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Magazin Mitbestimmung

: 'Eine große Errungenschaft'

Ausgabe 09/2006

30 Jahre erfolgreicher Aufsichtsratspraxis nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976: Festrednerin Angela Merkel bekennt sich zum Grundpfeiler der Mitbestimmung der Arbeitnehmer, mahnt aber Europatauglichkeit an: Die Gewerkschaften sind in der Praxis schon dabei.


Die Jazz-Band spielt Hits der 70er Jahre, und die gängigen Melodien gehen so ineinander über. Doch auf einmal klingt da etwas anderes durch, erst klatschen Einzelne, dann mehrere, bis das Publikum kräftig Applaus spendet - zu den Klängen von "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Dies hier ist Berlin im 30. Jahr des Mitbestimmungsgesetzes.

Und dies hier ist eine smarte, aber unüberhörbare Demonstration "Pro Mitbestimmung": 800 Repräsentanten sind gekommen, Aufsichtsräte und Betriebsräte der großen Unternehmen, die Arbeitsdirektoren, die in den Aufsichtsräten aktiven Gewerkschafter, dazu Politiker, Wissenschaftler, Berater. Das Interesse ist so groß, dass die - zusammen mit dem DGB - einladende Hans-Böckler-Stiftung vor der Wahl stand, entweder die Veranstaltung bei einer bestimmten Teilnehmerzahl zu schließen oder das Foyer und weitere Räume mit Bildschirmen auszustatten.

Natürlich war auch sie ein Magnet: Die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland würde sich zum ersten Mal ausführlich zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer äußern, dabei die Festrede zum 30. Jubiläum des Mitbestimmungsgesetzes halten, eine Einladung, die, wie Angela Merkel sagte, "ich gerne angenommen habe".

Sie bot der Kanzlerin die Gelegenheit, sich auf diesem weiten Konfliktfeld zu positionieren. Gelegenheit auch, der Regierungskommission unter dem Vorsitz von Kurt Biedenkopf den Rücken zu stärken, die sich gerade an der Weiterentwicklung der Mitbestimmung abarbeitet und dabei das Kunststück vollbringen soll, die sichtlich divergierenden Positionen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände - die den Arbeitnehmereinfluss am liebsten auf ein Drittel zurückdrängen wollen - auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

"Sind keine Arbeitgeber da?", fragte Angela Merkel, nachdem sie die Gewerkschaftsvorsitzenden und Kommissionsmitglieder, allen voran den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer und den IG-Metall-Chef Jürgen Peters, begrüßt hatte. In der Tat: Die Chefs von BDA und BDI, Dieter Hundt und Jürgen Thumann, die ebenso Mitglieder der Regierungskommission zur Mitbestimmung sind, waren der Einladung zur 30-Jahr-Feier des 76er-Gesetzes nicht gefolgt.

Sorge vor Scheitern der Kommission

Das konnte der Kanzlerin nicht gefallen. "Ich hoffe - ich könnte sagen, dass ich es eigentlich auch erwarte -, dass es gelingt, Gräben, die natürlich da sind, zu überwinden. Ein Scheitern und kein Ergebnis dieser Kommission wäre kein guter Beitrag für die politische Arbeit. Das würde die Politik vor eine ziemlich komplizierte Aufgabe stellen", sagte Merkel.

Dass Mitbestimmungs-Regelungen noch nie eine leichte Aufgabe waren, davon hatte sich Festrednerin Merkel bei ihrem Rückblick in die "Entstehungsgeschichte des 76er Gesetzes" überzeugen können. Eine Zeit, in der schon einmal eine Biedenkopf-Kommission den dritten Weg - zwischen montanmitbestimmter Parität und Drittelbeteiligung - gebahnt hatte. Eine Zeit, in der selbstbewusste parlamentarische Entscheidungen fielen. Denn das am 18. März 1976 von der überwältigenden Mehrheit von 389 Abgeordneten des deutschen Bundestages bei nur 22 Gegenstimmen verabschiedete Mitbestimmungsgesetz gefiel weder den Gewerkschaften noch den Arbeitgebern, die danach - allerdings vergeblich - vors Bundesverfassungsgericht zogen.

