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Susanne Wixforth, 29.05.2020: Strategische Infrastruktur statt feindliche Übernahmen

Kapitalverkehrsfreiheit: Die Corona-Krise macht eine neue Interpretation erforderlich – zum Schutz europäischer Schlüsseltechnologien und strategischer Infrastruktur.

„Wird Europas Süden von China gekauft?“ „China als ambitionierter Partner Griechenlands bei Handel und Energie“. So lauten die Schlagzeilen, die sich seit der Finanzkrise 2008 häufen. Spitzenreiter bei Direktinvestitionen in Europa sind zwar die USA mit 38 Prozent. Chinesische Direktinvestitionen machen aktuell nur 2,2 Prozent aus, steigen jedoch stark an, vor allem bei strategischer Infrastruktur im Rahmen der „one belt one road“-Strategie, der neuen chinesischen Seidenstraße.

Der Europäische Binnenmarkt steht mit seiner Infrastruktur und seinen Unternehmen der ganzen Welt offen: seine stärkste Säule ist die Kapitalverkehrsfreiheit. Jedem EU- und ausländischen Investor stehen europäische Unternehmen als Investitionsobjekte gleichermaßen offen. Die Globalisierung der Kapitalströme in Kombination mit digitaler Kommunikation ermöglicht, dass Kapitalmärkte rund um die Uhr in Bewegung sind. Ergebnis ist eine Marktinterdependenz ungeahnten Ausmaßes bei gleichzeitigem Verlust staatlicher Regulierungsmöglichkeit und erhöhter Krisenanfälligkeit.

Die zweite globale Krise des 21. Jahrhunderts, verursacht durch die COVID-19-Pandemie, lässt Aktien- und Unternehmenswerte dramatisch sinken – ein guter Nährboden für einen Übernahmeanstieg durch außereuropäische Konzerne. Bedarf es vor diesem Hintergrund einer neuen Interpretation der Kapitalverkehrsfreiheit zum Schutz europäischer Schlüsseltechnologien und strategischer Infrastruktur?

Europa der unterschiedlichen Antworten

14 EU-Mitgliedstaaten haben Gesetze zur Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen. Die Bundesregierung überlegt gerade, den Wirtschaftsstabilisierungsfonds für Unternehmensbeteiligungen zur Abwehr feindlicher Übernahmen zu nutzen. Frankreich hat bereits einen speziellen Investitionsfonds („Lac d´argent“) zu diesem Zweck geschaffen. Nun ließen auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Handelskommissar Hogan aufhorchen: „Unter den derzeitigen Umständen müssen wir die Offenheit für Auslandsinvestitionen durch angemessene Kontrollen ergänzen. Wir müssen […] ausloten, wie der Rechtsrahmen zur Überprüfung von Investitionen dazu genutzt werden kann, in der derzeitigen Krise einen Ausverkauf strategischer Vermögenswerte der EU zu verhindern.“

Ein solcher EU-Rechtsrahmen wurde bereits in Vorkrisenzeiten als Antwort auf „räuberische“ Übernahmebestrebungen vor allem von ausländischen Staatsfonds auf den Weg gebracht: Die Verordnung zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union, die im Oktober 2020 in Kraft treten soll. Zwar ist hier weiterhin das Primat der Kapitalverkehrsfreiheit, der Neutralität des Eigentums und der bedingungslosen Offenheit für ausländische Direktinvestitionen vorherrschend. Dennoch: Die Erkenntnis, dass das Finanzkapital nicht unbedingt die beste Allokation der Ressourcen im Sinne einer europäischen Strategie im Sinn hat, beginnt sich darin abzuzeichnen.

Diese Strategie wird in den gerade veröffentlichten Leitlinien für die Mitgliedstaaten betreffend ausländische Direktinvestitionen konkretisiert. Basierend auf der Erkenntnis, dass der derzeitige ökonomische Schock das Risiko verstärkt, dass strategische Industrien und Infrastruktur in ausländische Hände geraten, wird auf die Notwendigkeit verwiesen, wertvolle Kapazitäten im Binnenmarkt zu bewahren und verstärken. Die EU-Kommission erkennt in den Leitlinien sogar an, dass „Goldene Aktien“ eine Möglichkeit sind, dem Ausverkauf europäischer Unternehmen und Industrieakteure über Portfolioinvestments entgegenzutreten. Mit diesem Instrument werden dem Aktieninhaber, in der Regel die öffentliche Hand, weitreichendere Rechte der Einflussnahme auf ein Unternehmen eingeräumt als den restlichen Aktionären.

