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Magazin Mitbestimmung

: Eine merkwürdige Stille

Ausgabe 05/2005

Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit sind in der Debatte um die Mitbestimmung Fragen der Beschäftigungssicherung und der Erpressbarkeit von Betriebsräten in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Doch die Demokratie im Betrieb ist kein Ersatz für Wirtschaftspolitik.

Von Gerhard Leminsky
Dr. Leminsky war von 1980 bis 1993 Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung. Er beschäftigt sich seit den 60er Jahren wissenschaftlich und praktisch mit der Mitbestimmung

In Fragen der Mitbestimmung lässt sich seit einiger Zeit ein seltsamer Kontrast zwischen konkreter Bewährung und öffentlicher Wahrnehmung beobachten. Diejenigen Unternehmen und Branchen, in denen Mitbestimmung und Tarifautonomie am besten entwickelt sind, also vor allem die großen Konzerne der deutschen Wirtschaft, haben eine hervorragende Stellung auf dem Weltmarkt, sie haben in den 90er Jahren enorme strukturelle Änderungen bewältigt - und das alles unter aktiver Beteiligung von Betriebsräten, von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten der Kapitalgesellschaften und von Arbeitsdirektoren in den Vorständen, übrigens auch im Rahmen beweglicher gewordener Flächentarifverträge.

Nicht nur die wirtschaftlichen Aktivitäten der Unternehmen haben sich europaweit und global in neuen Horizonten entwickelt, auch die Interessenvertretung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften musste diesen Veränderungen folgen. Die Betriebsräte haben entsprechend den neuen Managementstrategien ebenfalls netzwerkartige Strukturen entwickelt, in deren Zentrum meist Gesamtbetriebsräte stehen.

Zuletzt ist die Frage nach Beschäftigung und Beschäftigungssicherung immer mehr in den Mittelpunkt der Arbeit gerückt. Die letzten Tarifkonflikte, etwa in der Automobilbranche, haben große öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. An ihrem Schluss standen oft schmerzhafte Kompromisse, die vor allem die Beschäftigten treffen. Die Akzeptanz der Betriebsräte bei den Arbeitnehmern hat darunter nicht gelitten, weil diese wissen, dass ihre Vertretungen aus der Kenntnis der betrieblichen Lage, aus ihrer Einbindung in die Unternehmensmitbestimmung sowie durch die Beteiligung der Gewerkschaften und die Hinzuziehung von Experten aus der gegebenen Situation das Beste zu machen versuchen.

Umgekehrt weiß das Management, dass ohne die letztendliche Zustimmung von Gewerkschaften und Betriebsräten jede Umstrukturierung bei den Arbeitnehmern auf Ablehnung und Widerstand stößt, was sich wiederum auch in Kosten und Erträgen niederschlägt und die Reputation des Unternehmens beschädigt.

Die Mitbestimmung setzt dezentral in den Unternehmen und Betrieben an, sie löst Probleme dort, wo sie entstehen - durch von allen Beschäftigten gewählte Interessenvertretungen. Diese haben durch den Rückhalt des Gesetzes, durch die demokratische Wahl und die institutionelle Stabilität ein hohes Maß an Legitimation gegenüber den Arbeitgebern und können die Sicherung von Bürgerrechten im Betrieb mit der Berücksichtigung betrieblicher Erfordernisse wirksam verknüpfen. Nun könnte man denken, dass diese hier nur in Stichworten wiedergegebenen Sachverhalte bei den politischen Parteien, bei den Verbänden der Arbeitgeber und der Wirtschaft zu einer stabilen Anerkennung und Wertschätzung dieser Mitbestimmung geführt hätten - doch dem ist nicht so.

Tatsächlich steht die Mitbestimmung vor ihrer größten Bewährungsprobe seit Jahrzehnten, sie sieht sich massiver Kritik ausgesetzt. Je weiter einzelne Personen und Gruppen von der Wirklichkeit in den Unternehmen entfernt sind, desto stärker wird ihre Sichtweise von ideologischen Vorbehalten geprägt, und umso lauter fällt ihre Kritik an der Mitbestimmung aus. Manager und Führungskräfte mit praktischen Erfahrungen sprechen sich demgegenüber mit großen Mehrheiten für die Betriebsverfassung und oft auch für die Mitbestimmung im Unternehmen aus.

Kritik kommt erstens aus Teilen der Wissenschaft. Viele neoklassisch arbeitenden Ökonomen sind der Meinung, dass nur Privateigentum, Markt und Wettbewerb über eine freie Preisbildung eine optimale wirtschaftliche Entwicklung herbeiführen können. Der Sozialstaat, die Gewerkschaften ebenso wie die Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen stellen dabei nur "Störfaktoren" dar. Angebot und Nachfrage regeln alle Probleme über den Markt, und wenn die Löhne nur genügend niedrig sind, dann wird sich auch die Vollbeschäftigung einstellen. In ihren Augen ist das die beste Sozialpolitik. Mit Demokratie und Bürgerrechten braucht man sich dabei nicht zu beschäftigen - es geht um die Kombination von "Produktionsfaktoren".

