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Johanna Wenckebach und Antonia Seeland im Interview zum Behindertengleichstellungsgesetz Service aktuell

Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: "Barrierefreiheit wird viel zu häufig noch als Randthema behandelt"

Das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) diskutiert auf einer Tagung in Frankfurt über den Stand der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Johanna Wenckebach und Antonia Seeland erläutern die Hintergründe.

[11.10.2023]

Wichtige Aspekte bei der Tagung sind die Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), an der das HSI beteiligt war, sowie die „Bundesinitiative Barrierefreiheit“. Warum sind diese Themen so wichtig?

Johanna Wenckebach: Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind immer noch geprägt von Barrieren und fehlenden Teilhabemöglichkeiten. Genau die sind aber menschenrechtlich geboten. Menschen mit Behinderung sollen nicht ausgeschlossen werden. Problematisch ist insbesondere die Gesundheitsversorgung, fehlender geeigneter Wohnraum für Menschen mit Behinderungen, der gleichberechtigte Zugang zu Gütern und Dienstleistungen sowie der Kontakt mit Behörden. Die Arbeitswelt und das Bildungswesen in Deutschland sind zudem leider immer noch geprägt von Sondersystemen – von Inklusion sind wir weit entfernt, wofür Deutschland zuletzt auch wieder im Rahmen der Staatenprüfung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) stark kritisiert wurde.

Antonia Seeland: Barrierefreiheit wird auf der anderen Seite viel zu häufig noch als Randthema behandelt, das nur eine kleine Gruppe von Menschen betrifft. Das entspricht nicht der Realität. 2021 hatten laut dem Statistischen Bundesamt knapp 10 Prozent der Menschen in Deutschland eine anerkannte Schwerbehinderung. Hinzu kommen noch zahlreiche Menschen, deren Behinderung als vermeintlich leichtere Form, nicht als „Schwerbehinderung“ anerkannt ist. Außerdem ist die barrierefreie Gestaltung der Umwelt nicht nur hilfreich für Menschen mit Behinderung. Auch Menschen mit vorübergehendem Handicap, Begleitpersonen von Kleinkindern, Personen mit Lese-Rechtschreibschwäche oder Menschen mit Migrationshintergrund profitieren enorm davon, wenn Barrieren abgebaut werden. Barrierefreiheit ist ein Querschnittsthema.

Johanna Wenckebach: Das BGG verpflichtet Bundesbehörden zur Barrierefreiheit und regelt ein Benachteiligungsverbot. Die Ergebnisse bieten auch darüber hinaus wichtige Erkenntnisse, wo es konkrete Möglichkeiten in der Förderung der Teilhabe gibt. Das BGG enthält zudem ähnliche Regeln und Rechtsinstrumente wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG. Seine Evaluation bietet deshalb auch wichtige Erkenntnisse zur Durchsetzung von Gleichstellungsrechten insgesamt. Die vieldiskutierte Verbandsklage zum Beispiel gibt es im BGG bereits, für das AGG wird sie u. a. von Gewerkschaften auch gefordert. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, das AGG zu reformieren, was auch dringend nötig ist. In unserer Evaluation haben wir auch die wichtigen Schnittstellen der beiden Gesetze in den Blick genommen. Das BGG verpflichtet Behörden, aber die beziehen oft Private ein, um ihre Aufgaben auszuüben. So entstehen rechtliche Grauzonen.

  • Johanna Wenckebach
    Prof. Dr. Johanna Wenckebach ist die Wissenschaftliche Direktorin des HSI.

Welche konkreten Fortschritte und Veränderungen hat das BGG seit seiner Einführung im Mai 2002 für die Stellung von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft bewirkt, und wie haben sich diese Veränderungen auf das tägliche Leben der Betroffenen ausgewirkt?

Johanna Wenckebach: Es hat schon – nachdem es bereits 2012 eine erste Evaluation gab – 2016 eine Reform des Gesetzes gegeben. Dabei wurde beispielsweise der Begriff der „Behinderung“ stärker an die UN-BRK, also an die menschenrechtlichen Vorgaben angepasst. Es wurden die verschiedenen Formen der Behinderung, also auch psychische und intellektuelle Beeinträchtigungen, stärker hervorgehoben und damit besser geschützt. Das war vielen Betroffenen wichtig. Zudem wird die Bedeutung der einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die in Wechselwirkung mit Beeinträchtigungen erst zu der Entstehung von Behinderungen beitragen, mit der Neudefinition deutlicher. Das hat auch tatsächlich schrittweise zu einer Verbesserung des Verständnisses von Behinderung bei den Behördenmitarbeitenden geführt. Gerade ein solches „zeitgemäßes“ Verständnis ist wichtig, um Barrieren im Alltag wahrzunehmen und abbauen zu können. Hierbei hat allerdings auch die Rechtsprechung eine wichtige Rolle gespielt. Als Erfolg kann darüber hinaus die Einführung einer Schlichtungsstelle gewertet werden, die für eine niedrigschwellige Rechtsdurchsetzung sorgt.

Antonia Seeland: Wichtig war auch, dass die Pflicht zur Kommunikation in einfacher und Leichter Sprache mit intellektuell und seelisch beeinträchtigten Menschen neu aufgenommen wurde. Die Befragung hat gezeigt, dass sie als Instrument zur Herstellung von Barrierefreiheit im Kontakt mit Behörden häufig eingesetzt wird. Zudem ist natürlich Digitalisierung allgegenwärtig. So können Anträge bei Behörden z. B. auf Sozialleistungen immer häufiger nur noch digital eingereicht werden. Auch Informationen von Arbeitgeber:innen für ihre Beschäftigten werden über das Intranet verbreitet. Barrierefreie IT ist deshalb ein Thema mit enormer praktischer Bedeutung, um im digitalen Zeitalter Menschen mit Behinderung die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Sehr wichtig war deshalb die Einführung von Vorschriften zur barrierefreien Informationstechnik verbunden mit Berichtspflichten der Behörden. Das BGG und die dazu ergangene Verordnung regeln sehr detailliert, welche technischen Standards anzuwenden sind, um Informationstechnik barrierefrei zu gestalten. Die Verordnung wird deshalb auch außerhalb der Bundesverwaltung häufig als Maßstab verwendet. Die meisten von uns kennen mittlerweile Buttons auf Homepages, die zur Version in Leichter Sprache führen – das ist gut und wichtig.

  • Antonia Seeland
    Antonia Seeland ist Wissenschaftliche Referentin des Referats "Sozialrecht und Europäisches Arbeitsrecht" des HSI.

Könnt ihr die Schlüsselergebnisse der Evaluierung des novellierten BGG kurz zusammenfassen und schildern, welche zentralen Herausforderungen weiter bestehen?

Antonia Seeland: Erst einmal ist zu sagen, dass die Reform des BGG ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung zur Anpassung an die UN-BRK war. Das Recht hat sich messbar weiterentwickelt und das ist eine gute Nachricht. Unsere Befragungen zeigten allerdings deutlich, dass das BGG allgemein noch nicht hinreichend bekannt ist, u. a. bei Behördenmitarbeitenden, Schwerbehindertenvertretungen und Gerichten. Gleichzeitig ist es weiterhin als „Sondergesetz“ ausgestaltet. Es besteht also massiver Informations- und Sensibilisierungsbedarf, um die Benachteiligungsverbote in der Praxis wirksam zu machen. Dieser Bedarf bezieht sich nicht nur auf das BGG, sondern speziell auch auf das Thema Barrierefreiheit.

Johanna Wenckebach: Problematisch ist außerdem nach wie vor die Rechtsdurchsetzung. Klagemöglichkeiten werden kaum genutzt. Bei dem so wichtigen Instrument der Verbandsklage, die einzelnen Betroffenen die Last der Durchsetzung ihrer Rechte in diskriminierenden Strukturen abnimmt, bestehen offenbar immer noch zu hohe Hürden. Verbände gaben hier Sorge vor hohen Verfahrenskosten an, die Verbandsklage wurde kaum genutzt. Für die Betroffenen ist die Durchsetzung auf dem individuellen Rechtsweg aber ein steiniger Prozess. Kollektive Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung, die zum Teil jetzt schon vorhanden sind, entlasten einzelne und müssen weiter gestärkt werden. Dazu zählt zum Beispiel, dass das niedrigschwellige, außergerichtliche Schlichtungsverfahren flächendeckend auch in den Gleichstellungsgesetzen der Länder verankert wird. Auf Bundesebene ist die Schlichtungsstelle bereits erfolgreich etabliert.

Antonia Seeland: Eine große Baustelle ist die mangelhafte Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen. Hier bestehen massive Lücken im Diskriminierungsschutz und bei der Barrierefreiheit. Zudem ist eine systematische Abstimmung und Bearbeitung der Schnittstellen zwischen dem Privatrecht (z. B. AGG, BFSG) und öffentlichem Recht des BGG notwendig. Und bei der baulichen Barrierefreiheit zum Beispiel ergeben sich Schwierigkeiten aus den unterschiedlichen Zuständigen von Bund und Ländern. Hier ist mehr Abstimmung erforderlich und in den Ländern sollte für hohe Standards gesorgt werden.

Welche Empfehlungen an den Gesetzgeber machen die an der Evaluation beteiligten Wissenschaftler:innen der Politik, aber auch Betrieben, Verbänden, Gewerkschaften, Wissenschaft und Justiz?

Antonia Seeland: Wirksam kann das BGG, können Regeln zur Barrierefreiheit nur sein, wenn sie z. B. durch Schulungen in all den genannten Bereichen bekannter werden. Darüber hinaus ist es wichtig, deutlich zu machen, dass Barrierefreiheit und Gleichstellung Themen sind, die viele Akteur:innen betreffen. In Betrieben sind das natürlich Schwerbehindertenvertretungen, aber auch Betriebsrat, Inklusionsbeauftragte des Arbeitgebers oder Sicherheitsfachkräfte. Es bedarf des Zusammenspiels. Es sind zudem Themen, die alle Abteilungen in den Behörden oder Unternehmen fordern. Also auch die IT-Abteilung oder Ingenieur:innen, die Neu- oder Umbaumaßnahmen planen. Es braucht Leute, die ich das Thema auf die Fahnen schreiben und voran gehen.

Johanna Wenckebach: Besser abgestimmt werden sollten die Maßnahmen und Vorgaben für Barrierefreiheit zum einen zwischen Bund und Ländern, zum anderen zwischen öffentlichem Recht – also Vorgaben für Behörden - und für Privatrecht. Wenn öffentliche Aufgaben und Dienstleistungen an Private übertragen werden, müssen auch sie effektiv zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht umfassende Teilhaberechte vor. Da das AGG reformiert werden soll, bietet sich eine Vereinheitlichung an. Den Verbänden ist zu empfehlen, von den Möglichkeiten strategischer Prozessführung Gebrauch zu machen. Und auch für die Wissenschaft gibt es Aufgaben: Das Gesetz benennt zwar explizit “die besonderen Belange von Frauen mit Behinderungen”, diese sind in der Rechtspraxis aber oft unklar. Sie müssten durch mehr Forschung und Teilhabeberichterstattung besser fundiert werden. Bekannt ist, dass Schutz vor sexualisierter Gewalt und Belästigung und eine barrierefreie Gesundheitsversorgung für Frauen mit Behinderungen besonders wichtig, aber leider häufig unzureichend sind.

Weitere Informationen

Alles Informationen zur Tagung: Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und Barrierefreiheit – Von der Evaluation zur Reform

Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes

Podcast-Folge zur Tagung mit Johanna Wenckebach und Felix Welti von der Universität Kassel

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