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Der zweite Tag wurde mit einer Diskussion zur Zukunft der Sozialpartnerschaft eingeleitet Magazin Mitbestimmung

Von GUNTRAM DOELFS: Ideenfindung für eine gerechtere Zukunft

Ausgabe 12/2018

Stiftung Rund 300 Teilnehmer trafen sich beim WSI-Herbstforum in Berlin, um über die Rolle von Gewerkschaften und betrieblichen Interessensvertretungen in Zeiten verstärkter Unsicherheit zu diskutieren.

Von GUNTRAM DOELFS

Vor genau 100 Jahren legten Gewerkschaften und Arbeitgeber mit dem Stinnes-Legien-Abkommen die Grundlage für die Tarifautonomie. Über Jahrzehnte regelten die Sozialpartner auf dieser Basis kollektiv und erfolgreich die Arbeitsbeziehungen und prägten so auch die soziale Sicherung in Deutschland. Doch das erprobte Modell verliert seit Mitte der 90er-Jahre immer mehr an Bedeutung. Seitdem ist die Tarifbindung unter allen Beschäftigten um rund 20 Prozent gesunken, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zurückgegangen – und die Arbeitgeberverbände verlieren immer mehr Mitglieder. Globalisierung und Digitalisierung forcieren das Tempo der Erosion weiter. Für Gewerkschaften stellt sich daher immer drängender eine entscheidende Frage: Wie kann das System der kollektiven Arbeitsbeziehungen stabilisiert und erfolgreich „wiederbelebt“ werden?

Das diesjährige WSI-Herbstforum wollte deshalb Ende November Antworten darauf finden, wie die „Interessenvertretung der Zukunft“ aussehen könnte. Wie wichtig die gesellschaftliche Funktion einer guten Sozialpartnerschaft ist, stellte WSI-Direktorin Anke Hassel gleich zur Begrüßung vor den rund 300 Teilnehmern in der Berliner „Kalkscheune“ klar. Sie erinnerte daran, dass Länder mit einem funktionierenden kooperativen Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sozial gerechter und wirtschaftlich erfolgreicher seien, weil sie flexibel auf wirtschaftliche Veränderungen reagieren könnten. „In Form und Handlungsfähigkeit ist das sozialpartnerschaftliche System ein besonderes Modell“, betonte Hassel.

Zwischen Tariferosion und Polarisierung

Zum Einstieg analysierte Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel den laufenden Erosionsprozess der Sozialpartnerschaft. Es habe nicht nur einen Rückgang bei den Mitgliederzahlen gegeben, sondern auch eine erhebliche „Polarisierung an den Rändern“ der Tariflandschaft, diagnostizierte der frühere Leiter der Abteilung Sozialpolitik der IG Metall und spätere Sozialsekretär im brandenburgischen Arbeits- und Sozialministerium. Auch die stärkere Flexibilisierung in vielen Tarifverträgen halte „die Tariferosion nicht auf“. Längst könne man daher von drei Welten der Arbeitsbeziehungen reden – von einer weiterhin funktionierenden Sozialpartnerschaft mit Flächentarif und Mitbestimmung („1. Welt“) bis hin zu komplett tariflosen Bereichen („3. Welt“). Diese Welten habe es zwar schon immer gegeben, bislang sei aber die „1. Welt“ Referenzpunkt für die beiden anderen Welten gewesen. „Neu ist, dass nun von den Rändern die ‚3. Welt‘ in die ‚1. Welt‘ eindringt“, schilderte der Politologe. Valeria Polignano von der Uni Leuven (Belgien) erweiterte anschließend den Blick auf den europäischen Kontext. Sie hat untersucht, wie sich sozialpartnerschaftliche Modelle in Italien, Frankreich, Belgien und Dänemark entwickeln haben und zeigte, dass Belgien und Dänemark trotz erheblicher Probleme weiterhin auf eine Kontinuität der Sozialpartner setzen, während in Italien immer stärker der Staat interveniert.

