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Grafik Zinsentwicklung Magazin Mitbestimmung

Geldpolitik: Kräftiger Schluck aus der Zinspulle

Ausgabe 04/2022

Die EZB hat die Zinsen erhöht, um die Inflation zu dämpfen. IMK-Direktor Sebastian Dullien warnt vor übereilten Schritten. Ursache der steigenden Preise sei nicht die Geldpolitik. Von Stefan Scheytt

Aus dem Urlaub hat Sebastian Dullien ein Miniquiz getwittert. Zu dem Foto sündhaft teurer Rotweine in einem französischen Supermarkt mit Preisen zwischen 39 und 320 Euro fragte er, worum es sich da handele: um a) hohe Inflation, b) hohes Preisniveau oder c) hohe relative Preise? Richtig war übrigens die letzte Antwort.  Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, hat rund 15 000 Follower bei Twitter, eine Zahl, die „ganz okay ist für einen Volkswirt in Deutschland“, wie er selbst findet. „Wir machen ja Wissenschaft nicht als Selbstzweck, sondern um Ideen und Forschungsergebnisse zu kommunizieren.“

Der Urlaubs-Tweet zeigt, dass Dullien auch im Urlaub die Preise nicht loslassen.  Die hohe Inflation und ihre Bekämpfung ist längst ein politisches Top-Thema. Im Juli lagen die Verbraucherpreise in Deutschland um 7,5 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats, im Euroraum – allerdings nach EU-harmonisierter Messart – im Juni sogar um 8,6 Prozent. Während die amerikanische Notenbank Federal Reserve (Fed) bereits im Frühjahr mit kräftigen Leitzinserhöhungen auf die Inflation reagierte (im Juni 9,1 Prozent) und Ende Juli noch einmal nachlegte, beließ es die Europäische Zentralbank (EZB) bis zum 21. Juli bei ihrer Politik des billigen Geldes. Dieser Tag dürfte allerdings als „Tag der Zinswende“ in die Geschichte der europäischen Währungspolitik eingehen: Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt erhöhten die Währungshüter die Leitzinsen, also jene Zinssätze, zu denen sich Geschäftsbanken bei der EZB frisches Geld beschaffen können. Gleich 0,5 Prozent legten sie obendrauf – ein Ausmaß, das selbst Insider überraschte.

Bei ihrer letzten Ratssitzung im April hatten die EZB-Banker noch eine moderate Anhebung von lediglich 0,25 Prozentpunkten angekündigt. EZB-Präsidentin Christine Lagarde stellte bei der Gelegenheit weitere Zinserhöhungen im Herbst in Aussicht. „Wir bewerten die Risiken der Inflation anders als noch im Juni“, erklärte sie. „Und wir müssen dafür sorgen, dass wir die Inflation nicht weiter antreiben.“

Konservative Ökonomen hatten die EZB bereits seit Längerem zu einer kräftigen Zinserhöhung gedrängt – als Signal, dass die Währungshüter im Kampf gegen die Inflation die Kurve kriegen. Für sie kommt der jüngste Zinsschritt zu spät und hätte womöglich noch deutlicher ausfallen können.

Dieser Kritik an der EZB-Politik widerspricht Sebastian Dullien auf Twitter und anderen Kanälen seit Monaten vehement. „Die EZB hat bisher weitgehend alles richtig gemacht“, urteilt er. Auch der Zinsschritt vom Juli sei angebracht gewesen. „Ob die Zinsen jetzt ein paar Wochen früher oder später erhöht werden, ist nicht zentral“, so der Ökonom. Wichtiger sei, dass die EZB bei ihrem Straffungskurs der nächsten Monate nicht überziehe und damit eine sich derzeit zunehmend abzeichnende Rezession noch verschärfe.

Grund für die hohe Inflation sei nicht die angeblich zu lockere Geldpolitik der EZB, begründet der Wissenschaftler, sondern Preisschocks für Energie und Lebensmittel sowie anhaltende Probleme in den weltweiten Lieferketten. Und deren Ursache wiederum seien der Ukrainekrieg und, zu einem geringeren Teil, nach wie vor die Corona­pandemie. „Beides lässt sich nun mal nicht mit Geldpolitik beeinflussen“, sagt Dullien und verweist auf die Jahre 2008 und 2011, als die EZB die Leitzinsen als Reaktion auf die damaligen Ölpreisschocks mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise erhöhte – und die damit noch verschärfte.

„Es besteht auch diesmal die Gefahr, dass die EZB im falschen Moment die Zinsen zu weit nach oben zieht“, sagt Dullien. Allein schon die Ankündigung der EZB im Frühjahr, die Leitzinsen demnächst moderat zu erhöhen, habe bereits unerwünschte Wirkungen gezeigt. Etwa bei der Immobilienfinanzierung: „Wer heute ein Haus baut oder eine Wohnung kauft, zahlt mehr als drei Prozent Zinsen; vor einem Jahr waren es noch 0,8 Prozent.“ Die von der EZB jüngst eingeleitete Zinswende wird Baukredite noch teurer machen. Das Ziel der Bundesregierung, 400 000 neue Wohnungen jährlich zu bauen, gerät immer mehr in Gefahr.

Trotzdem, das Argument einer unfähigen, weil nicht sofort an der Zinsschraube drehenden EZB wird immer wieder bemüht. Dullien widerspricht: In Deutschland hätten viele seit zehn Jahren vor der Inflation gewarnt, „obwohl die trotz sehr niedriger Zinsen nie kam“. Jetzt, wo sie „aus ganz anderen Gründen da ist“, fühlten sich diese Stimmen bestätigt. „Und sie liegen trotzdem falsch, weil sie nicht verstanden haben, dass die Geldmenge keine klare Verbindung mehr zur Inflation hat.“

Was bleibt, ist die Erkenntnis: Nerven bewahren und „die Zinsen mit Augenmaß anpassen“. Denn Dullien rechnet damit, dass sich die Inflationsrate nach der Jahreswende wieder langsam in Richtung der Zielmarke der EZB von zwei Prozent bewegt. Bis dahin sei eine weitere Unterstützung der Regierung für Privathaushalte dringend notwendig: durch Einmalzahlungen wie die Energiepauschale oder durch einen Gaspreisdeckel, damit in Lohnverhandlungen nicht der Druck entsteht, die Inflationsverluste wieder wettzumachen. Und das alles „möglichst zielgenau für diejenigen, die es wirklich brauchen“.

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