Gleichzeitig soll damit die größtmögliche Freiheit für alle erreicht werden. Als zu Beginn der 50er Jahre die Mitbestimmung in der Montanindustrie eingeführt wurde, wurde die Lähmung der gesamten Wirtschaft prognostiziert - mit ungeheurem theoretischem Scharfsinn, aber doch von der Wirklichkeit längst widerlegt. Die Vertreter des Modelldenkens hindert das nicht, ihre Thesen immer wieder vorzubringen, wenn auch in einem modernisierten Vokabular. Unterstützt werden sie von konservativen Arbeitsrechtlern, Wirtschaftsjuristen und einigen Verbandsradikalen.

Eine zweite und völlig andere Denkrichtung berührt zwar nicht direkt die Mitbestimmung, hat jedoch Konsequenzen für die Einschätzung ihrer Bedeutung. Im Gegensatz zu den angebotsorientierten Neoklassikern wollen die nachfrageorientierten Keynesianer durch Konjunkturprogramme und Kaufkraftsteigerung die Nachfrage so ankurbeln, dass dadurch mehr Wachstum und Beschäftigung ausgelöst werden. Die Folge wäre nach diesem Theorieansatz, dass Betriebsräte und Gewerkschaften eher aus ihrer Position der Schwäche gegenüber den Arbeitgebern herauskämen und nicht länger unbefriedigende Beschäftigungspakte aushandeln müssten.

Das klingt für manche Ohren in den Gewerkschaften, bei Teilen der politischen Parteien und bei einigen gesellschaftlichen Gruppen sehr positiv, auch wenn es kaum mit dem EU-Stabilitätspakt vereinbar sein dürfte. Es kann an dieser Stelle nicht um eine Würdigung dieser Diskussion gehen - man muss aber doch vor einigen Missverständnissen warnen.

Die Mitbestimmung setzt bei einzelnen Betrieben und Unternehmen an - sie ist auf die Möglichkeiten und Grenzen der Konfliktregelung und Konsensfindung in diesen Bereichen bezogen. Konjunkturprogramme, gesamtwirtschaftlich und makroökonomisch ausgerichtet, so hilfreich sie im Einzelnen sein können, würden sich auf Wachstum und Beschäftigung einzelner Betriebe und Unternehmen durchaus unterschiedlich auswirken.

Probleme, die durch Missmanagement entstehen, auf falsche Produktlinien oder Versäumnisse in der Arbeitsorganisation - jeder Betriebsrat oder Gewerkschaftssekretär kann mit solchen Beispielen aufwarten - lassen sich nicht mit Konjunkturprogrammen lösen. Nach wie vor muss der mühsame Interessenausgleich mit dem Management einzelwirtschaftlich herbeigeführt werden. Betriebsverfassung und Mitbestimmung (und die Tarifautonomie) können sehr wohl die Rahmenbedingungen erfolgreichen Wirtschaftens mitgestalten, aber sie haben zuerst und vor allem Bedeutung für die Art und Weise, wie sich Arbeitnehmer unter menschenwürdigen Bedingungen, bei persönlicher Entfaltung und in sozialer Gerechtigkeit im Arbeitsleben entwickeln können.

Die augenblickliche Fixierung auf Makroökonomie und Beschäftigung verdeckt, dass sowohl die Betriebsräte wie auch die anderen Ebenen der Mitbestimmung ein viel breiteres Spektrum von existenziellen Interessen vertreten und mitgestalten, als derzeit wahrgenommen wird.

Das Betriebsverfassungsgesetz unterscheidet nach personellen, wirtschaftlichen, sozialen und arbeitsorganisatorischen Teilrechten, die Breite der Aufgaben wird aber noch anschaulicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die betriebliche Gesundheitspolitik für die Lebenslage der Beschäftigten eine zunehmende Bedeutung gewinnt, dass Arbeitsorganisation und Qualifizierung die Zukunftschancen der Beschäftigten bestimmen, dass betriebliche Regelungen zur sozialen Absicherung im Alter auf die Tagesordnung gehören, dass die Unternehmen nicht aus ihrer Verantwortung für die berufliche Erstausbildung entlassen werden dürfen, dass die Verhinderung von Willkür im Arbeitsleben nach wie vor das Gegengewicht funktionsfähiger Betriebsräte bedarf.

Die Reihe ließe sich verlängern; sie zeigt, warum die Beschäftigten immer wieder ihre Betriebsräte mit großen Mehrheiten wählen.

Es ist bedauerlich, eigentlich nicht zu entschuldigen, dass die Gewerkschaften, diese gesellschafts- und betriebs- und unternehmenspolitischen Dimensionen der Mitbestimmung nicht wahrnehmbar in das öffentliche Bewusstsein bringen. Mitbestimmung lebt nicht durch Anzeigenkampagnen, sondern durch konkrete Aktivierung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter selbst.

Ebenso sollten die Gewerkschaften sich gegen die von konservativen Arbeitgebern nicht selten gemachte Unterscheidung zur Wehr setzen, dass die betriebliche Mitbestimmung positiv, die unternehmensbezogene Mitbestimmung hingegen negativ zu beurteilen sei. Gerade das Thema Beschäftigungssicherung, das derzeit andere Aspekte der Mitbestimmung zu überdecken droht, zeigt ja, dass man bei den meisten Managemententscheidungen die Betriebsebene und die Unternehmensebene überhaupt nicht mehr trennen kann.

Dieser enge Zusammenhang wird durch die deutsche Besonderheit verdeckt, dass die Mitbestimmung im Betrieb und in den Aufsichtsräten der großen Unternehmen durch unterschiedliche Gesetze geregelt wird, was selbst bei den Gewerkschaften bei legalistischer Betrachtung den Blick auf diese Zusammenhänge eher erschwert als erleichtert.

Und die andere Seite? Die ideologische Kritik an der Mitbestimmung und die Machtspiele konservativer Arbeitgeber laufen nicht unbedingt auf eine komplette Abschaffung der Mitbestimmung hinaus. Die zentrale Stoßrichtung der Kritik zielt vielmehr darauf, die Gewerkschaften aus der Mitbestimmung herauszudrängen, übrigens in der richtigen Annahme, dass damit auch die gesellschaftspolitische Bedeutung der Mitbestimmung aus den Angeln gehoben werden kann.

Die Mitbestimmung bliebe formal erhalten, sie würde allerdings zu einem beliebig handhabbaren Instrument des Managements und der Arbeitgeber zur Förderung der Produktivität durch begrenzte Formen der Beteiligung und Motivation, wie sie schon jetzt von Unternehmensberatern und Human-Resource-Strategen vorgeschlagen und in mitbestimmungsfreien Betrieben praktiziert werden.

Dabei wird in Kauf genommen, dass sich das System der industriellen Beziehungen fundamental verändern würde: Ohne Flächentarifverträge, in denen wichtige Konfliktpunkte insbesondere bei Lohn und Arbeitszeit vorab geklärt werden, könnten sich die Vertreter der Arbeitnehmer nicht auf die überwiegend kooperative Lösung von Problemen in Unternehmen und Betrieb konzentrieren, könnten die Gewerkschaften von der Beschäftigung mit betrieblichen Detailfragen entlastet werden, wie das etwa im angelsächsischen System der industriellen Beziehungen weit verbreitet ist.

Sowohl die Tarifpolitik wie die Mitbestimmung öffnen sich in Deutschland zudem zunehmend für flexible und differenzierte Lösungen entsprechend der Vielfalt betrieblicher Realitäten. Man muss diese zusammenfassende Bedeutung der Gewerkschaften, ihre Schlüsselfunktion für die Vermittlung von Solidarität, von Kompetenz und von Qualifikation, ihre Vermittlerrolle zwischen sozialstaatlichen Ansätzen und betrieblichen Möglichkeiten, ihre Balancierung von Konflikt und Kooperation erkennen, um zu wissen, um was es hier geht.

Aber die Gewerkschaften sind in den letzten Jahren, was ihre konkrete konzeptionelle und praktische Arbeit angeht, merkwürdig still geworden. Dafür mag es Gründe geben. Sie sind nach langwierigen Fusionen sehr stark mit sich selbst beschäftigt, als demokratische und bürokratische Großorganisationen bewegen sie sich traditionell nur sehr langsam. In den betriebspolitischen und tarifpolitischen Auseinandersetzungen haben ihre Vertreter oft das Gefühl, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, und es hat auch vereinzeltes Fehlverhalten von Gewerkschaftsvertretern in Mitbestimmungsfunktionen gegeben.

Doch die Gewerkschaften müssen wieder Schwungkraft entwickeln. Sie müssen einiges von der Lernfähigkeit der Mitbestimmung in ihre eigene Politik aufnehmen und die guten Beispiele aus den Betrieben und Unternehmen in die öffentliche Diskussion bringen. Vielleicht ließen sich dadurch auch mehr jüngere Menschen als bisher zur Mitarbeit bewegen. Die Zeit drängt. Wie sagte doch Michael Gorbatschow? Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

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