In den anschließenden thematischen Panels wurde unter anderem die gewerkschaftliche Tarifpolitik im Dienstleistungssektor, gewerkschaftliche Machtressourcen auf europäischer Ebene, Herausforderungen für die betriebliche Mitbestimmung oder das sich verändernde Verhältnis von Gewerkschaft zu Parteien thematisiert. Schon lange vor dem rasanten Absturz der SPD hat in den Gewerkschaften ein Umdenken eingesetzt, um sich politisch breiter aufzustellen. Ein notwendiger Schritt, meint der Politologe Christian Neusser. Er untersucht seit Jahren die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Parteien und schilderte, wie stark die SPD Akzeptanz bei Gewerkschaftsmitgliedern verliert und bei vielen Beschäftigten längst als Mittelschichts- bzw. teilweise als Beamtenpartei wahrgenommen wird. Zudem sinkt laut Neusser bei allen Parteien im Bundestag kontinuierlich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder. Die Gewerkschaften seien deshalb gut beraten, parteipolitisch offen zu agieren und auf ein „dynamisches System pluralisierter Partnerschaften“ zu setzen.

Wachsende Distanz der Arbeitnehmer zur SPD

Dieter Sauer skizzierte eine andere alarmierende Entwicklung. Der Münchner Soziologe wollte wissen, wie empfänglich Beschäftigte in Betrieben für rechtspopulistische Aussagen sind und hat sie direkt zu ihren Einstellungen befragt. Das Ergebnis: Inzwischen habe ein Klimawandel in den Betrieben stattgefunden, es gebe eine „Entdiabolisierung“ rechter Positionen, so der Wissenschaftler. Dieser Wandel würden von Betriebsräten, aber auch in den Gewerkschaften noch immer „eher unterschätzt“, warnte Sauer. Nährboden für das Anwachsen des Rechtspopulismus in den Betrieben sei die Auflösung des Sicherheitsversprechens der Sozialpartnerschaft, etwa die Angst vor dem Jobverlust, permanente Reorganisation, steigender Leistungsdruck, fehlende Anerkennung und Prekarisierung. Die Folge sei eine wachsende Distanz zu den Parteien, besonders zur SPD. Selbst Betriebsräte würden inzwischen als „Teil des Etablishments“ attackiert.

Die Schwäche der Sozialpartnerschaft, besonders im Dienstleistungssektor, wird so auch zu einem gesellschaftlichen Problem. Dierk Hirschel, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik bei ver.di, forderte deshalb in der abschließenden Diskussion des ersten Tages, neben einer verstärkten Mitgliederwerbung auch politische Rückendeckung, etwa durch eine verstärkte Regulierung des Arbeitsmarktes. „Tarifautonomie und Regulierung sind keine Gegenseiten“, so Hirschel. Tanja Smolenski, Leiterin der Abteilung politische Grundsatzfragen bei der IG Metall, erinnerte zudem daran, dass die Gewerkschaften mit der Dekarbonisierung und der Digitalisierung der Wirtschaft zwei zentrale Herausforderungen im Blick behalten müssten.

Mehr staatliche Regulierung

Locker im Ton, aber hart in der Sache startete das Forum in den zweiten Tag. Für Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, erfordert soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter  neue Formen der Sozialpartnerschaft. Diese könne aber nur gelingen, wenn beide Seiten sich Augenhöhe begegnen würden. Der SPD-Politiker deutete an, dass der Staat die Tarifbindung durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) stärken und notfalls auch zu mehr Regulierung bereit sei. „Wenn in einer Branche die Beschäftigten 80 oder 85 Prozent nach Mindestlohn bezahlt werden würden, sollten wir als Staat reagieren.“

DGB-Chef Reiner Hoffmann betonte in seiner Keynote, dass Mitgliederstärke eine der zentralen Machtressourcen von Gewerkschaften sei. Hier gebe es großen Nachholbedarf, besonders an den Universitäten, wo die Gewerkschaften unter Studierenden kaum Mitglieder hätten. Hoffmann forderte aber auch ein Umdenken auf staatlicher Ebene. So müsse es Tariftreuevorgaben bei öffentliche Aufträgen geben und der Staat müsse eingreifen, „wenn immer mehr Arbeitgeber sich nicht mehr als Arbeitgeber sehen“, sagte der DGB-Chef und hatte dabei das Beispiel des US-Fahrdienst-Vermittlers uber im Blick. Außerdem müsse die Politik endlich die AVE reformieren. „AVEs sollten nicht mehr per Mehrheitsbeschluss angenommen müssen, sondern nur noch per Mehrheitsbeschluss abgelehnt werden können“, so Hoffmann.

Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), versuchte Positionen seines Verbandes charmant mit einer Prise Ironie zu verkaufen. Der BDA bekenne sich ausdrücklich zur Tarifeinheit, betonte Kampeter. Allerdings sei der klassische Tarifvertrag des 20. Jahrhunderts ein „Auslaufmodell“. Er präferierte angesichts der  wirtschaftlichen Veränderungen für „flexiblere Tariflösungen“ und schlug zudem erneut eine „Modularisierung“ vor, wonach Betriebsräte und Arbeitgeber in Form von Betriebsvereinbarungen entscheiden können sollten, welche Teile von Tarifvereinbarungen sie übernehmen wollen – und welche nicht. Das stieß auf erheblichen Widerspruch – sowohl im Publikum wie auf dem Podium. „Wir haben doch das Problem, dass Arbeitgeber Flexibilität nur dann akzeptieren, wenn sie ihrer Perspektive hilfreich ist – und nicht für die Arbeitnehmer“, kritisierte Reiner Hoffmann.

In den anschließenden Panels wurden dann ganz unterschiedliche Ansätze für eine Stärkung der Sozialpartnerschaft diskutiert – von außerbetrieblichen Beratungsstellen, sozialpolitischen Interessen der Gewerkschaften bis hin zur Frage, wie auch Kammern oder Innungen als Institutionen eine wichtige Rolle spielen könnten. Sepp Zuckerstädter von der Arbeiterkammer Wien zeigte, welch erheblichen Einfluss Arbeiterkammern auf die Tarifbindung haben können, die in Österreich derzeit bei 98 Prozent liegt. Für Ingo Schierenbeck, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen, wäre es endlich an der Zeit, dass die Gewerkschaften ihre traditionell kritische Haltung gegenüber den Kammern aufgeben und viel stärker mit diesen kooperieren sollten. „Zusammen sind wir stärker – quantitativ und qualitativ“, meinte Schierenbeck.

Gefühl der Solidarität stärken

Bei der abschließenden Diskussion wurde die Debatte auf die politökonomische Ebene verlagert. Lucio Baccaro vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung sieht die aktuellen Probleme der Gewerkschaften als ein Spiegelbild der aktuellen Phase des Kapitalismus, „wo ein lohnbasiertes durch immobilien- und exportorientierte Wachstumsmodelle ersetzt wurde“. Für ihn fällt deshalb dem Staat zunehmend eine immer stärkere Funktion in der Sicherung der Sozialpartnerschaft zu. „ Gewerkschaften können nur dann wachsen, wenn die regulatorischen Bedingungen günstig sind. Deshalb ist eine Neuregulierung des Arbeitsmarkts nötig – atypische Beschäftigung muss teurer werden für Unternehmen“, sagte Baccaro. Er appellierte aber auch von Gewerkschaften, mehr einzufordern. „Es gibt derzeit keine Balance der Macht. Deshalb ist auch nicht Zeit für moderate Töne.“

Virginia Doellgast von der Cornell University (Ithaca, USA) legte ihren Fokus hingegen vor allem auf die zunehmende Schwierigkeit der Gewerkschaften, unter den Arbeitnehmern ein Gefühl der Solidarität zu erzeugen. Gewerkschaften sollten das gezielt stärken „und viel mehr mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten“, forderte die Wissenschaftlerin. Zudem müssten Gewerkschaften viel enger kooperieren und gemeinsam Strategien entwickeln. „Sie brauchen eine gemeinsame Sprache – sowohl untereinander wie in der Kommunikation nach außen“, sagte Doellgast.

Aufmacherfoto: Stephan Pramme

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