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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Die Talfahrt ist abenteuerlich'

Ausgabe 05/2009

Der Wiener Ökonom Stephan Schulmeister über Spekulation an den Finanzmärkten, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und die Zukunft der Weltwirtschaft

Das Gespräch führten KAY MEINERS, Redakteur des Magazins Mitbestimmung, und PHLIPP WOLTER, Redakteur des Info-Dienstes Böckler Impuls/Foto: Werner Bachmeier

Herr Schulmeister, die Finanz- und Rohstoffmärkte sind im vergangenen Jahr dramatisch abgerutscht. Nur eine drastische Marktkorrektur oder das Ende des Finanzkapitalismus?
In jedem Fall ist das ein Wendepunkt. Drei Jahrzehnte lang hatten marktreligiöse Kräfte die Oberhand. Unregulierte Märkte wurden als Idealmärkte dargestellt. Nun haben wir erlebt, dass die freiesten Märkte der Welt, die Finanzmärkte, systematisch falsche Preise produzieren: Aktienkurse, Wechselkurse und Rohstoffpreise entwickeln sich in einer Abfolge mehrjähriger Bullen- und Bärenmärkte. Sie schwanken manisch-depressiv. Den ökonomischen Eliten fällt es schwer, das zuzugeben. Sie müssten sich von dem Weltbild der 1920er Jahre verabschieden, das mühevoll und unter Vergabe vieler Nobelpreise in den letzten drei Jahrzehnten restauriert wurde.

Wir brauchen eine neue Wirtschaftstheorie?
Wir müssen zum Beispiel wieder lernen, dass man Güter- und Finanzmärkte nicht gleich behandeln kann. Wenn die Nachfrage nach Brot steigt und der Brotpreis anzieht, backt der Bäcker mehr. Die Versorgung bessert sich, und die Preise sinken wieder. Beim Aktienmarkt ist das anders: Wenn die Nachfrage steigt, kann das Angebot kurzfristig nicht vermehrt werden. Gleichzeitig geben Analysten Kaufempfehlungen, technische Handelssysteme springen auf den Trend auf, und die Preise steigen immer höher.

Und nichts hält sie auf?
Es gibt schon so etwas wie einen fundamentalen Wert. Aber dieser wirkt nicht als Anker, der die Ausschläge in engen Grenzen hält. Er ist lediglich ein Gravitationszentrum, um das die Preise in mehrjährigen Zyklen herumtaumeln - mit sehr ausgeprägten Amplituden.

Wie erklären Sie diese starken Schwankungen?
Durch das Verhalten der Händler. Die meisten Akteure auf den Finanzmärkten versuchen, Trends möglichst früh zu identifizieren und dann auszureizen. Mithilfe der technischen Kursanalyse versuchen sie, Spekulationsgewinne zu erzielen - oft in Minutenschnelle. Dabei spielen Emotionen eine große Rolle. Für einen Verhaltensforscher wäre es sehr ergiebig, die Herdeneffekte zu studieren, die ein steigender Kurs auslöst.

Das berühmte Börsenfieber. Aber warum sind die Preise systematisch falsch?
Ein Kursanstieg kann theoretisch auf zwei verschiedene Arten entstehen. Die Kurse könnten große Sprünge auf neue Gleichgewichtsniveaus machen, wenn es wichtige Unternehmensnachrichten gibt. Das wäre nach der neoklassischen Theorie zu erwarten. Tatsächlich entwickeln sich Trends aus der Akkumulation vieler kleinerer Kursschübe, quasi Mini-Trends. Dieses Muster wird durch technische Handelssysteme ausgenützt und rückwirkend verstärkt. Das zeigt sich auf allen Zeitskalen - in Tagescharts genauso wie in Minuten-Daten.

Was schließen Sie aus dieser Beobachtung?
Der Befund deutet auf sich selbst verstärkende, kumulative Prozesse, nicht auf rasche Anpassungen an das Fundamentalgleichgewicht. Die Händler denken in Bewegungen, nicht in Niveaus. Nachrichten, die zum Trend passen, nehmen sie selektiv wahr, alles andere blenden sie aus.

