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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Ich wollte die Chance nutzen'

Ausgabe 03/2006

Kaum war Hermann Rappe in den Bundestag gewählt, fand er sich an der Spitze einer Kommission der SPD-Fraktion wieder, die mit der FDP einen Kompromiss in Sachen Mitbestimmung aushandelte.



Mit Hermann Rappe sprachen Cornelia Girndt und Margarete Hasel.

Spätestens seit Ende der 60er Jahre forderten die Gewerkschaften die gesetzliche Ausweitung der Montanmitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft. Wie war damals die Lage?
Wir wollten die Möglichkeiten der sozialliberalen Koalition ausloten. In SPD und Gewerkschaften wurde heftig diskutiert, ob die Freiburger Thesen der FDP ein Fundament für ein Mitbestimmungs- und ein Vermögensbildungsgesetz hergeben.

Auf dem Freiburger Parteitag der FDP 1971 setzte sich der sozialliberale Flügel durch, damit zeichneten sich parlamentarische Reformmehrheiten ab.
Bei der Vermögensbildung haben Lambsdorff und Genscher gleich gesagt, dass eine Mitwirkung der Tarifparteien mit ihnen nicht zu machen ist. Also blieb die Mitbestimmung. In der SPD-Fraktion ging es darum, ob wir mit der FDP das Machbare versuchen oder auf besseres Wetter warten sollen.

Wie hat sich der Abgeordnete Rappe positioniert?
Ich wollte die Chance nutzen. Doch in den Gewerkschaften wurde sehr kontrovers diskutiert. Metall, Bergbau und auch Bundesarbeitsminister Walter Arendt wollten kein verwässertes Montangesetz, sondern lieber warten. Die Mehrheit in der Fraktion dagegen wollte das Eisen sofort schmieden.

Arbeitsminister Arendt hat im Juni 1974 einen Gesetzesentwurf auf der Grundlage des so genannten Maihofer-Arendt-Kompromisses eingebracht. Wären die Gewerkschaften nicht gut beraten gewesen, ihren Widerstand aufzugeben?
Arendt hat diesen Entwurf zwar eingebracht - unter Zustimmung, wie man zunächst glaubte, auch der FDP. Bis der Fraktionsvorsitzende Mischnik klar machte, dass dem nicht so ist. Denn die FDP hatte sich auf Druck der ULA, des Verbandes der leitenden Angestellten, deren Forderung zu eigen gemacht. Während in der SPD-Fraktion noch umstritten war, ob die Leitenden überhaupt in den Aufsichtsrat sollten.

Danach hat die SPD-Fraktion eine Verhandlungskommission eingesetzt, deren Vorsitzender Sie wurden.
Man hat sich wohl gesagt: Der kann den Kompromiss aushandeln und er wird den Kompromiss auch aushalten. Die SPD-Kommission hatte elf Mitglieder - bis Friedhelm Farthmann nach wenigen Sitzungen aus Protest zurücktrat, weil er die Position von Walter Arendt teilte. Auch die FDP bildete eine Kommission. Diese beiden Gruppierungen haben dann in den Jahren 1974 und 1975 - getrennt voneinander - die wesentlichen Verhandlungen mit der Industrie, dem DGB, der DAG und der ULA geführt.

Schon 1968 hatte der DGB einen eigenen Gesetzesvorschlag ausgearbeitet, der volle Parität vorsah. Sie haben sich sehenden Auges zwischen diese Stühle begeben?
Die Mehrheitsmeinung unserer Kommission war eindeutig: "Wir wollen ein Gesetz, und was mit der FDP geht, wird gemacht. Wenn wir im Herbst 1976 eine absolute Mehrheit kriegen, können wir das Gesetz ja verbessern." Wir fürchteten, die Freiburger Thesen könnten rasch wieder versickern. Schließlich wussten wir aus der ersten sozialliberalen Koalition, dass mit der FDP zwar erfolgreich Außenpolitik zu machen war, dass die Koalition aber innen-, sozial- und gesellschaftspolitisch nicht auf Dauer halten konnte.

In den Montanindustrien war Mitbestimmung damals bereits seit über 20 Jahren bewährte Praxis. Erklärt das den Widerstand von Walter Arendt und der IG Metall gegen einen in ihren Augen verwässerten Gesetzesentwurf, der für die anderen Gewerkschaften durchaus ein Fortschritt war?
Auch für die IG Metall war das ein Fortschritt, denn die ganze Auto- und Elektroindustrie kamen hinzu. Für Bergbau nicht. Aber der IG-Bergbau-Vorsitzende Adolf Schmidt, der auch im Bundestag saß, hat mir am wenigsten Schwierigkeiten gemacht. Der hat intern gesagt: "Mach!" Walter Arendt hingegen hat in internen Diskussionen stets vertreten, dass er das Gesetz für einen Fehler hält.

In dieser Ablehnung wusste er die Gewerkschaften hinter sich.
In allen offiziellen Verhandlungen zwischen Kommission und DGB sowie Einzelgewerkschaften sind wir uns keinen Schritt näher gekommen. Weiter gekommen sind wir nur in Vieraugengesprächen, mit Heinz-Oskar Vetter, mit Eugen Loderer, mit Karl Haunschild, mit allen Vorsitzenden. Unter vier Augen haben sie alle erklärt: "Macht das Gesetz. Wer weiß, was in vier Jahren kommt." 

Sie haben sich immer wieder mit den Gewerkschaftsspitzen abgestimmt? 
Das hat die aber nicht daran gehindert, mich in der Bundesvorstandssitzung und in einer Bundesausschusssitzung nach diesen Gesprächen im Regen stehen zu lassen. Vor Walter Arendt sind sie alle eingeknickt. Dass es kein Votum des DGB oder einer Gewerkschaft gab, blieb natürlich in der Fraktion nicht unbemerkt. Denn über Vieraugengespräche kann man nicht berichten.

Das hat den Verhandlungsführer Rappe nicht gestärkt.
Das Vorhaben gelang nur dank der Rückendeckung von Brandt, Schmidt und Wehner. In der Fraktion haben wir deshalb jedes Mal eine große Mehrheit bekommen, weiter zu verhandeln. Die strittigen Punkte waren ja klar: Es ging um den Stichentscheid des Vorsitzenden, um die leitenden Angestellten und um das Wahlverfahren.

Beim Stichentscheid war die FDP unnachgiebig. Wie aufwändig waren die Gespräche mit ULA und DAG?
Nachdem klar wurde, dass die FDP über die Leitenden nicht mit sich reden lässt, haben wir die Leitenden hereingenommen, aber auf die Arbeitnehmerbank gesetzt. Diskutiert wurde vor allem, wie sie gewählt werden. Der Durchbruch gelang in kleinem Kreis mit dem ULA-Vorstand. Dabei haben wir sozusagen einen Vorfluter in das Gesetz eingebaut: In der Gruppe der Leitenden werden zwei Vertreter vorgewählt, von denen dann einer über die gemeinsame Liste von allen Angestellten gewählt wird. So ist das ins Gesetz gekommen und später auch in die Wahlordnung.

Die Arbeitgeber haben damals eine gewaltige Propagandamaschine in Gang gesetzt. Was lief hinter den Kulissen?
Die entscheidende Verhandlung mit dem Bundesverband der deutschen Industrie fand in Schloss Auel bei Bonn statt. Alle Geschäftsführer der 31 Fachverbände waren da. Pikanterweise hatte sich die SPD-Fraktion zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt, ich hatte nur meine Kommission hinter mir. Überzeugen konnte ich die Arbeitgeber nicht, aber alle hielten sich an die vereinbarte Vertraulichkeit.

Auch auf der Arbeitgeberseite gab es Operationen im Hintergrund und die Kampagne im Vordergrund?
Wir haben den ganzen Nachmittag den Kompromiss durchgeackert. Dann haben sie gesagt: "Wir sind dagegen, aber dieses Ergebnis ist besser als alles andere. Aber das werden wir nie öffentlich sagen." Von Schloss Auel bin ich direkt zu Herbert Wehner gefahren und habe ihm berichtet.

Wie hat er reagiert?
"Junge, mach weiter", hat er gesagt. Wir waren davon überzeugt, dass wir das Richtige machen.

Und wie reagierte Ihre eigene Gewerkschaft?
Ich bekam auf dem Gewerkschaftstag 1976 weniger Stimmen als bei den Wahlen zuvor. Der linke Flügel hat natürlich reagiert. Aber ich war von der Sache überzeugt und ich wusste Brandt, Schmidt, Wehner und die Fraktion hinter mir. Außerdem war nicht zu überhören, welche Stimmen innerhalb der FDP stärker wurden.

Welche? Bei der Abstimmung im Bundestag jedenfalls hat selbst Otto Graf Lambsdorff das Gesetz vertreten.
Damit wir das Gesetz in der Koalition überhaupt über die Bühne kriegten, haben auch wir nicht die letzte Rockfalte diskutiert. Sondern haben beispielsweise die Wahlordnung auf die Zeit nach der Bundestagswahl geschoben. Auch weil wir hofften, besser dazustehen, als es dann tatsächlich der Fall war. Es wurde also wieder eine Kommission gebildet. Für die SPD verhandelten der neue Arbeitsminister Ehrenberg und ich, für die FDP der Abgeordnete Schmidt (Kempten) - und Otto Graf Lambsdorff, wie er leibt und lebt. 

Das klingt nach einem teuren Kompromiss.
Wir hatten uns drei oder vier Mal getroffen, immer zum Frühstück morgens früh um acht. Nun war folgende Lage entstanden: Ehrenberg hatte ein Rentensicherungsgesetz und ein Kostendämpfungsgesetz vorgelegt. Beide Gesetze mussten durch den Bundesrat …

… mit einer CDU/FDP-Mehrheit.
Das Zünglein an der Waage war die CDU/FDP-Koalition im Saarland. Ich sehe noch heute, wie Lambsdorff sein Frühstücksei aufschlägt und gleich zur Sache kommt: "Heute ist Schluss mit der Kasperei. Entweder ihr nehmt unsere Vorschläge für die Wahlordnung an, oder Herr Ehrenberg und seine Gesetze scheitern im Bundesrat, weil dann die Saarlandklausel nicht angewandt wird."

Im normalen Leben nennt man das Erpressung.
Lambsdorff ließ keinen Zweifel daran, dass er umgehend seinen Parteifreund Klump, den saarländischen Wirtschaftsminister, anrufen würde.

Wie hat das Frühstück danach geschmeckt?
Wir haben in aller Ruhe unser Ei aufgegessen und uns um eine Stunde vertagt. Dann haben wir Herbert Wehner angerufen. In der Einschätzung der politischen Lage waren wir uns rasch einig. Die kippende Stimmung in der Bevölkerung, bevorstehende Landtagswahlen, das Rentengesetz und das Kostendämpfungsgesetz - das musste man alles im Zusammenhang sehen.

Dieses komplizierte Wahlverfahren, das heute von konservativen Professoren und Politikern gescholten wird, trägt die Handschrift der FDP?
Diese Wahlordnung haben ULA, die frühere DAG, FDP und der rechte Flügel der Union
zu verantworten. Nicht SPD, nicht DGB. Wir wollten von Anfang an ein einfacheres Wahlverfahren. Aber um über die Hürde zu kommen, haben wir dann ein Gesamtwahlverfahren konstruiert, das den Minderheitenschutz wahrt. Erst danach konnten Aufsichtsratswahlen stattfinden.

Wie ist bei Ihnen als einem der Architekten des Gesetzes angekommen, dass auch große Unternehmen der Chemieindustrie das Verfassungsgericht bemühten?
Es gab Gespräche mit Vorstandsvorsitzenden. Und jeder Einzelne hat sich herausgeredet. Es sei im Arbeitgeberverband festgelegt worden, welche Unternehmen klagen sollten. Ihnen seien die Hände gebunden.

War der Preis für den Kompromiss zu hoch?
Ich bin vom 76er Gesetz so überzeugt, wie ich selten im Leben von einer Sache überzeugt war. Nach wie vor. Ich hatte nie ernsthafte Zweifel, dass ein Vertreter der Leitenden rein muss, wenn er auf der Arbeitnehmerbank sitzt. Und die Stichentscheidstimme des Vorsitzenden war ebenfalls richtig, sonst hätte Karlsruhe das Gesetz kassiert.

Was also ist der substanzielle Kern der 76er Mitbestimmung?
Als Gewerkschafter sage ich: dass der Einfluss der Gewerkschaft auf die Großunternehmen und auch auf ihre Betriebsräte institutionell verankert ist. Ein Unternehmen mit ein paar Tausend Beschäftigten ist keine Hausbäckerei, sondern ein gesellschaftspolitisches Ereignis.

Durch den gewerkschaftlichen Einfluss kann auch der Gefahr entgegengewirkt werden, dass sich die Betriebsräte großer Unternehmen verselbstständigen. Die gesellschaftliche Mitverantwortung der Gewerkschaften ist nur mit Mitbestimmung zu entwickeln. Das ist ein erheblicher Fortschritt auch gegenüber Ländern, die Mitbestimmung nicht kennen. Mit Drittelbeteiligung geht das nicht, auf ein Drittel muss man keine Rücksicht nehmen.



Zur Person
Jahrgang 1929, begann seine gewerkschaftliche Karriere 1953 als Sekretär der IG Chemie-Papier-Keramik. 1966 rückte er in den hauptvorstand seiner Gewerkschaft auf, deren streitbarer Vorsitzender er von 1982 bis 1995 war. Von 1972 bis 1998 war er SPD-Abgeordneter im Bundestag. nach der Wiedervereinigung wurde er in den Verwaltungsrat der Treuhandanstalt berufen. Dem neuen Ombudsrat zur Begleitung der Arbeitsmarktreformen gehört er - neben Christine Bergmann und Kurt Biedenkopf - seit 2004 an.

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