zurück
Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW "Es gibt keine neutrale Bildung"

Ausgabe 04/2011

Ulrike Obermayr, IG Metall, und Markus Römer, IG BCE, über gewerkschaftliche Bildungsarbeit und kommerzielle Konkurrenz.

Mit Ulrike Obermayr und Markus Römer sprachen die Journalistinnen CORNELIA GIRNDT und KARIN FLOTHMANN in Hannover/Foto: Michael Cintula

Markus Römer, seit rund 20 Jahren gewinnen private Anbieter von Betriebsrätebildung zunehmend Terrain. Was bedeutet das für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit?
Römer: Die Bildungslandschaft hat sich massiv verändert. Früher hatten die Gewerkschaften die Betriebsrätebildung allein finanziert, erst seit 1972 verpflichtet der § 37.6 BetrVG die Arbeitgeber zur Kostenübernahme. Bis Ende der 80er Jahre hatten die Gewerkschaften immer noch das alleinige Monopol bei der Betriebsrätebildung. Das änderte sich mit dem Auftauchen der kommerziellen Anbieter. Aber wir als IG BCE finden: Konkurrenz hat durchaus auch eine positive Seite.

Inwiefern positiv? Wenn Betriebsräte zu privaten Bildungsanbietern gehen, geht das doch zulasten gemeinsamen Lernens und einer solidarischen Gewerkschaftspolitik.
Römer: Wir haben die Herausforderung aufgenommen: Am Ende können unsere Seminare besser sein als die der Kommerziellen. Wenn wir nicht professionell sind, dann kommt keiner zu uns. Das betrifft die Bildungszentren, den Standard der Unterbringung und natürlich die Seminare. Wenn wir hier Qualität liefern, können wir mehr leisten als die Kommerziellen, denn wir sind ja viel näher an den Betriebsräten dran. Wir kennen die Betriebe, wir machen die Tarifverträge, wir sind bei der Umsetzung dabei. Und unsere Referenten kommen aus der betrieblichen Praxis.

Mehr als die Hälfte aller Betriebsräte nimmt heute nicht mehr an gewerkschaftlich organisierten Fortbildungen teil. Sondern geht zu Privaten. Was bedeutet diese Milieuflucht für die IG Metall, Ulrike Obermayr?
Obermayr: Man muss schon sehr genau hinschauen. Gehen die Betriebsräte wirklich zu privaten Anbietern oder nehmen sie nicht an Bildungsveranstaltungen teil? Gerade die Gruppe derjenigen Betriebsräte, die keine Bildung wahrnehmen, ist mittlerweile relativ groß.

In einem Aufsatz haben Sie eine gewisse Entfremdung zwischen Betriebsräten und Gewerkschaft konstatiert. Ist dieser Prozess schleichend gelaufen? Haben ihn die Gewerkschaften zu spät zur Kenntnis genommen?
Obermayr: In den letzten Jahren gab es sicher einen Bedeutungsverlust von Bildung, auch in den Gewerkschaften. In den Betriebsratsgremien wurde zu wenig diskutiert und problematisiert, zu welchem Bildungsanbieter man geht. Vielen Betriebsräten geht es in erster Linie um eine rein fachliche Bildung, und man distanziert sich davon, Betriebsratsarbeit sei auch politische Arbeit. Das wollen wir ändern. Bei Bildungsveranstaltungen der IG Metall geht es immer auch um politische Orientierung, soziale Prozesse und gemeinsames Lernen. Das entspricht unserem Bildungsverständnis, die Kenntnis von Paragrafen ist nur eine Seite der Medaille.

Römer: Als die großen kommerziellen Bildungsanbieter um das Jahr 2000 noch einmal deutlich vom Volumen her zulegten, haben wir Konsequenzen daraus gezogen. Wir haben mehr Ressourcen in die Hand genommen und eine eigene Gesellschaft gegründet, die BWS GmbH, die dann 2006 als Bildungsträger der IG BCE an den Start ging. Seither holen wir Dinge nach, die wir vorher gar nicht in unserem Angebot hatten.

Welche sind das? Wo hat die IG BCE von den Privaten gelernt?
Römer: Wir haben Infrastruktur aufgebaut, um Inhouse-Seminare anzubieten. Außerdem haben wir begonnen, unser Bildungsangebot nach Zielgruppen stärker auszudifferenzieren. Wir haben jeweils eigene Bildungsprogramme entwickelt für die Betriebsräte, die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten, die Schwerbehindertenvertretungen. Diese Auffächerung unseres Programms hat zu deutlich höheren Teilnehmerzahlen geführt. Natürlich sind uns die kommerziellen Anbieter ein Dorn im Auge. Aber am Ende haben sie dazu beigetragen, dass wir heute ein besseres und differenzierteres Angebot haben.

