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Magazin Mitbestimmung

Griechenland: Die Würde der Griechen

Ausgabe 09/2012

Viele Griechen haben das Gefühl, den Respekt anderer Europäer verloren zu haben, sagt FES-Büroleiter Christos Katsioulis. An seiner Seite besucht unser Autor in Athen Gewerkschafter, Journalisten und Arbeitnehmer. Von Stefan Scheytt

Der vorletzte Dienstag im Juli: In Athen fliegt wieder einmal die Troika ein, jene Delegation aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission, in der viele Griechen eine illegitime griechische Nebenregierung erkennen und die sie regelrecht hassen; doch es ist ruhig in Athen, keine Demonstrationen, keine Transparente, keine Megafone. Nur in der Fußgängerzone beim Syntagma-Platz vor dem Parlament, wo schon EU- und andere Flaggen brannten, erregen zwei Aktivisten mit Masken von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble Aufmerksamkeit: Sie laden Passanten ein, sie zu ohrfeigen.

Christos Katsioulis wehrt ab: „Das ist nicht meine Form der Auseinandersetzung“, sagt der deutsch-griechische Politikwissenschaftler und Historiker. Mitte Mai sind Christos und Nicole Katsioulis aus Berlin nach Athen gekommen, um das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wiederzueröffnen. 2005 war das Projekt ausgelaufen, schien die EU-Integration vollendet, nun hat angesichts der diffizilen deutsch-griechischen Beziehungen das Auswärtige Amt rasch reagiert und Geld für die Wiedereröffnung von Stiftungsbüros zur Verfügung gestellt, Friedrich-Ebert- und Konrad-Adenauer-Stiftung sind nun wieder in Athen präsent.

Das Ehepaar Katsioulis, beide Ende 30, soll Aufbauarbeit leisten in einem Land, in dem der Abbau von Arbeitnehmerrechten in vollem Gang ist. Während Nicole Katsioulis, die bei der FES das Forum Jugend und Politik leitete, internationale Dialoge vor allem für Jugendliche organisieren will (Thessaloniki wird 2014 Europas Jugendhauptstadt sein), möchte Christos Katsioulis den Austausch auf kommunaler Ebene anregen. „Wir versuchen, Starthilfe zu geben für Initiativen, die aus der Krise heraus eine sozialere, gerechtere und demokratischere Politik fördern“, sagt Katsioulis. „Unser Netzwerk in Deutschland und Europa kann den Griechen helfen, sich international zu artikulieren und Informationen zu bekommen, die sie sonst vielleicht nicht bekämen.“ So wirkte das FES-Büro bereits an einem Treffen zwischen Kommunalpolitikern und Fachleuten zum Thema erneuerbare Energien mit und bereitet ein Projekt im Städtchen Paramythia vor, in dem Deutsche während des Zweiten Weltkriegs Massaker verübten. Die Idee ist, dort, jenseits der „ritualisierten Gedenkkultur“, ein touristisches Austauschprojekt zwischen deutschen und griechischen Gemeinden zu entwickeln.

GEFÜHLTE PARIAS

Für Christos Katsioulis besteht kein Zweifel am großen Schuldanteil Griechenlands an der Misere durch Korruption, Klientelwirtschaft, notorische Steuerhinterziehung, Reformangst und die Neigung, andere für eigene Versäumnisse in Haftung zu nehmen. „Der griechische Staat muss besser werden“, sagt der bei Stuttgart aufgewachsene Sohn eines Griechen, der akzentfrei Griechisch spricht und in Griechenland studierte. Kritisch sieht Katsioulis auch die Rolle der Gewerkschaften, die sich im Kampf um Pfründe jahrelang allzu eng an die politischen Parteien banden. Doch ebenso beklagt er den dramatischen Verfall ihrer Verhandlungsmacht und befürchtet den „kompletten Abriss des Arbeitsrechts“ in einem Land, in dem entlassene Arbeitnehmer nur ein Jahr Arbeitslosenhilfe erhalten und danach ohne Sozialhilfe ins Bodenlose fallen.

