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Magazin Mitbestimmung

Von CARMEN MOLITOR: Gabriele Bischoff: „Türöffner für ein soziales Europa“

Ausgabe 06/2018

Interview Gabriele Bischoff, Präsidentin der Arbeitnehmergruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, spricht über die „Säule sozialer Rechte“ der EU und die Chancen, durch mehr Demokratie und Mitbestimmung die Krise in der Europäischen Union zu überwinden.

Von CARMEN MOLITOR

Frau Bischoff, auf der Böckler-Konferenz für Aufsichtsräte in Berlin hat EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger am vergangenen Donnerstag die Lage der Europäischen Union als „lebensbedrohlich“ beschrieben. Teilen Sie diese Einschätzung?

Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union ist die Gefahr, dass Europa scheitern kann, sehr real. Die EU hat im Laufe ihrer Geschichte viele schwierige Situationen gehabt, aber noch nie so viele Zerfallserscheinungen gezeigt. Man kommt in zu vielen wichtigen Punkten nicht mehr zusammen.

Paradoxerweise scheint aber gerade die Krise eine Chance dafür zu bieten, dass soziale Themen endlich auf den oberen Plätzen der politischen Agenda in Straßburg und Brüssel landen. Kann die neue „Säule sozialer Rechte“, die ein sozialeres Europa und verbindliche Mindeststandards in dem Mitgliedsländern verspricht, eine Wende bedeuten und die EU den Menschen wieder näher bringen?

Die Frage ist, ob diese Verpflichtung ein leeres Versprechen bleibt, oder ob sie mit verbindlichen Rechtsvorschlägen und dringend nötigen Investitionen unterlegt wird. Ich sehe die Soziale Säule als Türöffner zu einem sozialen Europa. Diese Tür war sehr lange verrammelt. Es ging immer nur um Wettbewerbsfähigkeit. „Soziales können wir uns nicht leisten“, hieß es. Nachdem man es jahrelang vernachlässigt hat, fing in diesem Haus allmählich alles an, zu verfallen. Jetzt muss es darum gehen, es tatsächlich umzubauen. Wir haben mit der „Säule sozialer Rechte“ etwas Rückenwind dafür. Aber nur, wenn wir als Gewerkschaften, als progressive Kräfte, konkrete Vorschläge machen und Druck ausüben.

Nur „etwas“ Rückenwind? Was fehlt der Säule sozialer Rechte noch?

Sie ist im Prinzip eine Agenda für ein soziales Europa und nennt zwar viele Prinzipien für soziale Rechte, aber die kollektiven Rechte sind total unterbelichtet. Diese müssen wir stärken – und hier insbesondere die Demokratie am Arbeitsplatz, die Mitbestimmung. Eine Kernbotschaft ist, dass wir mehr Konvergenz, mehr Angleichung zwischen den Mitgliedsstaaten brauchen. Aber auf dem Wege des Fortschritts, der Angleichung nach oben. Außerdem geht es darum, dass wir für diese Angleichung bestimmte Mindestniveaus festschreiben – einheitliche Standards, die soziale Leitplanken und Haltelinien darstellen.

Das umstrittene Company Law Package propagiert das Gegenteil davon …

Ja. Es propagiert, dass man die Mitbestimmung, wo sie besteht, nur ein bisschen oder nur für eine Übergangszeit schützt. Aber es nimmt nicht den Geist der „Säule für ein soziales Europa“ auf, weil es nicht sagt: Wir brauchen hier mehr soziale Mindeststandards. Wir müssen vor der Wahl Druck machen, damit wir auch beim Company Law Package die notwendigen Änderungen erreichen, um die Demokratie am Arbeitsplatz in ganz Europa zu stärken. Es ist nötig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was mit diesem gesellschaftsrechtlichen Paket zur Disposition steht. Wenn wir das nämlich in dieser Legislaturperiode nicht schaffen, kann es zu einer großen Gefahr für die Mitbestimmung in Deutschland werden. Den Optimismus, dass die nächste Kommission viel progressiver im Sinne von Arbeitnehmerrechten werden wird, habe ich nicht.

Der Faktor Zeit spielt also für den Aufbau eines sozialeren Europas eine wichtige Rolle: Bis zur nächsten Europawahl im Mai 2019 mit ungewissem Ausgang muss man die Chancen, die sich für ein sozialeres Europa momentan auftun, genutzt haben. Mit welchen Initiativen beschäftigt sich die Kommission gerade?

Sie hat zum Beispiel Vorschläge für transparentere und fairere Arbeitsbedingungen vorgelegt, um bestimmte Formen prekärer Beschäftigung auszuschließen. Der Vorschlag wurde von vielen Regierungen abgeschwächt und es liegt nun am EU-Parlament, dafür zu sorgen, dass er verbessert wird. Ein weiterer Vorschlag der Kommission beschäftigt sich mit der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Außerdem steht die Idee einer europäischen Arbeitsagentur im Raum, um Fälle von Lohn- und Sozialdumping besser zu kontrollieren. Insgesamt wird es darum gehen, ob man an diese Vorschläge noch ein bisschen Fleisch drankriegt und durch überzeugende Maßnahmen zeigt, dass Europa es besser kann.

Gab es eine Initiative in der jüngsten Zeit, die Ihnen dafür Hoffnung macht?

Ja, ein Riesenschritt in Richtung eines europäischen Binnen- und Arbeitsmarkts mit fairen Regeln ist die neue Entsenderichtlinie, die das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort aufgegriffen und Spielräume für Tarifpolitik eröffnet hat. Das ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem sozialen Europa.

Welche Rolle sollten die Gewerkschaften jetzt übernehmen?

Viele Beschäftigte tragen Sorge, dass die deutsche Mitbestimmung an niedrigere Standards angeglichen oder durch europäisches Recht ausgehöhlt wird. Weil gerade die deutschen Gewerkschaften sich immer als eine europäische Kraft verstanden haben, ist es jetzt wichtig, dafür zu sorgen, dass die Leute keine Angst vor Europa haben müssen. Wir sollten mehr Druck machen, damit die EU vernünftige Regelungen schafft, um den Menschen die Sicherheit zu geben, dass ihre demokratischen Beteiligungsrechte eben auch in Zukunft Bestand haben. Demokratie am Arbeitsplatz ist ein wesentliches Element in demokratischen Gesellschaften. Deshalb gehört demokratisches und soziales Europa für mich auch zusammen. Die Mitbestimmung ist ein Kernelement, das beides zusammenfasst.

Sie klingen kämpferisch …

Die Lage ist ernst. Es geht jetzt wirklich um das „Parlament der letzten Chance“. Das Parlament muss dafür sorgen, Europa auf einen anderen Kurs zu bringen. Wenn es nicht schafft, eine Politik zu machen, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Europa verbessert, werden wir bei der nächsten Europawahl die Quittung dafür bekommen. Wir haben zurzeit ungefähr 30 Prozent nationalistische, antieuropäische, populistische Parteien im europäischen Parlament. Werden es nach der Wahl mehr als 50 Prozent, wird es keine progressiven Mehrheiten mehr geben, und es wird sich auch für Arbeitnehmer überhaupt nichts mehr bewegen. Das gilt es zu verhindern und deshalb kann man alles machen zu dieser nächsten Europawahl – aber nicht Business as usual. Wir müssen sicherstellen, dass die nationalistischen, antieuropäischen Kräfte nicht die Oberhand bekommen. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet das europäische Parlament als „Arena der Demokratie“ in neuer Konstellation dann dazu beitragen würde, dass Europa auseinanderbricht. Das darf nicht passieren.

ZUR PERSON

Gabriele Bischoff, Jahrgang 1961, ist Präsidentin der Arbeitnehmergruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in Brüssel und leitete bis 2014 die Fachabteilung Europapolitik im DGB-Bundesvorstand. Sie kandidiert für die SPD für die Wahlen zum EU-Parlament 2019.

Aufmacherfoto: Anna Weise

 

WEITERE INFORMATIONEN

Stärkerer Rückenwind für Europa nötig

Es ist höchste Zeit, die Stimme für ein soziales Europa stärker zu erheben – diese Einsicht prägte die Böckler-Konferenz für Aufsichtsräte am 28. und 29. Juni. 250 Teilnehmende aus Unternehmen und Gewerkschaften waren dafür nach Berlin gekommen. In Vorträgen, Podiumsdiskussionen und an praxisorientierten Themenständen diskutierten die Arbeitnehmervertreterinnen und Arbeitnehmervertreter die wichtige Rolle der Mitbestimmung für gute Unternehmensführung in Europa.

Zu der Frage „Wie machen wir Europa zukunftsfest?“ diskutierte dabei EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger mit dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann und EU-Parlamentarier Jo Leinen. Oettinger diagnostizierte „Lebensgefahr“ für die EU. Er appellierte an die Gewerkschafter und Aufsichtsräte, energisch proeuropäische Kräfte zu stärken, sich für europäische Werte einzusetzen – und sich vernehmlicher vor Ort in Brüssel in die europapolitischen Entscheidungen einzumischen und Ideen für Lösungen beizutragen.

Reiner Hoffmann mahnte, dass die EU dringend nötige Investitionen auf den Weg bringen müsse, um die sozialen Verhältnisse in Europa rasch zu verbessern. Er forderte eine „sehr viel klarere Sprache“, welche Vorteile für Deutschland durch die EU erwachsen. „Wirtschaftsdemokratie geht gut einher mit politischer Demokratie“, ergänzte Jo Leinen, Mitglied des Europäischen Parlamentes, den I.M.U.-Direktor Norbert Kluge als „kritischen Freund“ begrüßte. „Die Mitbestimmung ist das demokratische Gestaltungsprinzip der Sozialen Marktwirtschaft“, betonte Kluge. „Wer jetzt nichts für den Erhalt der Mitbestimmung in Europa tut, der wird diesen Vorteil verlieren.“

Artikel »Ein neuer Weg für Europa«

Norbert Kluge mit einem Kommentar zum Company Law Package 

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