Demnach haben die meisten Ökonomen völlig falsche Vorstellungen von der Preisbildung an den Finanzmärkten?
Sie versetzen sich nicht in die Psyche der Akteure. Die Trader leben in ihrer eigenen Welt, sie haben ihre eigene Sprache. Aber die Ökonomen nehmen das nicht ernst. Stattdessen haben sie zu einem Trick gegriffen, um überschießende Trends in ihrer Theorie auszuschließen, dabei wurde die Empirie zunehmend verdrängt: Die Lehre von den rationalen Erwartungen, nach der alle Preise immer ihrem Fundamentalgleichgewicht entsprechen und destabilisierende Spekulation per Modellkonstruktion ausgeschlossen wird.

Warum brach der lange Aufwärtstrend an den internationalen Finanzmärkten 2008 plötzlich ab?
Weil jede Blase irgendwann platzt. Nach dem Zusammenbruch der Lehman-Bank im September fielen die Kurse derart rasch, dass nahezu alle Modelle der technischen Analyse Verkaufssignale gaben.

Was genau passiert in einer solchen Situation?
Die Verkaufssignale werden nicht mehr am Aktienmarkt selbst umgesetzt, sondern auf dem Markt für Derivate - insbesondere für Terminkontrakte, sogenannte Futures. Die Händler schließen Wetten darauf ab, dass die Kurse weiter fallen. Sie benötigen nur einen Bruchteil des Kapitals, das sie aufwenden müssten, um mit den Aktien selbst zu handeln. Viele Hedgefonds arbeiten so. Der Abwärtstrend verstärkt sich.

Das Risiko ist extrem hoch.
Wenn alles gut geht, kann man enorme Gewinne machen. Das Schlimme ist, dass solche Spekulationen dazu beitragen, das Aktienvermögen von Millionen Menschen zu entwerten - Ersparnisse oder Pensionsansprüche. Die Politiker sehen ohnmächtig zu. Sie möchten das Spekulieren auf fallende Kurse verhindern. Aber sie wählen das falsche Mittel, wenn sie versuchen, Leerverkäufe am Aktienmarkt zu verbieten. Das spielt praktisch kaum eine Rolle. Entscheidend ist der Derivatemarkt.

Warum wird dieser Markt nicht reguliert?
Anders als am Aktienmarkt kann man Wetten auf fallende Kurse hier nicht separat verbieten. Ähnlich wie im Kasino benötigt man immer Gegenwetten. An der Börse ist die Summe der Wetteinsätze auf steigende Kurse immer gleich der Summe der Wetteinsätze auf fallende Kurse.

Sollte man dann nicht beide Seiten des Spiels verbieten?
Das könnte für bestimmte Derivate sinnvoll sein, hat aber keine Chance auf Realisierung. Ich schlage deshalb eine Finanztransaktionssteuer vor. Bestimmte Produkte, wie Derivate, würden mit einer Steuer von beispielsweise 0,01 Prozent belegt - nicht auf das eingesetzte Kapital, sondern auf den höheren Kontraktwert. Wer 100 Euro auf die Kursentwicklung eines Wertpapiers für 1000 Euro wettet, der muss Steuern auf die 1000 Euro zahlen.

Was wäre der Effekt?
Der kurzfristige Handel mit großen Hebeln würde unattraktiv. Bis zu 90 Prozent der ganz schnellen Transaktionen werden unrentabel. Das würde die Märkte stabilisieren. In Extremsituationen, etwa bei stark fallenden Kursen, könnte man den Steuersatz vorübergehend erhöhen - vielleicht auf 0,1 Prozent.

