zurück
Magazin Mitbestimmung

Gute Arbeit: Arbeit begrenzen

Ausgabe 12/2012

Gegen Leistungsdruck hilft keine Rückenschule, Arbeitszeit und -belastung bleiben die entscheidenden Verschleiß-Faktoren. Dagegen hilft am besten eine entspannte Freizeitgestaltung, die gerade nicht dem Gedanken der Effizienz und Optimierung folgt. Von Katja Schmidt

Es klang nach einem Stück Rückeroberung des freien Feierabends, was kurz vor Weihnachten 2011 über die Nachrichtenticker lief: Bei Volkswagen hatte der Betriebsrat eine Sendepause für den Blackberry-Server durchgesetzt. Einen Stopp für Firmen-E-Mails weit nach Arbeitsende. „Stille Nacht für VW-Mitarbeiter“, titelte eine Zeitung. Tatsächlich gilt die Regelung nur für einen Bruchteil der Beschäftigten des Autobauers. Doch sie hat ein wichtiges Signal für alle gesetzt, ist Thomas Frye, Betriebsrat im VW-Werk Kassel sicher. „Das Signal lautet: Wenn es um Arbeitszeiten und psychische Belastung geht, ist niemand Freiwild – auch Führungskräfte nicht!“

Im Kasseler Werk geht die Mitarbeitervertretung die Themen Entgrenzung, Leistungsdruck und Hetze gerade systematisch an und erweitert seine klassische Gesundheitspolitik. „Bei ergonomischen Belastungen sind wir bei VW – dank der starken Mitbestimmung – bereits weiter als andere Unternehmen“, sagt Frye, IG-Metall-Sprecher in der sechsköpfigen Betriebsrats-Geschäftsführung. Zugenommen hätten aber die Leistungsverdichtung und der Druck durch die Ökonomisierung der Prozesse. Dass das Kasseler Werk bestens dasteht, die Stammbelegschaft in der Fertigung gewachsen ist und der Standort im konzerninternen Wettbewerb den Zuschlag für zukunftsträchtige Produkte bekommen hat, steht dazu nicht im Widerspruch, macht der Betriebsrat klar: „Es geht immer um Kennzahlen, immer um die Frage: Bekommen wir das Produkt, oder bekommen es andere?“ Im engagierten Dauereinsatz für den Standort gehe mancher Mitarbeiter mittlerweile über das Maß des Gesunden hinaus, vermutet Frye.

BESSER: DIE GUTE, ALTE ERHOLUNG

Der Arbeit Grenzen zu setzen bleibt die zentrale Voraussetzung dafür, dass ein Job nicht krank macht. Das untermauern Untersuchungsergebnisse, die die Kasseler Soziologen Kerstin Jürgens und Mathias Heiden Ende Oktober bei der Tagung „Erhalt von Arbeits- und Lebenskraft“ vorgestellt haben, die Jürgens in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung organisiert hat. Weitere Befunde: Zentral für Gesundheitsförderung im Betrieb ist es, die Mitarbeiter an der Gestaltung ihrer Arbeitsabläufe zu beteiligen. Wer hingegen versuche, mit falsch verstandenem Gesundheitsmanagement noch bis in die Erholungsgewohnheiten der Beschäftigten hinein zu regulieren, bürdet ihnen nur weitere Belastungen auf.

„Spezielle Sportkurse im Betrieb, Gesundheitstage oder Seminare zur Stressbewältigung helfen den Beschäftigten nur sehr bedingt“, erklärt Jürgens. „Die Menschen schöpfen Kraft vor allem aus bewährten Erholungsweisen, über die sie gar nicht weiter nachdenken.“ Für die Beschäftigten, die sie gemeinsam mit ihrem Team interviewt hat, seien scheinbar banale Dinge besonders stabilisierend gewesen: das Werkeln in Haus und Garten und damit die Freude über den sichtbaren Erfolg ihres Tuns etwa oder das Gemeinschaftserlebnis in der Familie und mit Freunden. „Wichtig ist, dass Arbeitgeber den Beschäftigten Raum für diesen Ausgleich geben“, sagt Soziologin Jürgens. „Vor allem sind da zunächst die Arbeitsbedingungen und -anforderungen zu überprüfen.“

