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Magazin Mitbestimmung

Von FRANK BSIRSKE UND KLAUS BUSCH: Diese Soziale Säule trägt nicht

Ausgabe 08/2017

Debatte Was sind die sozialen Rechte wert, die die EU-Kommission aufgelegt hat? Vieles wird deklariert, nichts ist (rechts-)verbindlich. Damit könne die Legitimationskrise von EU und Euro nicht überwunden werden.

Von FRANK BSIRSKE UND KLAUS BUSCH

Die Europäische Integration stagniert seit Jahren. Um dies zu überwinden, leitete die Europäische Kommission einen Reflexionsprozess über die Zukunft von EU und Euro ein – Anlass war das 60-jährige Jubiläum der Römischen Verträge.

Die Kommission ist sich bewusst, dass seit der Großen Finanzkrise 2008/09 die Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten zugenommen haben, vor allem im sozialen Bereich. Insbesondere in Südeuropa ist die Arbeitslosigkeit sehr stark angestiegen, wurden die Reallöhne und die Leistungen in den sozialen Sicherungssystemen gekürzt. Auch Frankreich bewältigte in dieser Zeit seine sozioökonomischen Probleme nicht. Diese Entwicklungen haben die Skepsis gegenüber dem europäischen Integrationsprozess verstärkt und populistischen Kräften Auftrieb gegeben.

20 soziale Rechte, um sozialen Problemen zu begegnen

Um diesen sozialen Problemen zu begegnen, hat die Europäische Kommission im April diesen Jahres im Rahmen eines Weißbuchs eine Europäische Soziale Säule proklamiert und dafür Vorschläge gemacht: 20 soziale Rechte sollen durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission bekannt gemacht werden.

Dieses Konzept wurde seit einem Jahr in einem intensiven Konsultationsprozess mit den Mitgliedstaaten vorbereitet: EU-weit debattierten circa 2500 Bürgern in 60 Veranstaltungen, 16 500 Menschen beteiligten sich an einer Online-Befragung hierzu.

Der auf dieser Grundlage erarbeitete Vorschlag einer Europäischen Säule Sozialer Rechte (ESSR) hat für die Kommission die Bedeutung eines Flaggschiffs zur Vertiefung der sozialen Dimension der Integration: „Die Schaffung einer integrativeren und faireren Union ist eine zentrale Priorität dieser Europäischen Kommission.“

Will man den Vorschlag der EU-Kommission kritisch würdigen, muss man folgendes bedenken:

Kompetenzen liegen bei den Mitgliedsstaaten

Die Kommission macht sehr deutlich, dass die zentralen Zuständigkeiten zur Umsetzung der Säule sozialer Rechte nicht bei ihr, sondern bei den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern liegen: „Für Gebiete wie das Arbeitsrecht, Mindestlöhne, Bildung und Erziehung, Gesundheitsfürsorge sowie die Organisation der Sozialschutzsysteme sind in erster Linie oder sogar ausschließlich die Mitgliedstaaten und, in vielen Bereichen, die Sozialpartner zuständig. Sie tragen auf den Gebieten, die zur europäischen Säule sozialer Rechte gehören, auch die finanzielle Hauptlast.“

Methodik: Rein deklaratorische Rechte

Die Kommission setzt durch die Deklaration von sozialen Rechten den Weg fort, den die EU bereits in der rechtsverbindlichen Grundrechtscharta des Lissabon-Vertrages gewählt hat. Diese Rechte werden aber nur sehr allgemein formuliert. Dort, wo es um Leistungen geht (um Löhne, Mindestlöhne, Unterstützungen, Lebensstandard), ist stets von „angemessen“ die Rede. Was das sein soll, wird auch in den Begleitpapieren und den weiteren veröffentlichtem Arbeitsunterlagen der Kommission zur ESSR nicht erläutert (siehe hier).