Angela Merkel bot einerseits ein klares und unzweifelhaftes Bekenntnis zur Mitbestimmung, die sie als "große Errungenschaft und als nicht wegzudenkenden Teil unserer sozialen Marktwirtschaft" bezeichnete, deren Vorteile sich auch die Kritiker gelegentlich mal vor Augen halten sollten. An die Adresse der Unternehmen sagte sie: "Die Verbundenheit mit dem Land, in dem man groß geworden ist, ist eine Tugend und keine betriebswirtschaftliche Torheit."

Andererseits machte Merkel klar, dass sie die Notwendigkeiten einer Anpassung der Mitbestimmung an eine europäische und internationalisierte Wirtschaft sieht und das deutsche Modell vor erheblichen Herausforderungen stehe. Es sei "ein Ziel der Bundesregierung, die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf europäischer Ebene zu sichern und zu gestalten".

Dabei hob die Kanzlerin die "Chancen der Verhandlungslösung" mehrfach hervor - als Anschauung dienten die neuen Regelungen der Arbeitnehmerbeteiligung bei Gründung einer SE und bei grenzüberschreitender Fusion. "Ganz ohne Änderungen wird es nicht gehen", sagte Merkel und betonte ihre Entschlossenheit zu handeln, zumal die Politik die Definitionsmacht nicht dem Europäischen Gerichtshof überlassen dürfe.

Reform nicht zum einseitigen Vorteil der Kapitalseite

Ausgangspunkt ist nicht irgendein Verhandlungsmodell. Ausgangspunkt ist das existierende 76er-Mitbestimmungsgesetz. Das machten die beiden Gewerkschaftsvorsitzenden und Mitglieder der Regierungskommission Jürgen Peters und Michael Sommer in ihren Reden deutlich (siehe www.boeckler.de).

Sommer wies die Behauptung der Arbeitgeberseite, Mitbestimmung sei in Europa nicht mehr zeitgemäß, als interessengeleitet und unverantwortlich zurück. Im Gegenteil sei die Mitbestimmung der Arbeitnehmer gelebte Demokratie und gerade heute, in Zeiten eines spekulativen Kapitalismus, ein wesentliches Gegengewicht, das Standorte und Arbeitsplätze sichert.

"Für uns sind Unternehmen nicht nur eine private Angelegenheit der Shareholder und Eigentümer", sagte Sommer, deshalb werden sich die Gewerkschaften nicht aus Betrieben und Aufsichtsräten drängen lassen, zumal externer Sachverstand von beiden Seiten - von Arbeitnehmern und Anteilseignern - gefragt ist. Sommer betonte, dass "eine Reform der Mitbestimmung nötig ist, aber nicht rückwärtsgewandt und nicht die Kapital- und Arbeitgeberseite bevorzugend".

IG Metall-Chef Jürgen Peters unterstrich die Bereitschaft der Gewerkschaften, in einer sich rasant ändernden Welt die Mitbestimmung weiterzuentwickeln - nicht zuletzt im Sinne einer verbesserten Unternehmenskontrolle: Alle Aufsichtsräte, egal ob AG oder GmbH, müssten gleiche Informationsrechte haben; für die Aufgaben der Aufsichtsräte müssten Mindestkataloge zustimmungspflichtiger Geschäfte existieren; das Wahlverfahren müsste vereinfacht werden.

Und "wir sind in multinationalen Unternehmen für die Internationalisierung der Aufsichtsräte, die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern anderer Länder", sagte Peters. Zu diesem Vorstoß, der deutsche Erfahrungen in ein europäisches Konzept partizipativer Demokratie einbringt, gratulierte der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes dem DGB. John Monks bezeichnete die Mitbestimmung als die strukturierteste und historisch bedeutendste Form der Arbeitnehmerbeteiligung in Europa. "Eine verlorene Schlacht in Deutschland wäre eine Niederlage für alle", sagte Monks.

DaimlerChrysler: Internationalisierung der Arbeitnehmerbank

Wie die Mitbestimmungspraxis sich in den Unternehmen über den nationalen Rahmen hinaus entwickelt, davon berichteten Betriebsratsvorsitzende, Gewerkschafter und Unternehmensvorstände in acht Foren. Ein Thema: die Internationalisierung der Aufsichtsräte: An keinem Punkt sind sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften - scheinbar - so einig. Doch Günther Fleig, Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor bei DaimlerChrysler, ist skeptisch: "Man kann die Frage stellen: Ist der Aufsichtsrat der richtige Ort für die Einbeziehung der ausländischen Arbeitnehmer?", spitzte er seine Bedenken zu.

"Von der Unternehmerseite her können wir niemand im Aufsichtsrat brauchen, der kulturell gewohnt ist, hier soziale Arbeitnehmerinteressen einzubringen", sagt Fleig. Wo doch "die Unternehmensmitbestimmung auf einem anderen Parkett tanzt, sie muss das Unternehmen steuern und kontrollieren, muss über die Freigabe von Investitionen entscheiden." Diesen langen Weg erfolgreich gegangen zu sein, bescheinigt der DC-Vorstand den Arbeitnehmervertretern bei DaimlerChrysler: "Sie denken genauso in Kapitalmarktkategorien, ihnen liegen das Unternehmenswohl und die Profitabilität mindestens so stark am Herzen wie den Anteilseignern." Das einzuüben werde auf jeden Fall schwierig.

Wie schwierig das ist, weiß der oberste Arbeitnehmervertreter von DC am besten. Erich Klemm hatte erst unlängst einigen Ärger, weil der US-amerikanische Gewerkschaftsvertreter, der ein freiwillig von der IG Metall abgegebenes Aufsichtsratsmandat hat, in einer für den deutschen Standort entscheidenden Frage nicht mit der Arbeitnehmerbank stimmte. Warum überhaupt ausländische Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat? "Wir wollen das, weil es grundlegend ist für unsere Legitimation", sagt Erich Klemm. Aber es müsse ein Wahlverfahren gefunden werden, bei dem auch das World Employee Committee von DC involviert ist.

Aufsichtsratszusammensetzung und Wahlverfahren könne man per Tarifvertrag definieren, schlägt IG-Metall-Vorstand Wolf Jürgen Röder vor. Und dies den Unternehmen als Option anbieten. Problematisch sieht es die IG Metall, wie die Erweiterung um ausländische Vertreter mit einer Verkleinerung der Aufsichtsräte einhergehen solle. Auf jeden Fall sei es für den US-Gewerkschaftschef im DC-Aufsichtsrat aufschlussreich gewesen, live mitzubekommen, "wie die Arbeitnehmerseite alternative Vorschläge zur Unternehmensentwicklung macht." Vorausgegangen war eine wochenlange, intensive Beschäftigung mit den vom Vorstand vorgelegten strategischen Planungen, verrät DaimlerChrysler-Aufsichtsrat Röder.

Allianz: Von der Zumutung, Rechtspositionen zu verhandeln

Schnell wird in der Podiumsrunde zur Umwandlung der Allianz in eine Europäische Gesellschaft (SE) klar, dass Paul Achleitner, Finanzvorstand der Allianz AG, ein harter Brocken ist. Gerade weil er so überzeugende Sätze sagt: "Wenn wir das europäische Sozialmodell erhalten und weltweit wettbewerbsfähig machen wollen, dann müssen wir europäische Strukturen schaffen."

Das Ziel, einen schlagkräftigen europäischen Versicherungskonzern aufzubauen, verbindet er mühelos mit einem Bekenntnis zum Standort Deutschland und dem dualen System der Corporate Governance, Mitbestimmung inklusive. Aber er sagt auch - nur wenige Tage vor dem Ende der offiziellen Verhandlungsfrist über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer in der künftigen SE: "Wir können mit der gesetzlichen Auffanglösung gut leben."

Ganz so gelassen mögen seine Diskussionspartner - auch mit Hinweis auf die "tiefdunklen Schatten", die der angekündigte Abbau von 7500 Vollzeitstellen auf die SE-Gründung werfe - diesem Tag nicht entgegensehen. ver.di-Vorstandsmitglied Uwe Foullong, zugleich Mitglied im Allianz-Aufsichtsrat, widerspricht Achleitner heftig, als dieser die beschlossene Verkleinerung des Aufsichtsrates als Beitrag zur Effizienzsteigerung des Aufsichtsgremiums verteidigt.

Und Norbert Blix, der Konzernbetriebsratsvorsitzende und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, unterstreicht die ungewohnte Mühsal, Rechtsposition und Ausstattung für den SE-Betriebsrat verhandeln zu müssen, "denn immer wenn ein Hauch von mehr Mitbestimmung um die Ecke blitzt, ist die Freude von Achleitner begrenzt." Doch insbesondere darum geht es in den Verhandlungen, denn sowohl die Größe wie auch den Katalog zustimmungspflichtiger Geschäfte des künftigen Aufsichtsgremiums hat die Allianz-Hauptversammlung in der SE-Satzung bereits festgelegt.

Blix und Foullong begrüßen auf dem Podium ausdrücklich, dass im obersten Aufsichtsgremium künftig auch ein britischer und ein französischer Kollege vertreten sind. Und auch das externe Mandat soll, so Foullong, ein "europäisches" sein. Übernehmen wird es Jörg Reinbrecht, ver.di-Vertreter im Präsidium von UniFinance, dem internationalen Gewerkschaftsdachverband für die Finanzbranche.

Das ist ein Anfang. Doch Roland Köstler, Wirtschaftsjurist in der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied des Besonderen Verhandlungsgremiums zur Ausgestaltung der Arbeitnehmerbeteiligung in der Allianz SE, sieht weitere Hausaufgaben für die Gewerkschaften: Denn ohne längerfristige Kooperation im Vorfeld biete die sechsmonatige Verhandlungsfrist keinen realistischen Zeitrahmen für eine Vorverständigung der Arbeitnehmerseite: Das BVG bei Allianz setzt sich aus 30 Arbeitnehmervertretern aus 23 Ländern zusammen.Ob eine unterschriftsreife Verhandlungslösung erreicht wird, die künftig als Vorzeigemodell dienen kann, ließ die Podiumsrunde mehr als offen.

General Motors: "A fair share of pain"

"Die Globalisierung hat die Macht zugunsten der Konzerne verschoben", stellt IG-Metall-Mitbestimmungsexperte Thomas Klebe nüchtern fest. Daher müssen sich die Arbeitnehmervertreter ebenfalls stärker international verbünden, um am Ende nicht auf der Verliererseite zu stehen. Das wird nicht ohne Zugeständnisse abgehen, weiß der GBR-Vorsitzende der Adam Opel AG, Klaus Franz.

1998 hatte die Arbeitnehmerseite einen "hervorragenden Standortvertrag für Deutschland" mit der General-Motors-Tochter unterzeichnet. Den sieht er heute kritisch: "Wir haben ihn isoliert und national borniert für Deutschland ausgehandelt", und dabei übersehen, dass solche nationalen Entscheidungen an anderen Standorten eine Abwärtsspirale in Gang setzten. Heute, räumt Franz ein, würden erst die Konsequenzen im Europäischen Betriebsrat beraten, bevor national gehandelt wird.

Diese bei General Motors gelebte europäische Solidarität halten die Arbeitnehmervertreter inzwischen nicht nur für selbstverständlich - sondern für unverzichtbar. Dabei gelte, was auch für eine gute Ehe wichtig sei: Zusammenhalt in guten wie in schlechten Zeiten. Oder, wie Klebe den Leitspruch der Arbeitnehmervertretung zitiert, "a fair share of pain".

Das wissen auch die General-Motors-Betriebsräte in anderen europäischen Ländern zu schätzen. Rudi Kennes vom Algemeen Belgisch Vakverbond und Vize im Europäischen Betriebsrat, lobt vor allem die ausgewogene internationale Besetzung der Gremien - und dass die Vorteile der deutschen Mitbestimmung, wie schnelle und umfassende Informationen, allen Ländern zugute kommen. Die ist auch aus Unternehmenssicht positiv. Vor allem "die moderierende Rolle der Arbeitnehmervertretung bei Konflikten mit einzelnen Belegschaften" lobt Holger Kimmes, Executive Director Labour and Employee Relations bei GM Europe. Kritik übt der Arbeitsdirektor aber an einem typisch deutschen Problem: Das System sei "administrativ sehr aufwändig".





Zum Weiterlesen

Die Reden von IG-Metall-Chef Jürgen Peters, John Monks, dem Generalsekretär des EGB, und von Bundeskanzlerin Angela Merkel finden Sie auf der Startseite unter www.boeckler.de
Eine Dokumentation der Veranstaltung erscheint Ende November.

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