Dem Versuch, Arbeitnehmer über spezielle Gesundheitsangebote im Betrieb bei Kräften zu halten, erteilen Jürgens und ihr Team nicht generell eine Absage. Sie betrachten ihn aber sehr kritisch. „Solange es sich um Angebote handelt, die man freiwillig annehmen kann, ist es unproblematisch“, sagt die Professorin. „Kritisch wird es, wenn hier eine Aktivierung betrieben wird gemäß dem Motto: Sei sportlich und ernähre dich gesund, sonst bist du selbst schuld, wenn du krank wirst.“ Damit gerate aus dem Blick, dass viele Belastungen ihre Ursache in betrieblicher Arbeitsorganisation haben. Auch den Beschäftigten rät sie, nicht aus Angst vor Burn-out aktionistisch gegenzusteuern, denn dadurch gehe das verloren, was den Beschäftigten eigentlich hilft, Belastungen zu verarbeiten: eine entspannte Freizeitgestaltung, die nicht dem Gedanken der Effizienz und Optimierung folgt.

Zugleich warnt Jürgens davor, die Ursachen für Überlastung und Überforderung allein im Job zu suchen: „Nicht nur in der Arbeitswelt wird Menschen immer mehr abverlangt“, betonte sie. Der Abbau sozialstaatlicher Sicherung löse Sorgen und Ängste aus. Auch Veränderungen in familiären Beziehungen könnten stark belastend sein. Gerade wo mehrere solcher ehemals sicheren Stützpfeiler wegfallen, sei es kein Wunder, wenn Menschen steigendem Druck im Erwerbsleben nicht mehr standhalten können.

Wie weit verbreitet psychische Belastung durch Leistungsintensivierung, Hetze und entgrenzte Arbeit mittlerweile sind, legt eine repräsentative Umfrage nahe, die der DGB in Auftrag gegeben hat. Jeder zweite deutsche Arbeitnehmer, so das Ergebnis des „Index Gute Arbeit“ von 2011, fühlt sich im Beruf sehr häufig oder oft gehetzt. Die Hälfte dieser Gehetzten muss auch zu Hause an Schwierigkeiten bei der Arbeit denken. Doch selbst in der Gesamtgruppe der Befragten gab noch ein gutes Drittel an, zu Hause nur schwer vom Job abschalten zu können.

Untersuchen lassen sich mögliche Belastungen auch auf Betriebsebene. Bei VW in Kassel nahm die Mitarbeitervertretung gerade die Arbeitsbedingungen der rund 2400 Angestellten im Werk genauer unter die Lupe. Erste Ergebnisse liegen jetzt vor: 42 Prozent der in der Werksorganisation und 57 Prozent der im Vertrieb tätigen Angestellten sagten, sie könnten die anfallende Arbeit innerhalb der geltenden Arbeitszeit nicht schaffen. Mindestens ein Drittel hält die Pausenzeiten nicht ein. Zwischen 34 und 46 Prozent der Kasseler VW-Angestellten sagen, dass sie wichtige Entscheidungen unter starkem Zeitdruck treffen müssen.

Dies waren zentrale Themen auf dem anonymen Fragebogen, den jeder Angestellte erhalten hat. Daneben ging es um Aufgabenverteilung, Weiterbildungsmöglichkeiten oder die Qualität der Büroräume. Auch zu Betriebsklima, Handlungs- und Gestaltungsspielräumen konnten sich die Beschäftigten äußern. Die Fragen, sagt Thomas Frye, seien gemeinsam mit Vertrauensleuten aus den Abteilungen entwickelt worden. Dass sie einen Nerv bei den Beschäftigten treffen, zeigt die Rücklaufquote von 54 bis 57 Prozent. „Das ist für eine Befragung total hoch“, betonte der Betriebsrat. Im nächsten Schritt sollen die Ergebnisse nun breit diskutiert werden. Informationsveranstaltungen in den einzelnen Abteilungen sollen die Möglichkeit bieten, den über den Fragebogen georteten Problemen noch stärker auf den Grund zu gehen. Danach gilt es, Lösungen an den Start zu bringen. Gleichzeitig kann die Fragebogenaktion jedem einzelnen Mitarbeiter den Rücken stärken, ist Thomas Frye überzeugt. „Ich glaube, dass wir als abhängige Beschäftigte auch eine innere Haltung zum Thema haben müssen“, sagt er. „Man muss nicht jedem Impuls des Vorgesetzten folgen. Man sollte sich trauen, auch mal zu sagen: Ich lass das liegen. Ich habe Feierabend.“ Die Kolleginnen und Kollegen in Kassel seien da nicht ängstlich, betont Frye. Aber je breiter das Thema verankert wird, desto leichter werde es für die Arbeitnehmer, wo nötig, stopp zu sagen.

Auf eine Lebenseinstellung, die Beschäftigte im Widerstand gegen überbordende Arbeitsansprüche stärkt, sind die Soziologen Stephan Voswinkel und Stefanie Hürtgen gestoßen. Auch ihre Studie wurde bei der Tagung diskutiert. Die Wissenschaftler vom Institut für Sozialforschung an der Uni Frankfurt haben untersucht, ob und wie sich Wirtschaftskrise und Prekarisierung auf Beschäftigte in gesicherten Arbeitsverhältnissen auswirken. Mindestens ein Viertel ihrer Gesprächspartner zeigte dabei eine Einstellung zu Beruf und Leben, die im öffentlichen Krisendiskurs kaum mehr vorzukommen scheint: Diese Befragten nahmen es ganz selbstverständlich für sich in Anspruch, neben dem Job vielfältige Interessen zu verfolgen.

Dabei zeigte sich diese Gruppe der Interviewten durchaus beruflich engagiert. Doch zugleich legten sie großen Wert auf begrenzte Arbeitszeiten und hatten sich zum Teil bewusst gegen Karriereschritte entschieden, um Raum für ihre anderen Bedürfnisse zu behalten. Hinter alledem entdeckten Hürtgen und Voswinkel eine Lebenseinstellung, in der das „Recht auf Selbst-Sorge“ eine große Rolle spielt. „Vielleicht könnte dieser Typus von Arbeitnehmer ein wichtiges Vorbild werden“, schlägt der Soziologe vor. Die Sorge, dass Mitarbeiter, die sich gegen Karriere entscheiden, schnell als weniger gute Mitarbeiter angesehen werden, ist ihm dabei keineswegs unbekannt. An solchen Beurteilungssystemen müsse sich aber etwas ändern, fordert er: „Es ist doch verrückt, wenn alle so tun müssen, als wollten sie Karriere machen – obwohl das nicht möglich ist.“

WAHLMÖGLICHKEITEN FÜR LEBENSLAGEN

Unter dem realen Druck der Entgrenzung können klassische Arbeitszeitmodelle neue Anhänger finden. Wie das gehen könnte, davon berichtete Yasmin Fahimi, Leiterin Politische Planung der IG BCE, bei der Kasseler Tagung. In einem Unternehmen waren IT-Fachleute in einem Shared-Services-Center mit internationaler Zuständigkeit rund um die Uhr gefordert. Noch nachts vom heimischen Sofa loggten sie sich per Laptop ins System ein, um ihre Arbeit zu erledigen. Als die Belastung gänzlich aus dem Ruder lief, waren sie für gewerkschaftliche Ideen offen. Gemeinsam wurde eine Lösung gesucht: „Auf freiwilliger Basis hat man für sie ein ganz klassisches Drei-Schicht-System eingeführt inklusive Rufbereitschaft und Schichtzulagen“, beschreibt Fahimi. „Zuerst haben sie die Stirn gerunzelt – aber nach einem halben Jahr haben sie festgestellt, wie entspannend verlässliche Arbeitszeiten sein können. Und die Arbeit geht auch noch besser von der Hand.“

Passende kollektive Lösungen für die vielfältigen Interessens- und Lebenslagen von Arbeitnehmern zu finden, das sieht Fahimi als Aufgabe, der sich Gewerkschaften stellen müssen. „Inzwischen ist vielen Leuten klar, dass sie sich im Hamsterrad befinden“, sagt sie. „Noch nicht angekommen ist, dass sie die Gewerkschaft verdammt gut gebrauchen könnten, um aus dem Hamsterrad auszusteigen.“ Sie schlägt Lösungen vor, die echte Wahlmöglichkeiten für wechselnde Lebenslagen bieten: Auf Betriebsebene könnte innerhalb eines verbindlichen Rahmens ein Baukastensystem aus verschiedenen, frei wählbaren Arbeitszeitmodellen entwickelt werden. „Wer bereit ist, stets erreichbar zu sein und den hohen Grad der Entgrenzung in der Vertrauensarbeitszeit hinzunehmen, kann sich dann für ein solches Modell entscheiden“, denkt Fahimi den Vorschlag weiter. „Aber die besondere Belastung muss dem Arbeitgeber etwas wert sein – er muss Zulagen zahlen, am besten aufs Langzeitkonto. Und wenn der Arbeitnehmer nach drei Jahren sagt: Das wird mir zu viel, muss er in ein anderes Arbeitszeitmodell wechseln können.“ 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen