zurück
Jamala: 1944 (2016) Cover Magazin Mitbestimmung

Politisches Lied: Die Vertreibung der Krimtataren

Ausgabe 02/2021

Mit einem Lied über die Vergangenheit der Krim zum Sieg beim Eurovision Song Contest.

When strangers are coming
They come to your house
They kill you all and say
We’re not guilty not guilty

In den frühen Morgenstunden des 18. Mai 1944 schwärmen 30 000 Sicherheitskräfte des sowjetischen Innenministeriums und des Ministeriums für Staatssicherheit auf der Krim aus und suchen die Häuser auf, in denen krimtatarische Familien wohnen. Sie reißen Frauen, Kinder und Alte aus dem Schlaf und geben ihnen eine Viertelstunde Zeit, sich vor den Häusern zu versammeln. 200 000 Krimtataren werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Wer sich weigert, wird gleich erschossen.

Stalin wirft den Krimtataren vor, sie würden mit den Nazis kollaborieren. Doch die meisten Männer im wehrfähigen Alter kämpfen in den Reihen der Roten Armee gegen Nazideutschland. Ihre Familien werden unterdessen in Viehwaggons eingepfercht und nach Zentralasien verschleppt, nach Usbekistan, Kirgisien und Sibirien. Fast die Hälfte von ihnen überlebt die Deportation nicht.

1983 kommt in der westkirgisischen Stadt Osch Susana Jamaladinowa zur Welt. Sie ist Urenkelin einer der Deportierten. Als Susana sechs Jahre alt ist und der frische Wind der Perestrojka durchs Land weht, verurteilt der Oberste Sowjet das Verbrechen an ihrem Volk und erlaubt die Rückkehr auf die Krim. In den 90er Jahren zieht auch Susanas Familie in die angestammte Heimat. Mit offenen Armen werden sie nicht empfangen. Viele Krimtataren müssen ohne Wasser und Strom leben. In ihre ehemaligen Siedlungen an der Südküste dürfen sie nicht zurück.

Im Jahr 2016 singt Susana Jamaladinowa unter dem Künstlernamen Jamala im Finale des Eurovision Song Contest über die Deportation ihrer Landsleute. 200 Millionen Menschen hören, wie sie zunächst auf Englisch von Fremden singt, die in Häuser einbrechen und die Bewohner ermorden. Im Refrain wechselt sie die Sprache: „Yaşlığıma toyalmadım/Men bu yerde yaşalmadım“. Es sind die ersten Zeilen, die bei einem ESC auf Krimtatarisch gesungen werden. Sie bedeuten: „Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen/Weil ihr mir mein Land wegnahmt“.

Die Statuten des Wettbewerbs lassen eigentlich keine Songs mit politischen Botschaften zu. Aber Jamala argumentiert, es gehe in dem Song um die Geschichte ihrer Familie, und jedes Wort sei wahr. Die Organisatoren sehen das auch so.

Dennoch hört am Abend des ESC-Finales niemand die Geschichte des Songs, ohne an die Annexion der Krim durch Russland zu denken, die erst zwei Jahre zurückliegt. Noch in der Woche vor dem ESC-Finale hatte sich die Lage zugespitzt: Die russische Polizei verhaftete den Mediziner und Politiker Ilmi Ume­row, den stellvertretenden Chef der Medsch­lis, der Vertretung der Krimtataren. Umerow ist erklärter Gegner der Krim-Annexion. Der russische Geheimdienst wirft ihm vor, er habe Aufrufe erlassen, die die territo­riale Integrität der Russischen Föderation gefährdeten. Amnesty International hingegen sieht in ihm einen gewaltfreien politischen Gefangenen.

Musikalisch ist der Song vielleicht nicht der größte Wurf. Doch die Geschichte berührt die Zuhörer, Jamala gewinnt den Wettbewerb knapp und dank der Stimmen der Jury. In der Wertung der Zuschauer liegt der russische Song hauchdünn vorn. Russland boykottiert daraufhin den nächsten ESC: Nach Kiev mag man keinen Teilnehmer schicken.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen