranstaltungen der Gewerkschaften will sich keiner outen, auch wenn er die vielleicht interessant findet." Immerhin liege der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder bei den Maschinenbauern in der Konstruktions- und Antriebstechnik von Conti bei rund 60 Prozent, berichtet Enke. Demgegenüber sei in der Forschung und Entwicklung aber kaum jemand organisiert.

IG-BCE-Vorstandsmitglied Glänzer weist darauf hin, dass der Zielgruppenansatz nicht am grünen Tisch entstanden ist, sondern aus der Mitte ihrer Gewerkschaft kommt. "Er ist Ergebnis unseres Modernisierungsprozesses, bei dem wir vielfältige Impulse aufgegriffen und weiterentwickelt haben. Das hilft uns bei der Umsetzung ungemein." Zum Beispiel haben sich die Laborbeschäftigten intensiv mit der Zukunft der Laborarbeit auseinandergesetzt oder die Beschäftigten im Außendienst mit dem Thema Mobilität. Ob und wann der Zielgruppenansatz sich in Mitgliederzuwachs rechnet, ist offen. "Das ist das Bohren von dicken Brettern, und man sollte da nicht auf zu schnelle Erfolge hoffen. Unser Ziel ist es zunächst, einen Wandel in den Köpfen zu bewirken, was Gewerkschaften sind und was sie wollen", ergänzt Glänzers Kollege Michael Linnartz.


Mehr Informationen

Näheres zur Zielgruppenarbeit der IG BCE liefert der Beitrag MEHR BETEILIGUNG ERÖFFNEN von IG-BCE-Vorstandsmitglied Edeltraud Glänzer

Hermann Kotthoff und Alexandra Wagner: DIE LEISTUNGSTRÄGER. FÜHRUNGSKRÄFTE IM WANDEL DER FIRMENKULTUR - EINE FOLLOW-UP-STUDIE. Berlin, edition sigma 2008. 302 Seiten, 19,90 Euro

Fabian Hoose/Sebastian Jeworutzki/Ludger Pries: FÜHRUNGSKRÄFTE UND BETRIEBLICHE MITBESTIMMUNG. ZUR PRAXIS DER PARTIZIPATION AM BEISPIEL DER CHEMISCHEN INDUSTRIE. Frankfurt/M, Campus-Verlag 2009. 170 Seiten, 27,90 Euro

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