Ihn verletze zu erleben, wie in der Auseinandersetzung um die richtige Politik das „zivilisatorische Band beschädigt wird, das uns in Europa verbindet“: „Viele Griechen haben das Gefühl, Parias zu sein, die den Respekt anderer Europäer verloren haben.“ Menschen, die in Mülleimern wühlen und vor Armenküchen Schlange stehen, Apotheker, die Medikamente nur noch gegen Vorkasse ausgeben, geschlossene Läden in einst belebten Einkaufsstraßen, eine wachsende Zahl von Drogenabhängigen und Selbstmördern – das mache ihn betroffen. „Ich habe Zeiten in Griechenland erlebt, als der Lebensstandard geringer war als jetzt. Aber es gab immer den Optimismus, dass es aufwärtsgeht. Jetzt haben die meisten die Aussicht, dass ihre Lage immer nur noch schlechter wird.“

Im Athener Restaurant Kentrikon sitzen zur Mittagszeit die Gewerkschafter Ioannis Poupkos und Panagiotis Syriopoulos; der eine ist Jugendsekretär beim Gewerkschaftsdachverband GSEE, der andere wissenschaftlicher Mitarbeiter am gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut INE. Panagiotis Syriopoulos zeigt mit ausladender Geste in den Raum, in dem nur an fünf von 15 Tischen Gäste sitzen: „Vor ein paar Jahren war es hier um diese Zeit brechend voll, ein Dutzend Kellner wirbelte herum. Dies ist eines der bekanntesten Restaurants Athens, fünf Minuten entfernt vom Syntagma-Platz und vom Parlament. Man stelle sich das am Alexanderplatz in Berlin vor! Oder am Times Square in New York!“

Zum ersten Mal seit 1945 gebe es im Land mehr Arbeitslose als Beschäftigte in sozialversicherungspflichtigen Jobs, sagt Syriopoulos, die reale Arbeitslosenquote liege bei 25 Prozent, bei den unter 24-Jährigen sogar bei 50 Prozent – und das bei der am besten ausgebildeten Generation in der Geschichte des Landes. Die Folge ist der Braindrain: „Massenweise wandern junge Akademiker nach Australien, Schweden oder England aus. Die Besten gehen, obwohl wir doch gerade sie bräuchten, um mit neuen Ideen die Wirtschaft umzubauen“, sagt Syriopoulos. Und für die, die im Land bleiben, gibt es – wenn überhaupt – oft nur noch prekäre und extrem flexible Arbeitsverhältnisse. „Die Tarifbindung ist durch Gesetze massiv eingeschränkt oder teilweise ganz aufgehoben worden. Jetzt entscheiden die Arbeitgeber auf betrieblicher Ebene praktisch alleine, zu welchen Bedingungen Beschäftigte arbeiten“, erklärt Panagiotis Syriopoulos. „Der soziale Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist praktisch gekappt, und das in dem Land, in dem die Demokratie geboren wurde.“ Dass der Einfluss der Gewerkschaften unter diesen Bedingungen stark erodiert, liegt auf der Hand: „Wir haben in den vergangenen zwei Jahren 25 Generalstreiks ausgerufen. Dieses Instrument nutzt sich ab, es wird immer schwieriger, die Menschen zu mobilisieren“, sagt Ioannis Poupkos.

UNFAIR UND UNEFFEKTIV

Was die Gewerkschafter vor allem aufbringt, ist die Fokussierung der Troika auf das Drücken von Löhnen und Gehältern. „Sogar die griechischen Unternehmerverbände haben öffentlich bekundet, dass die überbordende Bürokratie, die Korruption, die Steuerhinterziehung oder die schleppende Rechtsprechung viel größere Investitionshemmnisse sind“, schimpft Ioannis Poupkos. Dennoch würden Tarifvereinbarungen ausgehebelt und ohnehin schon niedrige Mindestlöhne und Renten weiter gekürzt. „Gleichzeitig steigen die Preise, werden existierende Steuern erhöht und neue Steuern eingeführt. Bei einer derart geschwächten Kaufkraft kann das Land unmöglich auf die Beine kommen, viele Zehntausend kleine und mittlere Unternehmen haben in den letzten Jahren dichtgemacht. Daran sieht man, dass die Politik nicht nur unfair ist, sondern auch ineffektiv.“ Für Zoe Lanara, Leiterin der internationalen Abteilung beim Gewerkschaftsbund GSEE, zeigt sich im „Anpassungsprogramm“ für Griechenland die „klassische Schocktherapie“ des Internationalen Währungsfonds (IWF), der seit den 1980er Jahren verschuldete Länder der Dritten Welt zu marktradikalen Reformen zwang und dazu, Institutionen des Sozialstaats abzubauen, was die soziale Spaltung enorm verschärft hat.