Fast 40 Prozent der 2010 erstmals gewählten Betriebsräte sind nicht in der IG BCE organisiert. Wie wirkt sich das auf die Bildungsarbeit aus?
Römer: Wir organisieren und betreuen rund 24 000 Betriebsrätinnen und Betriebsräte in den Branchen der IG Bergbau, Chemie, Energie. Davon sind rund ein Drittel, also 7600, erstmals gewählt, von denen rund 3000 Betriebsräte nicht in der IG BCE sind. Doch im Laufe ihrer Betriebsratstätigkeit ändert sich das. Von den Betriebsräten, die bei uns eine Schulung machen, sind rund zehn Prozent nicht organisiert. Das sind Leute, die über kurz oder lang dann auch zu uns kommen. Am Ende der Wahlperiode sind mehr als 80 Prozent der Betriebsräte Mitglied der IG BCE. So steigt unser Organisationsgrad durch die Bildungsarbeit.

Obermayr: Das sieht bei uns genauso aus. Wir gehen heute direkt auf die Betriebsräte zu und machen den Kolleginnen und Kollegen ein zielgerichtetes Bildungsangebot. Vor allem auch die neu gewählten Betriebsräte werden persönlich von der IG Metall angesprochen. Das ist ein anderes Verständnis als noch vor zehn oder 15 Jahren. Damals hieß es: "Wir haben ein Programm, da kann doch jeder reinschauen." Die direkte Ansprache ist recht erfolgreich, bei den Seminaren nach § 37.6 haben sich die Teilnehmerzahlen sichtlich gut entwickelt seit 2006, als bundesweit 24 500 Betriebsräte, Jugend- und Schwerbehindertenvertreter daran teilnahmen. Sicher, 2008 waren es krisenbedingt nur noch 19 000. Aber im Jahr 2010 hatten wir insgesamt rund 29 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, im Einstiegsbereich sogar mehr als nach der letzten Betriebsratswahl.

Römer: Unsere Aufgabe ist es, die 7600 erstmals gewählten Betriebsräte davon zu überzeugen, dass es für ihr Amt auch einer gewissen Qualifizierung bedarf. Seit den Betriebsratswahlen 2010 haben jetzt schon rund 34 Prozent der neu gewählten Betriebsräte ein erstes Grundlagensemiar besucht. Das sind einige Hundert mehr als vor vier Jahren. Insgesamt haben wir bei unseren Seminaren nach § 37.6 rund 12 500 Teilnehmer pro Jahr. Das heißt, wir erreichen schon sehr viele Betriebsräte mit unserem Angebot. Wobei es natürlich auch bei uns noch die 40 bis 50 Prozent gibt, die gar kein Seminar besuchen.

Hat die Bildungsbereitschaft der Betriebsräte abgenommen?
Obermayr: Viele praktizieren ein Learning by Doing oder suchen sich jemanden, der sie berät. Unsere Seminare machen aber mehr Sinn. Es braucht einfach einen gewissen Grundstock an Wissen, um sich auf die Aufgaben eines Betriebsrates vernünftig vorzubereiten. Deswegen bauen unsere Bildungskonzepte aufeinander auf, wir arbeiten mit modularen Bausteinen, aus denen sich die Teilnehmer aussuchen können, was für sie wichtig ist.

In der Krise war ja die Bildungsbereitschaft der Betriebsräte bei den Industriegewerkschaften stark gesunken. Woran lag das?
Römer: In der Wirtschaftskrise gab es in den Betrieben zum Teil Budgetbegrenzungen für die Bildungsarbeit. Hinzu kamen im vergangenen Jahr die Betriebsratswahlen. Drei Monate vor einer solchen Wahl geht eh niemand mehr zu einem Seminar. Diesen Zyklus kennen wir schon, der muss einen nicht beunruhigen. Nun hat sich die Wirtschaft erfreulicherweise schneller erholt. Und unsere Seminare sind heute deutlich stärker nachgefragt, als wir erwartet haben.

