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Sajid Chowdhury aus Bangladesch Magazin Mitbestimmung

Migration: Kinder der ersten Generation

Ausgabe 05/2021

Auswandern ist immer Hoffnung und Schmerz zugleich. Vier Menschen, die sich in der Mitbestimmung engagieren, erzählen, wie ihre Eltern nach Deutschland kamen – und wie sie ihr eigenes Leben meisterten. Von Annette Jensen, Kay Meiners, Andreas Molitor und Uta von Schrenk

Sajid Chowdhury, Jugend- und Auszubildendenvertreter bei Evonik

  • Sajid Chowdhury aus Bangladesch
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"Chance auf ein besseres Leben"

Ich wusste nicht viel von Deutschland, als ich im Dezember 2012 mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder hier ankam. Ein paar Spieler der Fußballnationalmannschaft kannte ich aus dem Fernsehen, das war’s. Ich wusste nicht mal, welche Sprache die Menschen hier sprechen. Anfangs hat meine Mutter ohne Salz gekocht, weil wir im Supermarkt kein Salz im Regal gefunden haben. Wir wussten nicht, wie das heißt. Ich hab mir dann ein kleines Wörterbuch besorgt. „Salz“ war also das erste deutsche Wort, das ich kannte.

Mein Vater hatte sich in Bangladesch politisch engagiert und fühlte sich nicht mehr sicher. Es gibt dort zwei dominierende Parteien, die sich erbittert bekämpfen. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen und Entführungen, Menschen verschwinden einfach. Deshalb beschloss er, mit uns zu fliehen. Über Italien kamen wir nach Deutschland. Gleich am ersten Tag hat es geschneit. Ich hatte noch nie vorher Schnee gesehen und bin ständig ausgerutscht.

Natürlich sieht man mir an, dass meine Eltern nicht aus Deutschland kommen. Richtig übel beleidigt wurden meine Eltern und ich aber nur einmal, als wir mit dem Zug unterwegs waren. Mit den üblichen blöden Sprüchen komme ich klar. Manchmal höre ich einfach weg. Und anfangs hab ich vieles auch gar nicht verstanden. Für mich war von Anfang an klar, dass ich versuchen muss, hier klarzukommen, dass ich das Beste aus der Situation machen muss. Das hieß vor allem, dass ich so schnell wie möglich Deutsch lernen muss. Mittlerweile spreche ich Ruhrpottdialekt. Natürlich bin ich mit meinen Gedanken und auch mit dem Herzen manchmal immer noch in Bangladesch. Aber dorthin zurückkehren? Das kann ich mir kaum vorstellen. Die wichtigste Zeit in meinem bisherigen Leben, das Erwachsenwerden, habe ich in Deutschland verbracht. Ich habe hier meinen Schulabschluss nachgeholt und einen Ausbildungsplatz bekommen. Hier gibt es Chancen, sich ein besseres Leben aufzubauen.

Mein Einsatz für die Auszubildenden durch meine Arbeit in der JAV ist für mich auch ein Versuch, etwas zurückzugeben. Man muss das alles mitnehmen, die Möglichkeiten nutzen. Manche jungen Leute, die nach Deutschland kommen, haben überhaupt keine Motivation. Denen würde ich am liebsten zurufen: Nutz deine Chance, lass dich nicht so hängen!

Sajid Chowdhury, 25, arbeitet als Chemielaborant bei Evonik in und ist stellvertretender Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung.


 

Aydan Fazilet Karakas-Blutte, Personalratsvorsitzende

  • Aydan Fazilet Karakas-Blutte
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"Ich lebe in zwei Welten"

Seit 58 Jahren lebe ich in Deutschland, fast mein ganzes Leben. Aber ich reise noch jedes Jahr in die Türkei. Gerade kümmere ich mich um meinen schwerkranken Vater, der 90 geworden ist und seit 1981 wieder in Istanbul lebt, nachdem er mich einst nach Deutschland gebracht hatte. Früher ist er mit uns die ganze Strecke von Kassel nach Istanbul, 2500 Kilometer, mit dem Auto gefahren. Er liebte Autos und pflegte sie liebevoll. Meine Eltern sind wieder in die Türkei zurückgegangen, weil meine Mutter schwer krank war. Sie wollte in der Heimat sterben. Mein Vater ging mit ihr und kam danach nicht wieder nach Deutschland zurück. Ich blieb in Deutschland – auch weil ich hier eine Familie gegründet hatte.