Aus Ihrer Sicht war die Welt bis in die 70er oder 80er Jahre in Ordnung. Dann ging etwas schief.
Damals ging eine lange Periode des Realkapitalismus zu Ende. In den 1950er und 1960er Jahren wurden in Europa die Gütermärkte liberalisiert, aber die Finanzmärkte nicht. Unter diesen Bedingungen blühte die Realwirtschaft. Davon profitierte besonders die deutsche Wirtschaft, die sich schon lange auf die Produktion von Industriewaren höchster Qualität spezialisiert hatte.

Das wahre Geheimnis des Wirtschaftswunders?
Wer in den 1960er Jahren ein Vermögen erbte und dies vermehren wollte, der konnte es nur in der Realwirtschaft. Das Profitstreben wurde systematisch in die Produktion gelenkt - so wie es heute nur noch in China geschieht. Der Sozialstaat wurde massiv ausgebaut, trotzdem sank die Staatsverschuldung relativ zum Sozialprodukt. Der Finanzkapitalismus hat die Wirtschaft dann vollkommen umgekrempelt. Die Deutsche Bank, früher ein Diener der Realwirtschaft, wurde in den 1990er Jahren zum Spekulationsunternehmen, und das Umsatzvolumen an der Derivatebörse EUREX erreichte zuletzt mehr als das 50-Fache des deutschen Bruttoinlandsprodukts.

Aber die Konzerne haben doch weiter Güter produziert.
Auch sie sind immer stärker in Finanzaktiva und weniger in Realaktiva gegangen. Das ist ein systemischer Grund für Arbeitslosigkeit, der völlig ausgeblendet wird. Ein Beispiel: Siemens ist ein Unternehmen mit vielen Geschäftsbereichen, die ihre Renditen einzeln ausweisen müssen. Und wenn die Gebäudetechnik immer schlechter abschneidet als die Treasury, die Finanzvermehrungsabteilung, dann werden Investitionen umgeschichtet.

Warum haben Länder wie Deutschland den realwirtschaftlichen Pfad überhaupt verlassen, wenn er so erfolgreich war?
Durch die Vollbeschäftigung und den Erfolg der Gewerkschaften in den 1960er Jahren hat sich gesellschaftliche Macht schleichend verlagert. Die Gewerkschaften gingen in die Offensive, und es haben sich Gegenkräfte formiert. Der wirtschaftsliberale Theoretiker Milton Friedman, der im Sozialstaat und in den Gewerkschaften seine Hauptgegner sah, wurde für die Vermögenden interessanter.

Das ist die politische Seite. Und die ökonomische?
Die Finanzierung des Vietnamkriegs durch Dollarexporte unterminierte die Glaubwürdigkeit der Weltwährung. Gleichzeitig verloren auch die USA das Interesse an einem stabilen, aber überbewerteten Dollar. Als dann die US-Wirtschaft - und nur sie - 1970 in eine Rezession fiel, sagten sich die USA von der Goldkonvertibilität ihrer Währung los. Die Folgen: Das System fester Wechselkurse von Bretton Woods wurde aufgegeben, der Dollar massiv abgewertet. 1973 kamen der Ölpreisschock und die erste globale Nachkriegsrezession. Nun brach sich der Finanzkapitalismus Bahn. Die Bildung der Wechselkurse wurde dem Spiel des Markts überlassen. Die monetaristische Geldpolitik hielt die Zinssätze lange Zeit über der realen Wachstumsrate, für ein durchschnittliches Unternehmen wuchs die Zinslast nun schneller als der Umsatz. In den 1980er Jahren kamen die Finanzinnovationen dazu.

Und die Europäer haben alles nachgemacht?
Ja, mit einer gewissen Zeitverzögerung. In den 1990er Jahren, als die USA den Monetarismus faktisch wieder aufgegeben hatten, haben die Europäer ihn erst richtig eingeführt. Ein Beispiel dafür sind die Maastricht-Kriterien.