Gibt es Zielgruppen, die die gewerkschaftliche Bildung nur schwer erreicht?
Römer: Ja. Bei einer von uns beauftragten Studie kam 2002 heraus, dass in unsrem Organisationsbereich die Betriebsratsvorsitzenden, ihre Stellvertreter, Freigestellte und Aufsichtsratsmitglieder nur selten an Seminaren teilnehmen. Und wenn doch, dann gehen sie verhältnismäßig oft zu privaten Anbietern. Auf diese Situation reagierten wir mit unserem speziellen Angebot für diese Zielgruppe, das wir in der neu gegründeten Akademie "Führungskräfte im Betriebsrat" zusammenfassen. Das neue Programm zeigt enorme Wirkung. Letztlich ist das alles auch eine Frage des richtigen Marketings. Die wir ansprechen wollen, müssen das Bildungsangebot persönlich zugeschickt bekommen. Dann fühlen sie sich eingeladen und kommen auch zu uns. Und natürlich schauen unsere Betriebsräte sehr genau darauf, ob das Angebot für sie passt, ob die Referenten gut sind. Von daher müssen unsere Seminare einfach besser sein als die der Kommerziellen.

Sollten die Seminare auf jeden Fall in gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen stattfinden oder kann es auch im Vertragshotel sein?
Obermayr: Die Musik spielt in den Regionen. Wir haben in ganz Deutschland Kooperationspartner, die regional Seminare anbieten, die dann auch in Hotels stattfinden. Wir können nur ein bestimmtes Kontingent in unseren Bildungszentren beherbergen, und zwar rund 40 000 Seminarteilnehmer im Jahr. Trotzdem haben unsere sieben Häuser eine ganz wichtige Funktion, was die Bindung unserer Funktionäre angeht. Hier nehmen wir auch Geld in die Hand und bauen in Sprockhövel ein neues Haus, eine moderne Bildungsstätte, die im November eröffnet wird. Ich kann mir keine Bildungsarbeit ohne eigene Bildungsstätten vorstellen.

Römer: Bei uns ist es ähnlich. Rund ein Drittel unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommt in unsere drei zentralen Bildungsstätten. Alle anderen Veranstaltungen, im Prinzip der ganze BR-Grundlagenbereich, findet in den Regionen und dort in Hotels statt. In den Bildungsstätten lernt und lebt man in einer ganz anderen Atmosphäre, zumal die Häuser von gewerkschaftlichen Fachdozenten geführt werden. Wir werden auf sie nicht verzichten, sie sind ein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb.

Welche Rolle spielen die Arbeitgeber bei der Wahl des Bildungsanbieters?
Obermayr: Viele Arbeitgeber sorgen schon dafür, dass die entsprechenden Materialien an den richtigen Mann und die Frau kommen. Davon wissen wir. Das erzählen uns Kollegen. Betriebsratsgremien werden ja zugeballert mit Broschüren und Prospekten. Natürlich wissen auch die Betriebsräte, dass es weniger Konflikte mit der Unternehmensleitung gibt, wenn sie sich für einen privaten Bildungsanbieter entscheiden.

Welchen Einfluss haben in dem Zusammenhang die Lockangebote der privaten Anbieter? Werben die nicht auch mit Wellness und Freizeitvergnügen?
Römer: Da muss man die Betriebsrätinnen und Betriebsräte in Schutz nehmen. Untersuchungen zeigen, dass der Anteil verschwindend gering ist, der die Seminare nach dem Freizeitcharakter aussucht. Die Privaten decken diese Nische ab, aber die ist nichts für uns. Wir Gewerkschaften werden sicher keine Eventseminare auf Kreuzfahrtschiffen in der Karibik anbieten, um die Kommerziellen aus diesem Markt zu drängen. Der größte Teil unserer Kollegen will vernünftig für seine Betriebsratsarbeit qualifiziert werden. Auf diese Leute zielen wir ab.

Es heißt, die Privaten seien die Neutraleren und deshalb würden ihnen nicht wenige Betriebsräte den Vorzug geben.
Obermayr: Es gibt keine neutrale Bildung. Betriebsratsmitglieder, die an privaten Seminaren teilgenommen haben, sagen uns anschließend: "Ich werde da gar nicht gefordert, eine Strategie zu entwickeln. Und ich erfahre nichts darüber, wie ich mich im Konfliktfall verhalten soll." Da fehlt den Privaten etwas, das wir bieten können. Bildung ist bei uns keine reine Vermittlungsmaschinerie von Fakten. Es geht doch auch darum, diese Fakten zu bewerten und zu beurteilen. Das unterscheidet uns von den kommerziellen Anbietern.

Römer: Ein gravierender Unterschied ist: Die Kommerziellen wollen mit der Betriebsrätebildung Geld verdienen. Das mag legitim sein, aber das ist nicht unsere Zielsetzung. Wir wollen mit unserer Bildungsarbeit erreichen, dass sich etwas an der betrieblichen und gesellschaftlichen Realität der Kolleginnen und Kollegen verändert. Daher ist es - bei aller Faktenvermittlung - am Ende auch immer politische Bildungsarbeit. Dazu stehen wir als IG BCE. Ich betone allerdings: Unsere Arbeit ist politisch, nicht ideologisch. Wir geben nicht vor, was die Leute denken sollen. Wir diskutieren über Chancengleichheit oder über Schutz vor Willkür im Betrieb und entwickeln dabei gemeinsam Zielsetzungen und Strategien. Bei uns reden die Menschen miteinander über die realen Bedingungen im Betrieb und darüber, wie etwas verändert werden kann. Manche Betriebsräte sind davon zu Beginn etwas abgeschreckt, am Ende finden die meisten das dann aber durchaus "praxistauglich".

ZUR PERSON

Markus Römer, 44, leitet seit 2004 die Abteilung Bildung/Wissenschaft im Hauptvorstand der IG BCE in Hannover. Er und sein Team haben maßgeblich die Gründung der BWS GmbH vorangetrieben, deren 17 Mitarbeiter die Betriebsrätebildung der IG BCE entwickeln und profilieren. Zuvor war Römer zwei Jahre lang stellvertretender Landesbezirksleiter der IG BCE in Baden-Württemberg, bis 2002 war er Vize im Bezirk Leverkusen.

ZUR PERSON

Ulrike Obermayr, 43, ist seit 2008 Bereichsleiterin der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit beim Vorstand der IG Metall. Sie organisiert gemeinsam mit den Bildungsstätten die Weiterentwicklung des gesamten Bildungsangebotes, wobei der Fokus in den letzten zwei Jahren auf dem Ausbau und der Stabilisierung der Betriebsrätebildung lag. Zuvor organisierte Obermayr die Aus- und Fortbildung von Hauptamtlichen der IG Metall, darunter die Trainees. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit kennt sie seit ihrer Zeit als pädagogische Mitarbeiterin in der IG-Metall-Jugendbildungsstätte Schlierensee.

IG BCE-BILDUNGSPROGRAMM

"Wir sind das Original", lautet die neue Marketingstrategie der IG-BCE-Bildungsarbeit, die sich explizit gegenüber den privaten Bildungsanbietern profiliert. Das Original verspricht den Betriebsräten: "Wir wissen, wofür ihr kämpft. Wir kennen eure Hindernisse und die Wege, diese zu überwinden. Bildung direkt aus der Praxis - das können nur wir." Die IG BCE wartet in diesem Jahr erstmals mit einer Akademie für "Führungskräfte im Betriebsrat" auf. Im Bildungszentrum Kagel-Möllenhorst werden Betriebsratsvorsitzende, deren Stellvertreter, Freigestellte und Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten für ihre anspruchsvolle Mitbestimmungstätigkeit qualifiziert. Ein weiteres Bildungsprogramm richtet sich explizit an die Vertreter von Schwerbehinderten, ein anderes an die Jugend- und Auszubildendenvertreter.

Neu gewählte Betriebsräte können bei der IG BCE in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit ein spezielles Online-Coaching in Anspruch nehmen und erhalten außerdem das Angebot, an den Grundlagenseminaren für Betriebsräte teilzunehmen, um sich in die Kernthemen wie Arbeitszeit, Tarifpolitik, Beschäftigungssicherung einzuarbeiten.

 

IG METALL-BILDUNGSARBEIT

"Kurswechsel für ein gutes Leben", lautet das Motto der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit der IG Metall für das Jahr 2011. Für Betriebsräte sind "ökonomische Grundkenntnisse" genauso wichtig wie die Fähigkeit, "zukunftsorientierte, gute Arbeit zu gestalten". Und so bietet die IG Metall ihren Betriebsräten mit "BR kompakt" ein Angebot in sieben Modulen, in denen es darum geht, Umstrukturierungen im Unternehmen mit Betriebsratshandeln zu verbinden. Neu im Programm ist die Fachakademie für Arbeitsrecht. Neben Arbeitsrecht und aktueller Rechtsprechung steht dort auch das Seminar "Alles, was der Betriebsrat falsch machen kann - Fehler, Folgen, Hilfe" auf dem Programm.

Betriebsratsvorsitzende und ihre Stellvertreter finden speziell auf ihre Führungsaufgaben zugeschnittene Programme. Auch für Ingenieurinnen und Ingenieure hat die IG Metall ein spezifisches Angebot, in dem z.B. Offshoring von Ingenieurdienstleistungen und Leiharbeit im Engineeringbereich thematisiert werden. Die IG Metall bietet auch Studierenden der Metall- und Elektrofachrichtungen Unterstützung beim Übergang vom Studium in den Beruf und umgekehrt, für den zweiten Bildungsweg.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen