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Magazin Mitbestimmung

Von ANNETTE JENSEN: Büroarbeit am Fliessband

Ausgabe 03/2018

Rezension Die Digitalisierung verändert jetzt auch die Büroarbeit. Gemeint sind weniger technische Neuerungen, sondern „agile“ Formen der Organisation und Zusammenarbeit, die mit einem Verlust an Autonomie einhergehen.

Von ANNETTE JENSEN

Die Effekte der Digitalisierung sind bisher als Veränderungen in der Industrie und im Handel beschrieben worden. Inzwischen rückt Büroarbeit stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit.  Die Hans-Böckler-Stiftung hat zu diesem Zweck von 2013 bis 2016 ein Projekt am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München mit dem Titel „Lean im Büro – Neue Industrialisierungskonzepte für die Kopfarbeit und ihre Folgen für Arbeit und Beschäftigte“ gefördert.

In ihrem Buch beschreiben die Wissenschaftler Veränderungen in sechs Unternehmen aus verschiedenen Branchen. Deutlich wird, dass es sich bei den durch Digitalisierung erzeugten Neuerungen nicht in erster Linie um technische Innovationen, sondern um veränderte soziale und organisatorische Praktiken handelt.  Dies gilt auch für die „Lean production“ – eine Form der Arbeitsorganisation, die stark mit Standardisierungen arbeitet. So ähnlich wie der Taylorismus die Herstellung eines Werkstücks in kleine, wiederholbare Schritte zerlegt, wird hier der Verwaltungsprozess zergliedert und detailliert dokumentiert.

Die Geschwindigkeit und die Arbeitsqualität der Beschäftigten sind transparent und messbar. Ticketsysteme schieben permanent abzuarbeitende Tätigkeiten nach und bestimmen den Takt am digitalen Fließband. Die Verwaltung wird zum Teil des Produktionsprozesses. Freiräume verschwinden, Stress nimmt zu. Das ist neu – galt doch Kopfarbeit bis vor wenigen Jahren als intransparente Black Box. Vor allem die Arbeit in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen erschien als kreativer Prozess, der von den Ideen der Ingenieure abhängt und sich einer exakten Planung und einem direkten Zugriff entzieht.

Doch die Zeiten, in denen jeder an der ihm zugeteilten Aufgabe tüftelte, sind vorbei. „Agile“ Methoden zielen darauf ab, Transparenz und eine intensive Vernetzung herzustellen und so die Kollektivintelligenz zu fördern. Bei Scrums – Stehversammlungen am Morgen – sollen alle Abteilungsmitglieder über den Stand ihrer Arbeit berichten. Gemeinsam beschließen sie die Aufgabenverteilung; Liefertermine für Zwischenziele verbinden sie mit anderen Teams. So verlieren auch Hochqualifizierte ihre Autonomie.

Ob die Beteiligten das alles als Entwertung und Gängelung oder als Entlastung und Bereicherung erleben, hängt von den Rahmenbedingungen ab. In einem der untersuchten Unternehmen konnte der Betriebsrat dafür sorgen, dass keine Angst vor Entlassungen aufkam: Alle Beschäftigten, deren Stellen wegrationalisiert wurden, erhielten eine Umqualifizierung.

Transparenz kann Kontrolle und massiven Gruppendruck bedeuten, aber auch gemeinsames Lernen und Teamgeist. In welche Richtung das Pendel ausschlägt, hängt wesentlich davon ab, ob eine Gruppe die Möglichkeit hat, die Arbeitsmenge eigenverantwortlich zu steuern und damit auch für gute Bedingungen und Sinnorientierung zu sorgen. Geht es hingegen eindimensional um höhere Geschwindigkeit und die Verbesserung der Output-Qualität, ist stiller Boykott wahrscheinlich.

Das Buch ist verständlich geschrieben, an manchen Stellen redundant, aber auf jeden Fall erhellend und lesenswert.

Foto: Karsten Schöne

Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr: „Lean“ und „agil“ im Büro. Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Transcript Verlag 2018, 226 Seiten 24,99 Euro (Print) oder kostenlos als pdf-Download auf der Verlagsseite

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