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Dilvin Semo, Ärztin und Wissenschaftlerin am Universitätskrankenhaus bei der Arbeit Magazin Mitbestimmung

Alltag: Gesundheit hat viele Gesichter

Ausgabe 04/2023

Wie vielfältig die Arbeit im Gesundheitswesen ist, zeigt ein Blick in den Alltag von vier Menschen aus der Branche. Von Fabienne Melzer

Zwischen Labor und Klinik

„Bei meiner Arbeit pendle ich zwischen Labor und Klinik. Als klinische Wissenschaftlerin forsche ich, als Ärztin arbeite ich auf der Station und unterrichte Medizinstudierende. Diese Woche sitze ich im Labor. Ich muss viel Papierkram erledigen und Experimente planen. An einem Mikroskop, mit dem ich arbeite, befindet sich ein Schlauchsystem. Damit kann ich den Blutfluss simulieren und mir anschauen, wie Zellen interagieren. Mich beschäftigt die Frage, warum Blutgefäße bei Menschen mit Diabeteserkrankung häufiger verkalken. An die Tage im Labor schließen sich manchmal Nacht- und 24-Stunden-Dienste an. Zu zweit stehen wir dann ab 16.30 Uhr für 13 Stationen im Notfall bereit.

Als Ärztin auf der Station sind meine Tage schon dicht gedrängt. Ich beginne um 8 Uhr und schaue mir erst einmal die Daten an, die die Pflege aufgenommen hat. Anschließend beginnt die Visite. Auf Station betreue ich zwischen fünf und sieben Menschen, die dort behandelt werden. Für sie muss ich jede Menge organisieren. Ich vereinbare Untersuchungstermine oder stelle vor einer OP sicher, dass alle Voruntersuchungen gelaufen und Vorbereitungen getroffen sind, zum Beispiel Blutkonserven bereitgestellt oder Anträge an Krankenkassen gestellt wurden. Die Tage sind schon sehr vollgestopft, und es ist eine Kunst, abends pünktlich nach Hause zu kommen.

Auf der Kardiologie, wo ich zurzeit meine Weiterbildung mache, läuft es gut. Wir schreiben unsere Überstunden auf und gleichen sie in Freizeit aus. Ich hatte während meiner Ausbildung aber auch Einsätze, da stand schon am Anfang des Monats fest, dass ich 40 Überstunden machen und bis auf vier Tage durcharbeiten werde, damit alle Dienste besetzt sind.

Ob es nach der Krankenhausreform besser wird? Ich bin skeptisch. Als Assistenzärztin an einer Uniklinik mache ich mir keine Sorgen um meinen Arbeitsplatz. Eine größere Gefahr sehe ich darin, dass wir hier nur noch High-End-Medizin machen. Jeder sollte aber auch mal eine Lungenentzündung behandeln. Zumindest die Weiterbildung müsste dann alle Bereiche abdecken. 

Wenn wir Behandlungen auf wenige Häuser konzentrieren, müssen wir Menschen häufiger und weiter transportieren. Dafür brauchen wir ein größeres und besseres Transportsystem, sprich mehr Beschäftigte. Die Vorhaltepauschalen ändern aber auch nichts daran, dass schon jetzt an allen Ecken und Enden Personal fehlt.“

DILVIN SEMO ist 30 Jahre alt und arbeitet als klinische Wissenschaftlerin und Ärztin. Sie ist Verdi-Mitglied und hat mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung Medizin studiert und promoviert.

Priester, Psychologe und Tröster

  • Nelson Studzinski, Altenpfleger aus Hamburg
    NELSON STUDZINISKI ist 60 Jahre alt, Betriebsrat und arbeitet seit 1989 in einem Pflegeheim in Hamburg. Er kommt ursprünglich aus Brasilien und blieb in Deutschland, weil er hier seine Frau kennenlernte. Außerdem arbeitet er in der Fachkommission Altenpflege bei Verdi in Hamburg und in der Bundesfachkommission in Berlin.

„Viele haben ein falsches Bild von meinem Beruf. Hintern abwischen ist der kleinste Teil unserer Arbeit in der Altenpflege. Wir sind Priester, Psychologe, Tröster – alles gleichzeitig. Wir arbeiten mit Menschen, sie brauchen auch unsere Zuwendung. Wir können doch einen Menschen, der im Sterben liegt, nicht allein lassen.

Im Moment arbeite ich überwiegend im Spätdienst und komme kurz vor 13 Uhr zur Arbeit. Als Betriebsrat haben wir eine Umziehzeit von zehn Minuten vor und nach der Arbeit und den Tarifvertrag 2018 durchgesetzt. Nach der Übergabe bereiten wir den Kaffee vor. Doch ohne Unterbrechungen läuft es nie. Wir arbeiten zu zweit auf unserer Station, wo zurzeit 36 Menschen leben. Da braucht fast immer jemand etwas.

Wenn etwa ein Bewohner stürzt, müssen wir ihn sofort versorgen. Oft meinen es Angehörige gut, wenn sie die Zimmer mit Teppichen auslegen. Für unsere Bewohner sind das aber Stolperfallen. Manchmal bekommt jemand mitten in der Essensausgabe Durchfall. Wenn es ein dementer Mensch ist, gehe ich am besten gleich hin, sonst kann ich hinterher auch die Wände sauber machen.

Es heißt immer: Der Personalschlüssel reicht. Aber gefühlt reicht es nie. Wir können die Menschen nicht einfach abfertigen. Manche Bewohner mögen einen Pfleger nicht, sie beschimpfen ihn und wollen sich von ihm nicht waschen lassen. Eine Bewohnerin läuft immer davon. Aber Menschen haben das Recht, zu stolpern, das Recht, wegzulaufen. Diese täglichen Zwischenfälle decken die Pflegegrade nicht ab.

Nach dem Kaffee, gegen 16 Uhr, nehme ich meine Pause. Viele Kollegen sagen, sie schaffen es nicht, eine Pause zu machen. Aber als Betriebsrat sage ich ihnen: ‚Du musst Pause machen.‘ Wenn man den ganzen Tag für andere Menschen da ist, braucht man eine Pause. Dann geht es weiter mit dem Abendessen. Vorher verteilen wir noch die Medikamente. Da müssen wir auch wachsam sein, damit Frau Müller nicht die Medikamente von Frau Meier nimmt.

Vor einigen Jahren kamen die Menschen noch viel fitter ins Pflegeheim. Heute bleiben sie zu Hause, bis es nicht mehr anders geht. Es ist gut für die Menschen, aber unsere Arbeit wurde so immer mehr getaktet. Auch die Krankenhäuser wälzen die Arbeit auf uns ab. Sie entlassen Menschen nach einer Operation viel schneller. Die Nachsorge müssen wir dann übernehmen.

Früher sind wir mit den Bewohnern auch mal spazieren gegangen. Das übernimmt heute eine Kraft aus der Alltagsbegleitung. Uns Pflegekräfte sollte es entlasten, aber es hat unsere Arbeit verdichtet. Eine Bewohnerin sagte mal zu mir: ‚Ich bin ins Pflegeheim gegangen, weil ich Ruhe haben wollte, und jetzt geht meine Tür nicht mehr zu, und immer kommt jemand anders. Der Eine bringt mir das Frühstück, der Nächste meine Medikamente, der Dritte macht mit mir Gymnastik, und so geht das den ganzen Tag'.

Für mich ist es dennoch ein schöner Beruf. Die Menschen erzählen mir aus ihrer Vergangenheit: Manche haben den Krieg erlebt, andere sind viel gereist, auch in meine alte Heimat Brasilien. Dank ihnen habe ich die deutsche Sprache gelernt.“

Der Herr der Zahlen

  • Vincent Mindemann, Regionaldirektor für ambulante Pflegedienste unterwegs
    VINCENT MINDEMANN ist 33 Jahre alt und Regionaldirektor für 13 ambulante Pflegedienste und Tagespflegeeinrichtungen in Berlin, Brandenburg, Thüringen und Bayern. Nach seiner Ausbildung zum Krankenpfleger studierte er mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftspsychologie und E-Health. Seinen Master machte er in Gesundheitsökonomie.

„Fast ein Drittel meines Tages beschäftige ich mich mit Zahlen. Mathe war im Studium zwar nicht unbedingt meine Stärke, aber hier muss ich auch keine Ableitungen mehr machen. Mein erstes Treffen hatte ich heute Morgen mit der Buchhaltung. Da ging es natürlich um Zahlen. In der Pflege bewegen wir uns ständig auf diesem schmalen Grat zwischen Bezahlbarkeit und guten Arbeitsbedingungen. Das habe ich schon als Verdi-Betriebsrat in der Krankenpflege gelernt. Aus diesem Grund habe ich mich auch entschlossen, zu studieren. Wenn jemand darüber entscheidet, wo Geld hinfließt und wo nicht, dann sollte das jemand sein, der weiß, was diese Zahlen bedeuten.

Ich möchte einen Rahmen schaffen, in dem die Menschen gut arbeiten können. Letztendlich ist das für mich die wichtigste Voraussetzung für gute Pflege. Das fängt bei einfachen Dingen an: Ich sorge dafür, dass alle Arbeitsmittel bereitstehen, wenn jemand neu anfängt, dass schnell Ersatz kommt, wenn Dinge kaputtgehen, und dass man für Probleme ansprechbar ist.

Ich komme aus der Mitbestimmung, daher weiß ich, wie wichtig es ist, Menschen zu beteiligen. Ein ambulanter Dienst in Berlin arbeitet noch mit Stift und Zettel, das wollen wir digitalisieren. Die Software suchen wir mit dem Team aus. Wer das allein entscheidet, arbeitet vielleicht schneller, aber er bekommt andere Probleme. Mein Weg kostet etwas mehr Zeit, aber die Beschäftigten sind zufriedener.

