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Magazin Mitbestimmung

: Die Einigkeit hat Grenzen

Ausgabe 04/2012

BILDUNGSPOLITIK Der Ausbau des dritten Bildungswegs wird nicht nur von Gewerkschaften gefordert. Das Anliegen steht auch bei Wirtschaftsverbänden und in der Politik auf der Agenda. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass der Konsens bislang nur wenig belastbar ist. Von Joachim F. Tornau

Von JOACHIM F. TORNAU, Journalist in Kassel/Foto: Michael Hughes

Auf den ersten Blick scheinen sich alle einig. Ob Gewerkschaften, Arbeitgeber oder Politik – einhellig wird das Ziel ausgegeben, mehr Studierende ohne Abitur an die Hochschulen zu locken. Auch das jüngste Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), das die Bundesregierung Ende Februar überreicht bekam, verlangt nachdrücklich den Ausbau des sogenannten dritten Bildungswegs: Eine zukunftsweisende Bildungspolitik, so schreiben die „Forschungsweisen“, müsse auf eine „maximale Durchlässigkeit zwischen beruflichen und akademischen Bildungsgängen Wert legen“.

Kaum jemand, der das nicht unterschreiben würde. Bereits vor drei Jahren beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) die Öffnung der Universitäten und Fachhochschulen für Berufserfahrene ohne Abitur. Dass dieser Beschluss ein historischer Schritt war, auch darüber herrscht Einigkeit. Aber reicht er aus? Die Kultusministerkonferenz meint: Ja. „Weiter zu öffnen, als wir das getan haben, kann man guten Gewissens nicht mehr vertreten“, sagt Sprecher Andreas Schmitz. Und auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) sieht „derzeit keine Notwendigkeit, weitere Zugangserleichterungen zu schaffen“. Der Konsens in Sachen „Durchlässigkeit“ hat schon hier seine Grenze erreicht. Denn Gewerkschaften wie Wirtschaftsverbänden geht nicht weit genug, worauf sich die für Bildung und Forschung zuständigen Minister der Länder 2009 geeinigt haben.

DEN ARBEITSMARKT IM BLICK_ Von einem „föderalen Flickwerk unterschiedlichster Zugangshürden vor allem für Facharbeiter“ spricht die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock und befindet: „Von echter Gleichbehandlung zwischen akademischer und beruflicher Bildung kann keine Rede sein.“ Deshalb: Weg mit den Zugangsbarrieren. Und das verlangt fast genauso auch die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Zur Begründung bemühen die Arbeitgeber sogar ein Argument, das sonst eher in der gewerkschaftlichen Gedankenwelt zu Hause ist: „Zu oft entscheidet in Deutschland noch die soziale Herkunft über den Bildungserfolg junger Menschen.“ Bereits im Jahr 2015, fordert die BDA, müsse der Anteil der Studienanfänger ohne Abitur von derzeit knapp zwei auf fünf Prozent gestiegen sein. Und damit das klappt, möge sich der Anteil berufsbegleitender Studiengänge auf zehn Prozent verdoppeln. „Es gilt: Wer studierfähig ist, muss auch studieren können.“

Haben die Arbeitgeberverbände also ihre soziale Ader entdeckt? Wohl weniger. Was sie umtreibt – nicht anders als die „Forschungsweisen“ übrigens, ist vielmehr der Bedarf der Wirtschaft an qualifiziertem Personal – und das immer wieder an die Wand gemalte Problem eines drohenden Fachkräftemangels.

EINE FRAGE VON CHANCENGERECHTIGKEIT_ Den Gewerkschaften ist dieser volkswirtschaftliche Blick auf das Thema zu eng. „Bildung ist ein eigener Wert, ist ein öffentliches Gut und darf nicht zum rein ökonomischen Faktor werden“, sagt ver.di-Vorstandsmitglied Petra Gerstenkorn. „Neben Kompetenz- und Wissenserweiterung befördert Bildung soziale Werte und Normen sowie die individuelle Persönlichkeitsbildung.“ Und damit sei sie „unverzichtbare Grundlage“ für Berufschancen, Lebensperspektiven und demokratische Teilhabe. Berufserfahrenen Menschen den Weg an die Universitäten zu ebnen ist für ver.di darum eine Frage von Gerechtigkeit und Chancengleichheit: Weil derzeit ganz überwiegend Akademikerkinder ein Studium beginnen und berufliche und hochschulische Bildung strikt getrennt sind, zementiere das bestehende Bildungswesen soziale Ungleichheit.

„Das Bildungssystem ist von Status- und Standesinteressen geprägt“, meint auch Bernd Kaßebaum, beim Vorstand der IG Metall für Bildungs- und Qualifizierungspolitik zuständig. Nach dem Verständnis der Universitäten messe sich Studierfähigkeit an einem klassisch-humanistischen Bildungsbegriff – und nicht an erworbenen Kompetenzen. „Warum soll der Abschluss einer dreijährigen Ausbildung dafür nicht ausreichen?“ Zwar ist es mittlerweile möglich, im Beruf erworbene Fähigkeiten auf ein Studium anrechnen zu lassen. Doch in welchem Ausmaß das geschieht, wird fachgebunden und individuell von der jeweiligen Hochschule entschieden. „Diese Unübersichtlichkeit ist kontraproduktiv“, sagt Kaßebaum.

UNATTRAKTIVE RAHMENBEDINGUNGEN_ Wie die meisten seiner Gewerkschaftskollegen sieht er in erster Linie die Hochschulen in der Pflicht. Nicht nur mehr berufsbegleitende, flexible Studiengänge brauche es, sondern auch mehr „Brückenkurse“, die Menschen ohne Abitur auf ein Studium vorbereiten. Und: „Das Grundstudium muss komplett verändert werden – anwendungs- und praxisbezogen.“ Doch bislang tun sich die Universitäten angesichts steigender Abiturientenzahlen noch recht schwer damit, Angebote zu schaffen, die sie auch für beruflich qualifizierte Studierende attraktiv machen. „Da muss mehr Verpflichtung rein“, findet Kaßebaum. Etwa indem mit den Hochschulen verbindliche Zielvereinbarungen für den Anteil von Nicht-Abiturienten abgeschlossen werden. DGB-Vize Sehrbrock will zudem finanzielle Anreize für die chronisch unterfinanzierten Hochschulen: Sie plädiert für einen „Hochschulpakt Plus“, in dem die Schaffung von Studienplätzen für beruflich Qualifizierte besonders honoriert wird – „mit einem zusätzlichen Bonus von 50 Prozent pro Platz“.

Die Forderung nach Quoten trifft in der Politik allerdings auf breite Ablehnung. Sogar Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen – zwei Bundesländer, die ihre Hochschulen weiter geöffnet haben, als es der KMK-Beschluss vorsah – halten festgelegte Prozentsätze nicht für den richtigen Weg. „Wichtiger ist, die Akzeptanz der offenen Hochschule durch abgestimmte und überzeugende Bildungsangebote insgesamt zu erhöhen“, sagt ein Sprecher der niedersächsischen Wissenschaftsministerin Johanna Wanka (CDU). „Die Abholpunkte müssen stimmen, dann steigt auch die Nachfrage stärker an.“ Dafür soll unter anderem eine neue niedersächsische „Service- und Koordinierungsstelle“ sorgen, die derzeit in Abstimmung mit Hochschulen, Wirtschaft und Erwachsenenbildung auf den Weg gebracht wird. Und auch das SPD-geführte Innovationsministerium in Nordrhein-Westfalen setzt nach den Worten einer Sprecherin vor allem darauf, die Rahmenbedingungen zu verbessern: mehr Beratungsangebote, mehr Vorbereitungskurse, mehr Teilzeitstudiengänge.