Wenn ich heute in die Türkei komme, kann ich dieses Land spüren. Ja, ich spreche auch Türkisch, ganz normal. Und Deutsch, auch ganz normal. Zweisprachig aufgewachsen – das bleibt.

Zu Hause fühle ich mich in beiden Ländern. Wenn ich „Wir“, sage, meine ich beide Kulturen, die türkische und die deutsche. Ich verwende dasselbe Wort dafür. Lange dachte ich, ich müsste die eine Kultur gegen die jeweils
andere verteidigen – und werbe damit um mehr Verständnis.

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin bei der Stadt Kassel habe ich mich für die Förderung türkischer Kinder engagiert. Dabei war mir immer wichtig, dass sie die deutsche Sprache lernen, als Teil oder sogar als Voraussetzung für Integration. In der Schulsozialarbeit und im Täter-Opfer-Ausgleich habe ich auch erlebt, dass die Integration scheitern kann – trotz guter Sprachkenntnisse. Ich war manchmal streng mit den Kindern und Jugendlichen aus anderen Kulturen, habe viel verlangt und gefordert. Weil ich wollte, dass sie Erfolg haben. Ich habe die Lehrerinnen und Lehrer aufgefordert, ihre Perspektive zu ändern und diesen Kindern und Jugendlichen ohne Vorurteile zu begegnen – und den Eltern klargemacht, wie wichtig etwa die Teilnahme ihrer Kinder an der Klassenfahrt ist. Ich war immer in einer Vermittlerrolle unterwegs. Und das bin ich auch heute noch – als  freigestellte Personalrätin.

Mehr als 20 Jahre lang hat Aydan Fazilet Karakas-Blutte, 62, nach ihrem Studium der sozialen Arbeit beim Jugendamt in Kassel gearbeitet. Seit 2011 ist sie Vorsitzende des Personalrats der Inneren Verwaltung.


 

Alan Kamal, Mitglied der Gewerkschaft der Polizei

  • Alan Kamal
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"Ich bin stolz auf dieses Land"

Ich bin in Berlin-Neukölln aufgewachsen, in der Gropiusstadt, schon damals bekannt als sozialer Brennpunkt mit hohem Ausländeranteil. In den 80er Jahren fuhren rechte Parteien, insbesondere die Republikaner, dort hohe  Stimmenanteile bei Wahlen ein. Für diese Leute war ich kein Deutscher – weder mit meinem arabischen Nachnamen noch mit meinem südländischen Aussehen. Als Reflex schloss ich mich den Ausländern an, den Türken vor allem. Dort war ich akzeptiert. Einige dieser Freundschaften halten bis heute.

Geprägt hat mich besonders die tschechische Seite meiner Herkunft. Ich spreche die Sprache fließend, und bis auf voriges Jahr war ich seit Jugendzeiten jedes Jahr dort. Als Tschechien 2002 EU-Mitglied wurde und die Polizei dort Einsatzbereitschaften nach westeuropäischem Vorbild aufbaute, war es für mich selbstverständlich, dass ich mithelfen würde. Ich war der erste deutsche Polizeibeamte, der dort war.

Von meinem kurdischen Vater, der nicht gläubig war und leider starb, als ich 13 war, habe ich die positiven Traditionen des Nahen Ostens mitgenommen: Respekt, Höflichkeit, Gastfreundschaft, Wertschätzung, Ehre, Stolz. Im Irak war ich nie. Die Sicherheitslage war stets prekär. So kommt es, dass ich zu der Familie meines Vaters kaum einen Bezug habe.

Mit 19 habe ich mein Abitur abgelegt, die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und dann die Ausbildung bei der Schutzpolizei begonnen. Ich habe den Eid auf die deutsche Verfassung geschworen. Das war eine bewusste Entscheidung. Ich bin stolz auf dieses Land, auf die Demokratie.