Die Schwäche dieses Weges „rein deklaratorischer Rechte“ zur Vertiefung der sozialen Dimension der Integration ist in den letzten Jahren im Zuge der Eurokrise und der Austeritätspolitik schlagend deutlich geworden. Die im Abschnitt „Solidarität“ enthaltenen zahlreichen sozialen Grundrechte der Charta im Lissabon-Vertrag haben nicht verhindern können, dass vor allem in Südeuropa im Rahmen der Sparpolitiken die Tarifvertragssysteme unterhöhlt, die Reallöhne abgesenkt und die sozialen Schutzrechte – teilweise massiv – abgebaut wurden.

Es gibt keine sozialen Schwellenwerte

Wegen der unspezifischen Formulierung der europäischen sozialen Rechte kann die Kommission an keiner Stelle, bei keinem sozialen Recht benennen, welcher Mitgliedstaat, in welcher Weise dieses Recht verletzt. Sie definiert für die sozialen Rechte keine nationalen und/oder europäischen Schwellenwerte, die nicht über- oder unterschritten werden sollten.

Fehlende Instrumente

Die Kommission benennt auch keine Instrumente, weder nationale noch europäische, deren Einsatz ein Überschreiten oder Unterschreiten von sozialen Schwellenwerten verhindern könnte. Zwar hat die Kommission als Ergänzung zur ESSR jetzt auch eine Reihe von sozioökonomischen Indikatoren veröffentlicht, welche dazu dienen sollen, die Fortschritte bei der Realisierung der sozialen Rechte zu überprüfen (siehe hier). Sie hat aber für diese Indikatoren weder Schwellenwerte festgelegt noch Instrumente benannt, deren Einsatz die Einhaltung der Schwellenwerte sicherstellen könnte.

Diesen alternativen Weg einer Festlegung von Indikatoren und Instrumenten zur Vertiefung der sozialen Dimension der Integration hatte 2013 der damalige Sozialkommissar Lazlo Andor gewählt (siehe hier). Dieser bislang progressivste Vorschlag zur sozialen Dimension, der aus Kreisen der Kommission je die Öffentlichkeit erreicht hat, wurde von den europäischen Sozialministern jedoch zu einem unverbindlichen Katalog von Indikatoren kleingeredet, die im Rahmen des so genannten Europäischen Semesters Berücksichtigung finden sollten (zur Weiterentwicklung des Konzepts von Andor vergleiche den Artikel „A Concept For Deepening The Social Dimension Of The European Union„).

Da auch die Charta der Grundrechte im Lissabon-Vertrag nicht in der Lage die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum, vor allem in Südeuropa, zu verhindern, wird auch die Säule sozialer Rechte (ESSR) eine Fortführung dieser Politik im Euroraum nicht aufhalten können. Wie etwa die in Frankreich unter Macron geplanten Reformen des Arbeits- und Sozialrechts. Von daher ist eine Fortsetzung der neoliberalen Reformpolitiken wahrscheinlich.

Hohe Erwartungen können nur enttäuscht werden

Als Fazit halten wir fest: Die Kommission weckt mit ihrem Vorgehen, zu dem ein umfangreichen Konsultationsprozess genauso gehört wie eine feierliche Proklamation der sozialen Säule, sehr hohe Erwartungen. Diese können nur enttäuscht werden, weil die EU-Kommission weder die Kompetenz hat, ein bestimmtes Niveau an sozialen Rechten durchzusetzen, noch die Mitgliedstaaten auffordert, ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Noch verlangt sie von den Mitgliedstaaten die Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene, um mit Hilfe europäischer Instrumente in den Mitgliedstaaten ein bestimmtes Niveau von Leistungen zu erzwingen.

Angesichts dieser Voraussetzungen kann die Europäische Kommission mit ihrem Konzept einer Europäischen Sozialen Säule nur scheitern. Die Legitimationskrise von EU und Euro wird damit nicht überwunden. Im Gegenteil: Durch die Enttäuschung der geweckten hohen Erwartungen und durch die Fortsetzung der neoliberalen Arbeits- und Sozialpolitik werden die EU- und Euroskepsis neue Nahrung erhalten.

Aufmacherfoto: picture alliance/APA/picturedesk.com

 

WELCHE SOZIALEN RECHTE WERDEN PROKLAMIERT?

