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Magazin Mitbestimmung

: Eine Landkarte für Innovationen

Ausgabe 11/2005

Der Pharmastandort Deutschland verfügt über ein hohes Potenzial an qualifizierten Arbeitsplätzen und Wachstumschancen. Ein Ergebnis der aktuellen Studie "Stärkung des Pharma-Innovationsstandortes Deutschland".


Von Michaela Namuth Dr. Namuth arbeitet als freie Journalistin in Rom.  

Die Pharmaindustrie hat in Deutschland ein mieses Image. Die Medien berichten gerne über die überhöhten Gewinnspannen der Branche, den Einfluss der Pharma-Lobby auf die Politik und anrüchige Kaffeefahrten für die Ärztezunft. Auch in Gewerkschaftskreisen haben Kolleginnen und Kollegen, die aus einer "Pharma-Bude" kommen, keinen leichten Stand. "Auf den Gewerkschaftskongressen gibt es immer zwei Branchen, die geprügelt werden: Mineralöl und Pharma", ärgert sich Axel Baumann, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats der Boehringer Ingelheim KG.

Angesichts dieser Erfahrung findet er es beruhigend, dass er jetzt eine Studie in der Hand hält, die erstmals alle Vor- und Nachteile der deutschen Pharmaindustrie auflistet und mit der er sich einer Debatte stellen kann, die weniger "emotional aufgeladen" ist. Schließlich geht es um eine Branche, die heute und in Zukunft über ein hohes Potenzial an qualifizierten Arbeitsplätzen verfügt. Derzeit arbeiten in der Pharmaindustrie rund 120000 Personen. Beschäftigung, Forschung und internationaler Wettbewerb sind denn auch zentrale Aspekte der Studie "Stärkung des Pharma-Innovationsstandortes Deutschland" - siehe Kasten auf Seite 26.   

Von der Spitze verdrängt 

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Schwächung der deutschen Pharmabranche seit den 90er Jahren. Noch in den 80ern waren Unternehmen wie Hoechst und Bayer unter den internationalen Top Ten. Hoechst, das zunächst im deutsch-französischen Konzern Aventis aufging, wurde inzwischen von Sanofi-Synthelabo geschluckt, Bayer ist auf Platz 19 gerutscht. Im Jahr 2002 war der US-Konzern Pfizer mit einem Umsatz von 29,5 Milliarden Dollar Marktführer.

Boehringer Ingelheim, das größte deutsche Unternehmen, rangierte mit einem Umsatz von 5,5 Milliarden Dollar auf dem 18. Platz. Warum haben sich die deutschen Konzerne abhängen lassen? Dieser Frage geht die Studie im Rahmen eines Systemvergleichs nach. Sie untersucht die Innovationshemmnisse, die das Wachstum gebremst haben. Das Ergebnis ist eine Empfehlungsliste an die Akteure aus Politik und Industrie, die inzwischen auch in den Bericht der Task-Force Pharma-Kommission des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung aufgenommen wurde.

Die Studie versteht sich als "Innovationslandkarte" des Pharma- und Gesundheitssektors in Deutschland. Für Eckehard Linnemann, Leiter der Abteilung Sozialpolitik der IG BCE, spricht sie zudem einen entscheidenden Aspekt an. "Die Untersuchung thematisiert auch die Fehler der Pharmaindustrie und gibt nicht nur der Politik Schuld an dem gehemmten Wachstum der Branche, wie das sonst der Fall ist", so Linnemann.

Seiner Meinung nach hat der Beschäftigungsaspekt entscheidende Bedeutung: "Ziel der Studie war es, zu zeigen, dass hoch qualifizierte Arbeitsplätze an Unis und in Unternehmen erhalten und gefördert werden müssen. Sonst könnte es in Zukunft zu einem Personalmangel kommen." Dieser Aspekt ist eng mit dem Problem der Forschungsförderung verknüpft: Wenn die Wissenschaftler das Land verlassen, dann folgen ihnen auch die Produktion und die Arbeitsplätze. 

Dieses Problem sieht auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA). Die Arbeitgeber tragen die Ergebnisse der Studie "in vollem Umfang" mit, erklärt Siegfried Throm, Geschäftsführer der Abteilung Forschung, Entwicklung und Innovation. Aus der Sicht des VFA gehört die Empfehlung zur Verzahnung der unterschiedlichen Politikbereiche zu den wichtigsten Ergebnissen. Für Throm, der auch dem wissenschaftlichen Beirat der Studie angehörte, sind neben den Forschungs- auch die Vermarktungsbedingungen ein zentrales Thema: "Der Standortwettbewerb wird immer intensiver, da zu den bisherigen Wettbewerbern wie USA, Großbritannien und Irland neue Länder wie China, Indien, Singapur und die neuen EU-Länder hinzukommen."   

Erfolgsfaktor Forschungsinvestitionen 

Viele Erkenntnisse der Studie decken sich mit den Erfahrungen in den Betrieben. Die Praxis bestätigt, dass Unternehmen, die überdurchschnittlich in die Forschung investieren, erfolgreicher sind als andere Firmen. Ein Beispiel hierfür ist Boehringer Ingelheim, mit 8,16 Milliarden Euro Umsatz (2004) und weltweit über 35 000 Mitarbeitern heute das größte deutsche Pharmaunternehmen. Der Konzern gibt derzeit 1,5 Milliarden Euro im Jahr für Forschung aus. Zudem investiert die Besitzerfamilie aus ihrem eigenen Kapital in die Zusammenarbeit mit innovativen Unternehmen der Biotechnologie-Branche.

Durch die Familienstruktur des Konzerns ergeben sich spezifische Bedingungen, von denen Wirtschaftlichkeit und Beschäftigung gleichermaßen profitieren: Zum einen stehen die Manager nicht wie in Aktiengesellschaften unter dem dauernden Druck, die Umsatzrendite hochtreiben zu müssen, sondern können langfristig planen. Zum anderen wirken sich gute Arbeitsbedingungen (z. B. Kinderkrippe) und die Kooperation mit dem Betriebsrat auf die Arbeitsproduktivität aus.

Für den KBR-Vorsitzenden Axel Baumann hat sich diese Form des "nachhaltigen Wirtschaftens" bewährt. "Durch die langfristige Sichtweise werden nicht nur die Arbeitsplätze sicherer, sondern auch die Produkte glaubwürdiger." Schließlich, so findet der Belegschaftsvertreter, sollte der Hinweis "made in Germany" auch eine Qualitätsgarantie für Medikamente und eine Abgrenzung von Billigherstellern sein.

Diese Meinung teilt Brigitte Bauhoff, Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats bei der Roche Diagnostics GmbH. Für die gelernte Apothekerin sind Qualität und Qualifizierung die zentralen Begriffe, wenn es um die Zukunft ihrer Belegschaft geht. "In der Produktion steigen die technologischen Anforderungen ständig. Nur wenn wir den Fokus auf Aus- und Weiterbildung legen, stärken wir den Standort und die Beschäftigung", so Bauhoff. Die Mitarbeiterzahl in den drei Niederlassungen der Roche Diagnostics ist in den vergangenen Jahren wieder kontinuierlich gestiegen. Mit 11 000 Mitarbeitern ist die Tochter des Schweizer Roche-Konzerns derzeit das beschäftigungsstärkste Unternehmen in Deutschland.   

Mehr als "das übliche Gejammer"  

Die Studie bestätigt, dass die deutsche Pharma-Industrie allen Unkenrufen zum Trotz immer noch durch eine hohe Leistungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Mit einer Nettowertschöpfung von 66300 Euro pro Beschäftigtem lag sie 1999 an der Spitze des verarbeitenden Gewerbes. Dennoch gehören regelmäßige Spartenverkäufe zum Alltag der Pharma-Unternehmen und Verhandlungen über sozialverträgliche Lösungen zum Tagesgeschäft der Betriebsräte. Diese sind meist hoch qualifiziert und interessiert an einer Auseinandersetzung, die auch langfristige Strategien aufzeigt. Arbeitnehmervertreterin Brigitte Bauhoff gehört zu dieser Gruppe. Die Fraunhofer Studie ist deshalb auch für sie eine willkommene Argumentationshilfe, die mehr bietet als "das übliche Gejammer über das Gesundheitssystem".   



Die "Apotheke der Welt" ist Geschichte 

Bis in die 90er Jahre galt Deutschland als "Apotheke der Welt". Viele deutsche Unternehmen standen im internationalen Konzern-Ranking ganz oben. Dies kam nicht von ungefähr. Die Geschichte reicht zurück ins 13. Jahrhundert. Im Jahr 1241 erließ der Stauferkaiser Friedrich II. eine neue Medizinalordnung: Zum ersten Mal wurde in der abendländischen Kultur eine Trennung der Berufe Arzt und Apotheker eingeführt. 

Die Folge des neuen Gesetzes war die Verbreitung des Handels mit Heilmitteln. Im 14. Jahrhundert wurden aus den fliegenden Arzneimittelhändlern sesshafte Apotheker. Ihr Name leitet sich ab aus dem lateinischen Wort "apotheca", das die Kräuterkammer der Klosterärzte bezeichnete. Im 17. und 18. Jahrhundert verbreitete sich die Arzneimittelliteratur.

Es entstanden immer mehr Forschungsstätten. Deutschland und vor allem die Hauptstadt Berlin wurden zu einem Zentrum der pharmazeutisch-chemischen Forschung in Europa. Im 19. Jahrhundert schließlich führte die Möglichkeit, Arzneimittel synthetisch herzustellen, zur Entstehung der pharmazeutischen Industrie. Einfache Apothekenlaboratorien wandelten sich zu Großbetrieben. Arzneimittel wurden in großen Mengen produziert - und damit für die Bevölkerung erschwinglich.

Diese Erfolgsgeschichte wurde durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Zum einen wanderten Heerscharen von Wissenschaftlern in die USA ab. Zum anderen begannen die US-amerikanische und britische Regierung, massiv in die pharmazeutische Forschung und Produktion zu investieren. Doch trotz dieser starken Konkurrenz hielten die deutschen Konzerne bis zu den 90er Jahren eine wichtige Position in der internationalen Pharmaindustrie. 1992 betrug ihr Weltmarktanteil sechs Prozent. Danach setzte die Globalisierung des Marktes ein, und zehn Jahre später war der Anteil auf vier Prozent gesunken. 

Zum Weiterlesen 
Weitere Informationen in: Wolf-Dieter Müller-Jahnke/Christoph Friedrich/ Ulrich Meyer: Arzneimittelgeschichte. Stuttgart, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2004  Ulrich Jürgens/Thomas Sablowski: Die Vielfalt sektoraler Innovationsprozesse - Pharmaindustrie, Telekommunikation, Autoindustrie. In: WSI-Mitteilungen, 3/2005  



Wie leistungskräftig ist der Standort? 

Die Forschergruppe vom Karlsruher Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) identifiziert in der Studie "Stärkung des Pharma-Innovationsstandortes Deutschland", die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung mit Unterstützung der IG Bergbau, Chemie, Energie erstellt wurde, Innovationshemmnisse in Teilbereichen und kommt zu folgenden Ergebnissen: 

Wissensbasis und Transfer: Die öffentliche Forschungsförderung muss die Pharma-Forschung besser mit praxisorientierten Bereichen wie der Medizin und der Biotechnologie verknüpfen. Die Universitäten müssen genügend Pharma-Wissenschaftler ausbilden. Staatliche Förderprogramme sollten so angelegt sein, dass sie Wissenschaft und Unternehmen schon bei der Entwicklung ihrer Forschungsprogramme einbeziehen. Dazu muss Bürokratie bei der Forschungsförderung abgebaut werden. 

Marktfähigkeit und Vernetzung von Akteuren: Die Pharmabranche ist durch einen hohen Anteil an kleinen und mittleren Pharma-Unternehmen gekennzeichnet: 1999 hatten 84 Prozent der Arzneimittelhersteller weniger als 500 Mitarbeiter. Vor allem sie zeigen Schwächen bei der Vernetzung mit der Forschung und anderen Unternehmen, beispielsweise aus der schnell wachsenden Biotechnologiebranche. Die Zuwachsrate der Forschung lag in der deutschen Industrie zwischen 1980 und 1997 bei sechs, in den USA bei zwölf Prozent.

Die Wachstumschancen auf den internationalen Märkten haben die deutschen Unternehmen nicht ausreichend genutzt. Mitte der 90er Jahre haben sie dieses Problem allerdings erkannt. Die Karlsruher Innovationsforscher stellen seit diesem Zeitraum stark zunehmende Aktivitäten bei Forschung und Entwicklung sowie in der Auslandsorientierung fest. Auch innovative Patentierungen werden stärker gefördert. Dieser Strategiewandel werde sich ab 2010 im Umsatz und dem Weltmarktanteil positiv auswirken. 

Marktattraktivität und Rahmenbedingungen: In Deutschland fehlt Risikokapital, das in der Frühphase, das heißt in Unternehmensgründungen und junge Biotechnologie-Unternehmen investiert wird. Auf der Ebene der verschiedenen Politikressorts mangelt es an Koordination auf Landes- und Bundesebene. Die Politik sollte auf eine nationale Pharmastrategie setzen, die alle Akteure aus Politik, Industrie und Forschung einbezieht. Das Gesundheitssystem könne insgesamt nur modernisiert werden, wenn Kostensenkung und Innovation nicht mehr als Gegensätze wahrgenommen werden. 

Zum Weiterlesen 
Sibylle Gaisser/Michael Nusser/Thomas Reiß: Stärkung des Pharma-Innovationsstandortes Deutschland. Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag 2005

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