Bei der Polizei hat meine Herkunft mir nur einmal Probleme bereitet, – in der Zeit als junger Beamter in der  Einsatzhundertschaft. Ende der 90er war ich dort der erste „Ausländer“, so sagte man damals. Die Kollegen haben mich anfangs spüren lassen, dass ich anders war, nicht dazugehörte – bis sie gemerkt haben, dass ich bei Einsätzen immer vorne dabei bin, dass ich mich nicht drücke und nie krankfeiere. Dafür wurde ich  bei Einsätzen nun mitunter von Türken oder Arabern als Verräter beschimpft. „Du bist doch einer von uns“,  riefen sie mir entgegen, „was machst du denn bei denen?“

Heute hat von unseren Auszubildenden etwa jeder Zweite ausländische Wurzeln. Dadurch verändert sich manches. Es gibt andere Feiertage und die Forderung nach Gebetszeiten. Bei Grillfesten braucht man halt einen zweiten Grill, weil auf dem ersten Schweinefleisch liegt. Ich habe für vieles Verständnis, aber das heißt nicht, dass ich auf jede Befindlichkeit Rücksicht nehme. Als Polizisten haben wir einen Auftrag. Da ist es völlig inakzeptabel, dass wir die Einsatzstiefel ausziehen sollen, bevor wir mit einer Spezialeinheit die Wohnung eines arabischen Clans stürmen, um Festnahmen zu machen.

Alan Kamal, 48, ist stellvertretender Personalratsvorsitzender an der Polizeiakademie in Berlin. Zuvor versah er seinen Dienst unter anderem beim Spezialeinsatzkommando des Landeskriminalamts 6 sowie als Fachlehrer an der Polizeiakademie. Er trat mit Beginn der Ausbildung in die Gewerkschaft der Polizei ein, als deren Mitglied er sich hier äußert.


 

Dimitra Koemtzidou, Betriebsrätin bei Daimler in Sindelfingen

  • Dimitra Koemtzidou
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"Ich habe zwei Heimaten"

Meinen Vater habe ich manchmal aufgezogen: „Papa, du bist jetzt 40 Jahre in Deutschland“, hab ich zu ihm gesagt, „und du kannst noch nicht mal 40 Wörter Deutsch sprechen. Das ist doch eine Schande!“ Meine Mutter war das krasse Gegenteil: Sie hat sofort nach ihrer Ankunft in Deutschland begonnen, Deutsch zu lernen. Sie war es leid, sich im Supermarkt mit Händen und Füßen verständigen zu müssen. Sie war es auch, die mir, als ich als junge Auszubildende bei Daimler mit dem Aufnahmeformular der IG Metall nach Hause kam, sagte: „Ja, da musst du auf jeden Fall rein.“

Meine Eltern kamen Anfang der 70er Jahre aus Rymnio, einem Dorf im Nordwesten Griechenlands, nach Deutschland. Für sie war es der Weg, der Armut zu entkommen. Zuerst wollten sie nur fünf Jahre bleiben, dann wurden es zehn, dann 15. Sie haben beide gearbeitet, harte Arbeit in der Fabrik, jeden Monat Geld nach Griechenland geschickt und dort ein Haus gebaut – für die Rückkehr, zu der es nie kam. Als mein Vater vor einigen Jahren starb, dachten alle, dass er bestimmt dort beerdigt werden möchte, wo er geboren ist, in Griechenland. Doch er hatte gesagt: „Mein Grab soll dort sein, wo meine Familie ist, meine Kinder und Enkel.“

Ich bin eine Griechin, die in Deutschland geboren wurde und lebt. Mein Vater bestand darauf, dass wir daheim Griechisch sprechen und dass ich nachmittags noch die griechische Schule besuche. Als Teenager, wenn die
deutschen Mädchen in die Disco gingen, tanzte ich Folklore in der griechischen Gemeinde. Das tue ich übrigens immer noch. Im Kinder- und Jugendalter hatte ich nicht so die Freiheiten wie andere. Der Tag war durchgetaktet:
deutsche Schule, griechische Schule, Hausaufgaben, Abendessen, ab ins Bett.

Heute würde ich sagen, ich habe zwei Heimaten. Im Sommer, wenn der Urlaub in Griechenland näher rückt, sage ich: „Es geht nach Hause.“ Aber wenn die Ferien zu Ende gehen und ich wieder nach Deutschland zurückfahre, sage ich auch: „Ich fahre nach Hause.“

Dimitra Koemtzidou, 47, ist Betriebsrätin bei Daimler in Sindelfingen und betreut rund 1400 Beschäftigte. Mit Beginn ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation trat sie in die IG Metall ein.

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