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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW „Wir wollen die Streikfähigkeit erhöhen“

Ausgabe 07+08/2011

IG-METALL-PROJEKT In Bayern lernen Betriebsräte gemeinsam mit Verwaltungsstellenleitern, wie man einen Arbeitskampf in der Fläche organisiert, um in künftigen Tarifauseinandersetzungen Zähne zeigen zu können.

Mit dem Bezirksleiter der IG Metall in Bayern, Jürgen Wechsler, sprach der Journalist Mario Müller in Nürnberg/Foto: Andreas Gebert/dpa

Jürgen Wechsler, worum geht es bei dem „Projekt A-Betriebe“, das die IG Metall in Bayern jetzt erprobt?
Ganz einfach: Wir wollen unsere Mitgliederbasis und damit die Streikfähigkeit der IG Metall stärken.

Gehört das nicht zur täglichen Arbeit einer Gewerkschaft?
Natürlich, das ist die Kernaufgabe. Eine Gewerkschaft zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, Tarifverträge abzuschließen. Die bekommt man aber nicht allein am Verhandlungstisch, es erfordert auch Auseinandersetzungen. Streikfähigkeit heißt ja nicht, dass man jedes Mal in den Streik geht. Allein die Möglichkeit, die Streik-Androhung, führt ja zu besseren Abschlüssen.

Wenn es ohnehin die Kernaufgabe ist, warum macht dann die IG Metall Bayern ein besonderes Projekt?
Auslöser war für uns die Tarifrunde 2008. Aber die Diskussion begann schon 1995. Damals hatten wir den letzten großen Streik der IG Metall in Bayern. Er war auf die sogenannten Final-Hersteller konzentriert, die bei einem Streik keine Fernwirkung erzeugen. Seitdem hat sich in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie sehr viel verändert. Wir haben mehrere Wirtschaftskrisen erlebt, Betriebe wie etwa Nokia Kabel oder AEG sind verschwunden. Gleichzeitig nahm die Tarifbindung ab: Mittlerweile fallen nur noch 54 Prozent der Beschäftigten unter den Flächentarif. Bei der Vorbereitung auf die jeweiligen Tarifrunden stehen wir immer vor der Frage: Wo sind die streikfähigen A-Betriebe, die man in eine Aus­einandersetzung um einen Flächentarifvertrag nehmen kann?

 Die Frage nach dem Streikkonzept stellte sich sicher auch 2008 wieder.
Uns ist klar geworden, dass wir in einigen Punkten nachsteuern müssen. Zum einen gibt es Betriebsräte, Vertrauensleute, Vertrauenskörper-Leiter, die noch nie einen großen Arbeitskampf in der Fläche mitgemacht haben. Sie müssen entsprechend qualifiziert werden. Zum anderen ist die M&E-Industrie in viele Branchen unterteilt. Unsere Analyse ergab, dass wir in Bayern den höchsten Organisationsgrad in der Automobilindustrie haben, sowohl bei den Markenherstellern wie auch unter den Zulieferern. Im Maschinenbau liegen wir um einiges darunter, was mit der Struktur der Betriebe zu tun hat. Und auch in der Elektroindustrie gibt es etwa neue Energietechnik-Bereiche, in denen wir noch nicht den Organisationsgrad haben, um durchsetzungsfähig zu sein. Unser Fazit: Wir müssen strukturell und besonders in Zukunftsbranchen die Durchsetzungs- und Streikfähigkeit herstellen und die Zahl der A-Betriebe erhöhen.

Nach welchen Gesichtspunkten haben die Projektmacher Betriebe ausgewählt?
Nach drei Kriterien. Erstens haben wir geschaut, ob der jeweilige Betrieb ökonomisch eine Zukunftsperspektive hat. Man nimmt ja keinen, dem die Pleite drohen könnte. Zweitens sollten die Kandidaten möglichst aus dem Maschinenbau und der Elektroindustrie kommen. Das dritte Kriterium bezieht sich auf die Verankerung in den Betrieben.

Um welche Fragen geht es dort?
Wir fragen: Wie ist das zahlenmäßige Verhältnis der Gewerkschaftsmitglieder zu Beschäftigten? Wo ist der Organisationsgrad noch nicht ausreichend? Ist die IG Metall mit ihren Betriebsfunktionären in der Lage, auch vom Bewusstsein her, in eine Auseinandersetzung zu gehen? Es gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn die Gewerkschaft einen Arbeitskampf ausruft und die Funktionäre nicht mitmachen. Wir haben uns dann Betriebe ausgeguckt, in denen nach 1995 ein Generationswechsel stattgefunden hat. In denen also Betriebsräte und Vertrauensleute arbeiten, die eine Schärfung des Bewusstseins brauchen, aber auch das Handwerkszeug, beispielsweise das praktische Wissen, wie man einen Streik organisiert.

