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Anais Mitchell: Why We Build the Wall (2006) Magazin Mitbestimmung

Politisches Lied: Der Teufelskreis der Mauer

Ausgabe 06/2021

Eine freundlichverhuschte Folksängerin aus Vermont hat den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike für die Gegenwart adaptiert: im Paradies heißt es schuften und für immer an einer Mauer bauen. Von Martin Kaluza

Anaïs Mitchell: Why We Build the Wall (2006)

Why do we build the wall
My children, my children?
Why do we build the wall?
Why do we build the wall?
We build the wall to keep us free
That‘s why we build the wall
We build the wall to keep us free

Im Herbst 2016 feiert ein ungewöhnliches Musical seine Premiere in New York. Anaïs Mitchell, eine freundlich-verhuschte Folksängerin aus Vermont, hat den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike für die Gegenwart adaptiert, jenes Sängers und Dichters, der nach dem Tod seiner Ehefrau in die Unterwelt hinabsteigt und versucht, sie aus dem Totenreich zu befreien.

Rund 2000 Jahre später ist die Welt von Umweltzerstörung und Dürren geplagt. Eurydike liebt den idealistischen Orpheus, der arm ist wie sie, weil das Land so wenig hergibt. Hades, der König der Unterwelt, verspricht ihr das Paradies, wenn sie ihm folgt, und sie erliegt der Versuchung und verlässt Orpheus.

Dann erfährt Eurydike, worin ihr Schicksal besteht: Sie ist als billige Arbeitskraft eingeplant. Von dem angeblichen Wohlstand im Paradies bekommt sie nicht viel ab.

Anaïs Mitchell führte ihre Folk-Oper „Hades­town“ zum ersten Mal 2006 im Stadttheater von Barre auf, einer Kleinstadt mit 9000 Einwohnern zwischen Boston und Mont­real. Da war sie frisch mit dem Studium fertig. Im Jahr 2010 veröffentlichte sie ein Konzeptalbum mit den Songs, auf dem prominente Freunde wie Justin Vernon von der Band Bon Iver und Ani di Franco mitsingen. Mit der Dramaturgin Rachel Chavkin schrieb sie die neue Bühnenfassung, die 2016 am Off-Broadway aufgeführt wurde.

Vor allem bei einem Song bleibt den Zuschauern der Premiere der Atem stehen: „Why We Build the Wall“. Wie in einem Gospel schwört Hades seine Untergebenen auf den Bau einer Mauer ein. Geradezu hypnotisch singen sie sich im Frage-und-Antwort-Stil in einen Teufelskreis: Warum bauen wir die Mauer? Wir bauen die Mauer, um den Feind fernzuhalten. Der Feind ist Armut. Die Armen wollen Arbeit. Wir haben Arbeit, solange wir an der Mauer bauen. Die Mauer wird niemals fertig werden. „Ich musste meine Jacke etwas enger ziehen, um die Gänsehaut loszuwerden“, schreibt Charles Isherwood, Kritiker der New York Times.

Der Song wirkt wie ein direkter Kommentar zu Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf, der gerade die USA aufwühlt: Trump will eine „wunderschöne Mauer“ entlang der mexikanischen Grenze bauen, die illegale Einwanderung verhindern und Arbeitsplätze schaffen soll. Es ist, als hätte Mitchell das geahnt. Ihr Song ist zu dieser Zeit bereits zehn Jahre alt.

Als der britische Protestsänger Billy Bragg den Song ebenfalls 2016 in Chicago spielt, erinnert er das Publikum daran, dass zur gleichen Zeit die französische Polizei den „Dschungel von Calais“ räumt, eine von Migranten errichtete Zeltsiedlung am Eingang des Eurotunnels. Und die EU, zu der das Vereinigte Königreich damals noch gehört, gewährt der Türkei Milliardenhilfen dafür, dass sie Menschen etwa aus Syrien davon abhält, in die EU einzureisen.

Mit der Off-Broadway-Premiere ist die Geschichte noch nicht zu Ende. 2019 wird „Hadestown“ am großen Broadway gespielt und gewinnt den Tony Award für das beste Musical und die beste Musik. 

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