Doch: Obwohl die Rede von räuberischen Aufkäufen strategischer Werte ist, kommt gleich wieder die Angst vor dem eigenen Wagemut zu Tage: Nicht die Industriestrategie dürfe die Rechtfertigung sein, sondern nur die Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Diese wird zwar weiter als bisher ausgelegt, bleibt aber dennoch in einem engen Korsett. Die Untersagung eines Aufkaufs müsse die ultima ratio bleiben.

Auch können die Leitlinien nicht den Umstand beseitigen, dass 13 Mitgliedstaaten keinerlei gesetzliche Regelungen zur Kontrolle ausländischer Investitionen haben, sodass die EU trotz Koordinierungs- und Informationsverfahren weit von einer einheitlichen Strategie der Kapitalverkehrskontrollen nach außen entfernt ist. Das Ködern von Auslandskapital bleibt ein Instrument im Wettbewerbskoffer der Mitgliedstaaten, insbesondere bei solchen, die unter hohem budgetären Druck stehen, wie bspw. Italien oder Griechenland.

Die Leitlinien sind somit letztlich nur ein Notfallplan, zeitlich und inhaltlich begrenzt. Er will den Mitgliedstaaten weitergehende industriepolitische Instrumente im europäischen Interesse an die Hand geben, ist aber für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht bindend. Sieht man sich die bisherige Rechtsprechung an, so werden wohl viele Maßnahmen der Kapitalverkehrsbeschränkung, die in den Leitlinien behandelt werden, keinen Bestand haben.

Champion der Binnenmarktfreiheiten

Denn die neuen Ideen rühren an einem Grundpfeiler des europäischen Binnenmarktes: der Kapitalverkehrsfreiheit. Sie ist durch einen unbedingten Liberalisierungsauftrag gekennzeichnet, denn sie gilt innerhalb des Binnenmarktes wie auch gegenüber Drittstaaten. Dies entspricht ihrem Ziel, zum Wirtschaftswachstum beizutragen, indem sie durch effiziente Kapitalzufuhr den Status des Euro als internationale Währung stärkt und so der EU mehr Gewicht verleiht.

Ausnahmen von dieser Freiheit sind daher nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zulässig. Der EuGH hat folgende drei Grundsätze zur Rechtfertigung der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit entwickelt: 1.) Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. 2.) Es dürfen nicht versteckt rein wirtschaftliche Ziele verfolgt werden. 3.) Es muss den Anlegern offenstehen, sich vor Gericht gegen die staatliche Entscheidung zu wehren. Bei dieser strikten Interpretation werden nur wenige Regelungen von Bestand sein. Ein Grundinteresse der Gesellschaft wurde bspw. nur bei bestimmten Branchen anerkannt: Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. COVID-19 zeigt aber die Fragilität und strategische Bedeutung vieler weiterer Branchen auf: Wie steht es mit der Chemie-, Pharma- oder Lebensmittelbranche sowie der damit verbundenen Logistik?

Europäische Souveränität bei Schlüsseltechnologie und -infrastruktur

Die Ökonomien aller Länder sind in globale Wertschöpfungsketten und Versorgungsnetze eingebunden, die zwei Drittel des Welthandels ausmachen. Der grenzenlosen Kapitalverkehrsfreiheit stehen schwache bzw. keine globalen Regulierungsmechanismen gegenüber. Ergebnis ist ein auf optimale Kostenreduzierung, Effizienz und Steuervermeidung ausgerichtetes Unternehmensmodell. Dem muss ein neues europäisches Wirtschaftsmodell entgegengesetzt werden, das strategische Infrastruktur und Unternehmen schützt. Und zwar nicht nur im Zuge krisenbedingten „auf Sicht Fahrens“. Die Leitlinien der EU-Kommission weisen den Weg, in welche Richtung der europäische Gesetzgeber den Rahmen für ausländische Investitionen regulieren muss.

 

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Susanne Wixforth ist Referatsleiterin in der Abteilung Internationale und Europäische Gewerkschaftspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

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