Die Säule enthält 20 soziale Rechte, die in drei Hauptkapitel gegliedert sind: „Chancenzugang und Arbeitsmarktzugang“, „Faire Arbeitsbedingungen“ sowie „Sozialschutz und soziale Inklusion“.

Relevante soziale Rechte aus den drei Hauptkapiteln sind (in Auszügen):

4. Aktive Unterstützung für Beschäftigung

a. Jede Person hat das Recht auf frühzeitige und bedarfsgerechte Unterstützung zur Verbesserung der Beschäftigungs- oder Selbstständigkeitsaussichten. Dazu gehört das Recht auf Unterstützung bei der Arbeitssuche, bei Fortbildung und Umschulung. Jede Person hat das Recht, Ansprüche auf sozialen Schutz und Fortbildung bei beruflichen Übergängen zu übertragen.

b. Junge Menschen haben das Recht auf eine Weiterbildungsmaßnahme, einen Ausbildungsplatz, einen Praktikumsplatz oder ein qualitativ hochwertiges Beschäftigungsangebot (mit gutem Ansehen) innerhalb von vier Monaten, nachdem sie arbeitslos geworden sind oder ihre Ausbildung abgeschlossen haben.

c. Arbeitslose haben das Recht auf individuelle, fortlaufende und konsequente Unterstützung. Langzeitarbeitslose haben spätestens nach 18-monatiger Arbeitslosigkeit das Recht auf eine umfassende individuelle Bestandsaufnahme.

6. Löhne und Gehälter

a. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf eine gerechte Entlohnung, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.

b. Es werden angemessene Mindestlöhne gewährleistet, die vor dem Hintergrund der nationalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien gerecht werden; dabei werden der Zugang zu Beschäftigung und die Motivation, sich Arbeit zu suchen, gewahrt. Armut trotz Erwerbstätigkeit ist zu verhindern.

c. Alle Löhne und Gehälter werden gemäß den nationalen Verfahren und unter Wahrung der Tarifautonomie auf transparente und verlässliche Weise festgelegt.

12. Sozialschutz

Unabhängig von Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unter vergleichbaren Bedingungen Selbstständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz.

13. Leistungen bei Arbeitslosigkeit

Arbeitslose haben das Recht auf angemessene Unterstützung öffentlicher Arbeitsverwaltungen bei der (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und auf angemessene Leistungen von angemessener Dauer entsprechend ihren Beiträgen und den nationalen Bestimmungen zur Anspruchsberechtigung. Diese Leistungen sollen die Empfänger nicht davon abhalten, schnell wieder in Beschäftigung zurückzukehren.

14. Mindesteinkommen

Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, sollten Mindesteinkommensleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden.

15. Alterseinkünfte und Ruhegehälter

a. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Selbstständige im Ruhestand haben das Recht auf ein Ruhegehalt, das ihren Beiträgen entspricht und ein angemessenes Einkommen sicherstellt. Frauen und Männer sind gleichberechtigt beim Erwerb von Ruhegehaltsansprüchen.

b. Jeder Mensch im Alter hat das Recht auf Mittel, die ein würdevolles Leben sicherstellen.

16. Gesundheitsversorgung

Jede Person hat das Recht auf rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung (siehe hier).

 

WEITERE INFORMATIONEN

Zu den Autoren

Frank Bsirske ist ver.di-Vorsitzender, Klaus Busch ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück, profunder Kenner der Europapolitik und Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung.

Literatur

Frank Bsirske / Klaus Busch (2013): A Concept for Deepening the Social Dimension of the EU, in: Social Europe Journal, 14.8.2103

Europäische Kommission (2017a): Weißbuch zur Zukunft Europas – Die EU 27 im Jahre 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel

Europäische Kommission (2017b): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Einführung einer Säule sozialer Rechte, Brüssel

Europäische Kommission (2017c): Vorschlag für eine interinstitutionelle Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte, Brüssel

Europäische Kommission (2017 d): Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen – Sozialpolitisches Scoreboard, Brüssel

Non-Paper (2013): The social dimension of a genuine Economic and Monetary Union, Brussels

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