Wo stehen wir heute?
Mit dem Finanzkapitalismus, wie wir ihn kennen, ist es vorbei. An eine rasche Stabilisierung glaube ich nicht, weil das Ausmaß der Entwertung aller wichtigen Vermögensklassen - Aktien, Immobilien und Rohstoffe - schon zu groß geworden ist. Es gibt eine Abfolge von realkapitalistischen Prosperitätsphasen und finanzkapitalistischen Krisenphasen - einen langen Zyklus. Jetzt kommt eine sehr schwierige Übergangszeit, die einige Jahre dauern wird. Denken Sie an die Jahre nach 1929. Damals haben die Extreme gewonnen, das Mittelfeld zerfiel. Das müssen wir verhindern.

Kann die Politik heute besser reagieren als damals?
Ich glaube, die Politik hat gelernt. Es gibt so etwas wie ein Langzeitgedächtnis. Vieles auf dem G-20-Gipfel war Blabla, aber die Aufstockung der Mittel für den Weltwährungsfonds um 1000 Milliarden Dollar ist eine richtige, handfeste Maßnahme.

Kann Staatsgeld den Abschwung noch stoppen?
Wir haben es mit neuen Dimensionen zu tun. Ich glaube aber, dass die USA, der Auslöser der Krise, sie auch überwinden werden. Obama hat das Ausmaß der Krise zum Glück erkannt. Er orientiert sich stark an Roosevelt. Andere Länder werden stärker betroffen sein - allerdings aus eigenem Verschulden. Die Talfahrt der deutschen Wirtschaft ist abenteuerlich. Trotzdem halten die deutschen Ökonomen an ihrer Marktreligiosität fest.

Soll Deutschland weitere Konjunkturprogramme auflegen?
Wenn der Konsum zurückgeht, die Unternehmen ihre Investitionen reduzieren, auch das Ausland seine Nachfrage senkt und der Staat nicht einspringt, dann setzt sich der Schrumpfungsprozess fort. Wenn die Wirtschaft in Deutschland trotz Konjunkturpaketen zum Beispiel um vier Prozent schrumpft, dann müsste die Bundesregierung vier Prozent drauflegen.

Der Staat soll die Nachfragelücke komplett schließen?
Jetzt ist einfach nicht die Zeit zum Sparen. Das Sparparadoxon besagt, dass derjenige, der zum falschen Zeitpunkt spart, später erst recht ein Defizit erleidet, verursacht durch Arbeitslosigkeit und sinkende Steuereinnahmen.

Was, wenn der Motor der Wirtschaft nicht wieder anspringt?
Die OECD und andere glauben, dass es nicht so schlimm kommt. Nach ihrem Modell hält die Schockstarre bis 2010 an, und dann geht es langsam und mühsam wieder bergauf. Aber es gibt auch ein viel schlimmeres Szenario - das Abrutschen in eine Abwärtsspirale, wobei die Arbeitslosigkeit das zentrale Virus ist. Eine ökonomische Depression ist immer auch eine sozialpsychologische Depression. Die Entmutigung und die Hoffnungslosigkeit der Menschen macht alles noch schlimmer. Kurzarbeit für längere Zeit ist darum eine Riesenchance, weil sich die Arbeitslosigkeit so stabil halten lässt. Der Staat muss so viel dazugeben, dass Kurzarbeit für den Unternehmer ein bisschen billiger ist als die Entlassung.


ZUR PERSON

STEPHAN SCHULMEISTER, geboren 1947 in Wien, ist seit 1972 beim Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) tätig. Er geht davon aus, dass die Finanzmärkte kein Spiegel der Fundamentalgleichgewichte in der Realwirtschaft sind. Vielmehr produzieren sie dort Ungleichgewichte. Er ist kein bedingungsloser Verehrer von John Maynard Keynes, sympathisiert aber mit dem "elitären Menschenfreund", dessen General Theory seiner Ansicht nach nicht allgemeingültig ist: "Der Name war eher ein Marketing-Gag. Die Theorie trifft für eine bestimmte historische Situation zu." Eine generelle Theorie kann es Schulmeister zufolge für evolutionäre Systeme nicht geben. Mehr Informationen unter http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at/

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