Nach Ansicht von Stephanie Odenwald, Mitglied im GEW-Bundesvorstand, muss der allseits geforderte „Kulturwandel“ an den Hochschulen jedoch noch darüber hinausgehen. „Wer heute ohne Abitur an die Universität kommt, bekommt die subtile Botschaft vermittelt: Du gehörst hier nicht hin“, erklärt Odenwald. „Das hat mit Sprache zu tun, mit dem Verhalten der Dozenten, mit dem Stil der Lehre.“ Das elitäre Gehabe schrecke Berufstätige ohne akademischen Hintergrund häufig ab. „Da muss noch viel passieren.“ Auf der anderen Seite aber sieht das GEW-Vorstandsmitglied auch bei der dualen Ausbildung Handlungsbedarf: An Berufsschulen müsse mehr getan werden, was Auszubildenden später den Sprung an die Hochschule erleichtern könne – Fördern von Sprachkompetenz, Üben von Referaten, Heranführen an wissenschaftliches Arbeiten. „Ich habe selbst über 20 Jahre lang an einer Berufsschule gearbeitet und weiß, welche Schwächen es da gibt.“

Doch beim Bundesbildungsministerium winkt man ab: „Die Berufsbildung ist nicht anzutasten“, heißt es lapidar. Gleichwohl möchte auch Ministerin Schavan den Übergang vom Beruf ins Studium fördern – mit Anschubfinanzierungen für Projekte an Universitäten und Fachhochschulen, die die besonderen Bedürfnisse von erwerbstätigen Studienanfängern berücksichtigen. Ende 2011 wurden im Wettbewerb „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ in einem ersten Schritt 26 solcher Konzepte ausgezeichnet. Bis zum Jahr 2020 stehen insgesamt 250 Millionen Euro zur Verfügung.

UNGEKLÄRTE FINANZEN_ Auch die Fachhochschule Niederrhein in Krefeld und Mönchengladbach bekam Geld aus Berlin. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) nahm das zum Anlass, sich einzumischen: Sie regte einen berufsbegleitenden Bachelor-Studiengang an, der für zusätzliche Fachkräfte in der Ernährungswirtschaft sorgen soll. „Unsere Überlegungen stießen auf breite Zustimmung“, sagt der stellvertretende NGG-Vorsitzende Claus-Harald Güster. Mittlerweile habe die Hochschule erste Eckpunkte des neuen Studiengangs festgelegt. Parallel dazu überlegt die Gewerkschaft, wie Arbeitnehmer an die Idee herangeführt werden können, ein Studium aufzunehmen. Und sie will ein Förderprogramm entwickeln, um die beruflich qualifizierten Studierenden zu unterstützen. Mit im Boot ist der nordrhein-westfälische Arbeitgeberverband der Ernährungsindustrie. Das Modellprojekt soll der erste Schritt für den Aufbau eines „bundesweiten Kooperationsnetzwerks“ sein. „Das dürfte eigentlich kein ideologisches, sondern ein sozialpartnerschaftliches Thema sein“, meint Güster. Dabei gehe es perspektivisch auch darum, welchen Beitrag die Unternehmen leisten können, um ihren Beschäftigten ein Studium zu ermöglichen – etwa über eine Flexibilisierung der Arbeitszeit oder die Beteiligung an den Kosten. Auch IG-Metall-Sekretär Kaßebaum hält die Studienfinanzierung für ein ungelöstes Problem, sucht die Lösung aber beim Staat. Gut 3000 sogenannte Aufstiegsstipendien hat der Bund seit 2008 an beruflich qualifizierte Studierende vergeben. Zu wenige seien das, kritisiert der Bildungsexperte, und auch die Höhe reiche bei Weitem nicht aus: „Die Ansprüche von Berufserfahrenen sind höher.“ Monatlich 750 Euro gibt es für ein Vollzeitstudium, plus „Betreuungspauschalen“ für kleine Kinder. Wer berufsbegleitend studiert, bekommt sogar nur 2000 Euro im Jahr – und kann auch kaum auf BAföG-Leistungen hoffen. Zwar wird das sogenannte Meister-BAföG eltern­unabhängig bewilligt, doch dafür wird das Arbeitseinkommen voll angerechnet. „Das“, sagt Kaßebaum, „ist im Moment extrem abschreckend.“

mehr Informationen

Das ver.di-Positionspapier zur Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung kann abgerufen werden unter: https://bildungspolitik.verdi.de/veranstaltungen/durchlaessigkeit

Die IG Metall informiert über Kurse, die Berufserfahrene auf ein Studium vorbereiten, unter: www.uni-ohne-abi.de

Unter www.igbce.de/portal/site/igbce/studieren_ohne_abitur hat die IG BCE Informationen über Hochschulen zusammengestellt, die sich um Berufstätige besonders bemühen.

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