Da eine Währungsabwertung in einem Land der Eurozone technisch nicht möglich sei, werde Griechenland eine gnadenlose Politik der internen Abwertung bzw. Deflation aufgezwungen. „Diese tödliche Rezeptur konzentriert sich auf Entlassungen, das Einfrieren oder die Senkung von Löhnen, Pensionszahlungen und Staatsausgaben insgesamt sowie auf hohe Steuern, Privatisierungen und tief greifende Strukturreformen, die vor allem auf den Arbeitsmarkt abzielen.“ Zoe Lanara spricht von einer regelrechten „Entmachtung“ von Arbeitnehmern, Rentnern und Gewerkschaften, das Land werde als eine Art „Versuchslabor“ benutzt: „Griechische Arbeitnehmer werden dazu verurteilt, die Arbeiter anderer EU-Länder in Schrecken zu versetzen, damit eine europaweite Abwärtsspirale in Gang gesetzt werden kann, um das europäische Sozialmodell und die damit verbundenen Institutionen rückgängig zu machen.“

Nick Malkoutzis, stellvertretender Chefredakteur der Athener Zeitung Kathimerini, spürt die Abwärtsspirale in vielfacher Weise. Der englischsprachige Teil des Blattes, den er verantwortet, wurde seit 2010 halbiert, die Redaktion schrumpfte von 25 auf sieben Kollegen, Malkoutzis’ Gehalt um ein Viertel. Ja, sagt Malkoutzis, die Gewerkschaften hätten in der Vergangenheit auch Skandale produziert, ja, sie hätten ihre Macht auch missbraucht und Partikularinteressen durchgesetzt. „Aber so mächtig, wie manche meinen, waren sie nun auch nicht. Sonst hätte es zum Beispiel nicht die Privatisierungen und Teilprivatisierungen gegeben, die gegen ihren heftigen Widerstand schon vor der Krise durchgesetzt wurden.“ Jetzt würden die griechischen Gewerkschaften, die unter Mitglieder- und Einnahmeschwund leiden, stark an Einfluss verlieren, sie müssten ihre neue Rolle erst noch finden.

Nick Malkoutzis kann die Entwicklung in Griechenland trotz der Einkommenseinbußen noch relativ entspannt betrachten, nicht nur weil seine Frau bei einer Bank arbeitet; Malkoutzis hat griechische Eltern, er ist in England aufgewachsen und hat einen britischen Pass. Als er 2003 von dort nach Athen zog, im Jahr vor den Olympischen Spielen, „war das eine ganz andere Stimmung, es ging nach vorne, es war Aufbruch.“ Jetzt habe das Schiff heftig Schlagseite. Man dürfe in so einer Situation nicht von Bord gehen, sagt der Mittdreißiger in akzentfreiem Englisch. Er wolle bleiben, aber man solle nie nie sagen. Nick Malkoutzis weiß, dass er jederzeit nach England gehen kann.

ZURÜCK IN DIE BERGE?

Sofia Pappas, 60, könnte allenfalls nach Deutschland gehen, dort lebende Verwandte haben sie bereits eingeladen. Sofia Pappas sitzt in einem Café neben dem Hilton Hotel in Athen. Am gleichen Ort versuchte der Vater von FES-Büroleiter Christos Katsioulis noch zu Zeiten der Militärjunta Ende der 1960er Jahre, einen Betriebsrat zu gründen, bevor er dann nach Deutschland ging. Sofia Pappas ist angelernte Krankenschwester, seit Jahren arbeitet sie in einem Pool freiberuflicher Hilfskräfte an einem Militärhospital in Athen. Ihr monatliches Arbeitspensum schwankt, bis 2010 waren theoretisch bis zu 31 Tage möglich. Jetzt dürfen es höchstens zehn Tage im Monat sein, manchmal sind es noch weniger. Sie lebt jetzt von rund 300 Euro im Monat, überlegt bei jedem Telefonat und jedem Einkauf, ob sie wirklich nötig sind. „Wenn ich jünger wäre, würde ich vielleicht ins Ausland gehen. Ich hab mir was zur Seite gelegt, es wird schon irgendwie reichen, ich bin ein optimistischer Mensch und komme auch mit wenig Geld zurecht“, sagt Sofia Pappas. Im äußersten Fall könnte sie auch in ihr Bergdorf zurückkehren und dort unter einfachsten Bedingungen von Gemüse aus dem Garten leben. „Ich bin dort mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Ich erinnere mich, wie man mir als kleines Mädchen einen Spruch meines Vaters aus der Zeit vor dem Krieg erzählte: ‚Wir müssen rechtzeitig Öl und Salz rationieren, dann wird schon alles irgendwie gutgehen.‘“

Text: Stefan Scheyyt, Journalist bei Tübingen / Foto: Myrto Papadopoulos

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