Gleich telefoniere ich mit dem Pflegesatzmanagement. Wir müssen darauf achten, dass wir alles, was wir tun, auch vergütet bekommen. Das ist viel Bürokratie, viel Verhandeln mit den Kassen. Aber es ist der Rahmen, in dem wir uns bei unserer Arbeit bewegen. Wenn ich für eine Leistung eine Stunde bezahlt bekomme, kann die Pflegekraft nicht zwei Stunden bleiben. Aber ich habe Spielräume. Ich weiß, manche Manager verlangen, dass man nach 55 Minuten fertig ist. Das gibt es bei uns nicht. Zwei Stunden kann ich bei einer bezahlten Stunde auf Dauer nicht leisten, aber eineinviertel Stunden sind auch mal drin.

Es wäre auch schön, wenn Pflegekräfte in ihrer Schicht weniger Menschen versorgen müssten. Aber dann muss ich vielleicht Kunden ablehnen, und wer versorgt sie dann? Wenn sich in der Pflege nichts ändert und immer weniger Menschen den Beruf ergreifen, wird sich diese Frage ohnehin häufiger stellen. Dann könnte es irgendwann Menschen geben, die wir nicht versorgen können.

Ich besuche unsere Einrichtungen regelmäßig. Dann setze ich mich gerne zu den Menschen und unterhalte mich mit ihnen. Meine Besuche werden vorher angekündigt. Viele ältere Menschen sind dann überrascht, wenn ein Regionaldirektor angekündigt wird und ein 33-Jähriger im Anzug in der Tür steht.“

Technik und Menschenleben

  • Einsatzleiter bei einem Hersteller von Medizin- und Sicherheitstechnik
    STEVE MICHAEL ist 46 Jahre alt, IG Metall-Betriebsrat und Einsatzleiter bei einem Hersteller von Medizin- und Sicherheitstechnik. Er betreut rund 40 Krankenhäuser, Labore und Forschungseinrichtungen im südlichen Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Luxemburg.

„Den Anlagen, die wir errichten, vertrauen Menschen ihr Leben an. Das ist mir immer bewusst. So bin ich aber auch in jeder Sekunde aufmerksam. Wir bauen und warten unter anderem Sauerstoff- und Druckluftanlagen sowie Versorgungssysteme für Operationssäle und Intensivstationen.

Mein Wecker klingelt meistens um 5 Uhr morgens. Gegen 5.30 Uhr fahre ich zu meinem ersten Einsatzort, wo ich mich oft mit Kollegen treffe. Gut 90 bis 95 Prozent meiner Arbeitstage bin ich in Krankenhäusern im Einsatz, der Rest entfällt auf Labore und Forschungseinrichtungen. Im Moment erweitern wir bei einem Kunden in zwei Bauabschnitten unter anderem eine Intensivstation.

Teilweise bauen wir Anlagen auch im laufenden Betrieb um, oder wir müssen einzelne Teile austauschen. In diesen Augenblicken greifen wir in Systeme ein, an denen Menschen versorgt werden, beispielsweise in die Beatmung von Patienten auf einer Intensivstation, die unter anderem mit medizinischer Druckluft läuft. Auch während unserer Arbeit muss die Versorgung mit medizinischen Gasen gewährleistet sein. Denn sollte die Druckluft in diesem Moment ausfallen, müssten die Patienten mit Hand beatmet werden. Deshalb müssen wir im Vorfeld gemeinsam mit dem Kunden die Notversorgung abstimmen und planen.

Zu meiner Arbeit kam ich 2001. Drei Jahre später wurde ich als Anlagentechniker in der Montage übernommen. Von 2011 bis 2015 habe ich Projekte in den Niederlanden und in Afghanistan betreut. Die Arbeit dort war immer anders. Gerade in Afghanistan, wo immer wieder mit Erdbeben zu rechnen ist, galten besondere Anforderungen an unsere Befestigungssysteme. Aber auch in den Niederlanden unterscheiden sich die Bedingungen teilweise von denen, wie wir sie aus Deutschland kennen.

Seit 2016 bin ich Einsatzleiter und merke immer mehr, wie die rechtlichen Anforderungen an unsere Arbeit gestiegen sind. Manchmal kann der administrative Teil einen ganzen Arbeitstag füllen. Ab Beginn eines Projekts protokollieren wir jeden Schritt bis zur Übergabe unserer Systeme an den Kunden. Damit stellen wir sicher, wieder zertifiziert zu werden. Ohne diese Zertifizierung können Firmen nicht an Ausschreibungen teilnehmen und dürfen keine Anlagen oder Systeme im Bereich der Medizintechnik errichten.

Auch nach rund 22 Jahren finde ich meinen Job immer noch spannend. Jedes Haus, in dem wir arbeiten, ist anders und jedes neue Projekt stellt mich vor andere Herausforderungen.“

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