Wie viele Betriebe machen mit?
Mehr als 40. Wir hatten uns intern vorgenommen, dass aus jeder der 21 Verwaltungsstellen in Bayern mindestens zwei Betriebe in das „Projekt A-Betriebe“ aufgenommen werden sollten. Dass uns diese Regionalisierung gelungen ist, freut mich besonders. Wir wollen, dass eine Auseinandersetzung nicht nur in wenigen Zentren stattfinden kann, sondern in der Fläche.

Wer hat die Vorauswahl getroffen? Kamen die Vorschläge aus der Region, oder wurden die Betriebe zentral von oben bestimmt?
Über die Auswahl ist in einem offenen und fairen Prozess entschieden worden. Wir haben die Kriterien festgelegt und dann intensive Diskussionen mit den Bevollmächtigten der Verwaltungsstellen geführt. Die kennen ja die Betriebe. Sie haben wiederum mit den jeweiligen Betriebsräten und Vertrauensleuten gesprochen und mit ihnen vereinbart, an dem Projekt teilzunehmen. Wir haben das im Bezirk zusammengetragen und an dem einen oder anderen Punkt noch mal nachgehakt und nachgesteuert. Zum Beispiel weil 2008 einige Betriebe wegen der Krise in eine Schieflage geraten waren und von daher nicht mehr infrage kamen. Aber mir ist wichtig: Alles lief in Übereinstimmung. Denn es kann nur funktionieren, wenn die betrieblichen Kollegen sagen: Jawohl, das wollen wir.

Gibt es konkrete Projekt-Ziele? Wird ein bestimmter Organisationsgrad angepeilt?
Ja, solche Festlegungen gibt es. Ich will jetzt nicht über einzelne Zahlen reden. Aber es sollte weit mehr als die Hälfte der Beschäftigten der Gewerkschaft angehören. Oder zumindest die Gewähr dafür gegeben sein, dass der allergrößte Teil der Mitglieder bei einem Arbeitskampf mitmacht. In diese Richtung muss es schon gehen. Am Ende des Projekts sollen möglichst 40 zusätzliche streikfähige Betriebe stehen. Das ist der Traum des Bezirksleiters. Wir in der IG Metall gehen davon aus, dass ein Arbeitskampf in einer großen Flächenauseinandersetzung schon mal mehrere Wochen dauern kann. Das ist noch mal was anderes als drei, vier Warnstreiks. Die IG Metall hat aus der Geschichte gelernt, dass man sich auf längere Auseinandersetzungen einstellen muss. Der größte Streik in den vergangenen Jahrzehnten, 1984 um die 35-Stunden-Woche, dauerte sieben Wochen.

Wie muss man sich die praktische Umsetzung eines Projekts zur Steigerung der Streikfähigkeit vorstellen?
Unser Projektteam unter der Federführung von Andreas Schmitt und Willi Rembs stützt sich nicht auf ein fertiges Konzept, das den Betrieben übergestülpt wird. Es gibt zwar eine klare Linie, wohin wir wollen, aber die Umsetzung wird für jeden Betrieb einzeln erarbeitet. Funktionäre aus Betrieben und Verwaltungsstellen treffen sich in Seminaren, in denen sie ihre jeweiligen Pläne erörtern und – ganz wichtig – Erfahrungen austauschen. Es gibt verschiedene Schulungsangebote, auch von den Verwaltungsstellen. Die Nachfrage ist unterschiedlich.

Was wollen die Betriebsräte und Vertrauensleute wissen?
Manche wollen erfahren, wie man ein solches Projekt systematisch angeht. Andere bekommen eine Ausbildung in Kommunikation und lernen, wie man Menschen in Tarifauseinandersetzungen am besten anspricht. Jetzt im Mai, in der Halbzeit des Projekts, waren alle Beteiligten zu einem Streiksymposium nach Bad Gögging geladen, an dem auch Detlef Wetzel, unser Zweiter Vorsitzender, teilnahm, was gegenüber den Kollegen die Bedeutung ihrer betrieblichen Aktivitäten unterstreicht.

Streiksymposium klingt nach Trockenübung.
Es ist ein Stück Vorbereitung auf die Tarifrunde 2012 – für einen Fall, von dem man nicht weiß, ob und wann er eintritt. Ich habe in meinen mehr als 30 Jahren Gewerkschaftsarbeit gelernt, dass so manche Trockenübung vielleicht lästig ist, wenn es nicht zum Nass­einsatz kommt. Aber es ist eine große Hilfe zu wissen, wann man ausreichend Unterstützung hat, um in eine Urabstimmung zu gehen, und welche Kollegen als Streikposten infrage kommen.

Gibt es nach der Halbzeit schon ein Zwischenergebnis?
Erfolge bei der Qualifizierung lassen sich nur schwer messen. Aber in den Projektbetrieben sehen wir eine größere Steigerung des Organisationsgrads als im bayerischen Durchschnitt. Die Mitgliederentwicklung war auch in unserem Bezirk in den vergangenen Jahren per saldo rückläufig. Jetzt sind wir jedoch dabei, die Wende zu schaffen. Ich gehe fest davon aus, dass wir am Ende dieses Jahres mehr Mitglieder haben als am Anfang.

Will der Bezirksleiter Wechsler mit dem Projekt auch die Tarifflucht der Arbeitgeber stoppen?
Klar, das ist für mich einer der wichtigsten Punkte. In Bayern hat die OT-Entwicklung ja begonnen. Die Arbeitgeber wollten den Flächentarif und damit die Gewerkschaft schwächen. Wir werden aber in Deutschland nicht weiterkommen mit Niedriglöhnen und der Flucht aus den Tarifverträgen. Ich möchte, dass die Arbeitgeber die Vorteile des bewährten Systems wieder erkennen, das auch ihnen Sicherheit gibt. Durch das „Projekt A-Betriebe“ wollen wir sie mit Nachdruck überzeugen, wieder in die Tarifbindung zu gehen. Wir müssen wieder auf einen Durchdringungsgrad von 70, 80 Prozent kommen.

Der Bezirk Küste hatte Kritik am Abschluss 2008 geübt und gefordert, die Mitglieder in Tarifrunden stärker einzubinden. Inwieweit spielt das beim eurem A-Projekt eine Rolle?
Eine ganz große. Wie wir die Mitglieder beteiligen, wenn es um die Aufstellung von Forderungen geht, um Warnstreiks oder Abweichungen vom Tarif, ist ein ganz wichtiges Thema, das die IG Metall meines Erachtens noch weiterentwickeln muss. Bis hin zu der Frage, wie wir die Mitglieder bei den Verhandlungsergebnissen einbeziehen. Menschen tun sich mit Kompromissen leichter, wenn sie an dem Prozess von Anfang an beteiligt sind.

Ist euer Organisierungsprojekt ein Vorbild für andere Bezirke?
Das Interesse ist groß. Schließlich gehört die Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit zu den Kernaufgaben der IG Metall. Ich werbe für weitere Projekte. Darüber werden wir in der IG Metall diskutieren, wenn es darum geht, wie wir die 15 Millionen Euro aus unserem Investitionsfonds verwenden, die durch die Umorganisation im Vorstand jedes Jahr für die Fläche frei werden.

Das Projekt läuft bis Ende 2012. Was geschieht dann?
Mein Ziel ist, das Projekt zu einem regelmäßigen Vorhaben zu machen. Eine Option besteht darin, es in den Betrieben, in denen es noch hakt, zu verlängern. Die zweite wäre, sich weitere Kandidaten vorzunehmen, bis – ich spitze das jetzt mal zu – alle M&E-Betriebe in Bayern streikfähig sind. Da reden wir über 600 bis 700 Betriebe mit rund 730 000 Beschäftigten.

Das werden die Arbeitgeber gerne hören.
Die IG Metall streikt nicht um des Streiks willen. Aber es geht bei Auseinandersetzungen auch immer um die Frage, in welchem Bezirk eine Urabstimmung stattfindet. Entscheidend ist, ob alle Bezirke dazu in der Lage wären. Daran müssen wir noch arbeiten. Auch damit die IG Metall nicht total berechenbar ist für die andere Seite. Wir in Bayern wollen uns selbstbewusst einbringen, wenn es darauf ankommt. Zumal es gut wäre für die Hygiene innerhalb des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, wenn auch die bayerischen Betriebe mal bestreikt würden.

ZUR PERSON

Beim Thema Streikfähigkeit kennt sich Jürgen Wechsler aus. Beim großen Arbeitskampf 1995 war er Streikleiter in Nürnberg. Zehn Jahre später dann die Aufsehen erregende, monatelange Auseinandersetzung um den Erhalt des Nürnberger AEG-Werks. Wechsler war wieder Streikleiter. Die Schließung konnte zwar nicht verhindert werden, aber am Ende stand ein ansehnlicher Sozialtarifvertrag, ein Ergebnis, das den Meistern bei AEG geschuldet sei, sie hätten letztendlich den Streik geleitet, sagt Wechsler. Der Hinweis folgt seinem Credo: Um etwas erreichen zu können, braucht die Gewerkschaft eine starke Basis in den Betrieben. Auch die kennt er. Wechsler hat 15 Jahre bei Siemens ge­arbeitet. 2008 wurde der 55-jährige Vater von drei Kindern Erster Bevollmächtigter in Nürnberg, Mitte 2010 trat er die Nachfolge von Werner ­Neugebauer als Bezirksleiter der IG Metall Bayern an.

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